Ob in Bayern, Nordrhein-Westfalen, Hamburg oder Berlin: Marode Gehwege sind bundesweit immer wieder ein großes Ärgernis. Eine Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Anja Kofbinger (Grüne) über den Zustand der Berliner Gehwege fand im Sommer in
der lokalen Presse entsprechend viel Aufmerksamkeit. Gestern machten Kofbinger (2. v. l.) und ihre Kollegin Dr. Susanna Kahlefeld (2. v. r.) deshalb mit zwei Aktionen unter dem Motto „Fuß hat Vortritt!“ am Karl-Marx-Platz sowie an der Kreuzung Friedel-/Bürknerstraße/Maybach-ufer wieder auf die schlechte Infrastruktur für Fußgängerinnen und Fußgänger im Norden Neuköllns aufmerksam.
„Erst kürzlich hat sich ein Polizist bei mir über den Radstreifen beschwert, der entgegen der Einbahnstraße am Karl-Marx-Platz führt“, berichtete Kahlefeld. Nur wenige Meter sind asphaltiert, der Rest des Weges führt über Rumpelpflaster und ist nicht markiert, so dass Autofahrer in der Einbahnstraße sich über entgegenkommende Radler wundern müssen. Radfahrer würden allerdings die Kopfsteinpflasterpiste kaum nutzen und sich andere Wege über den Platz suchen. Auf dem Bürgersteig am Karl-Marx-Platz fällt der schlechte Zustand des Pflasters nach der Sanierung der Karl-Marx-Straße besonders unangenehm auf, auch wenn es aktuell keine Stolperfallen mit lockeren Pflastersteine gibt.
Eine Viertelstunde Fahrzeit mit dem Rad vom Karl-Marx-Platz entfernt, hatte sich Anja Kofbinger die Kreuzung am Maybachufer ausgesucht, um auf einem Pappschild „Sicherheit für Fußgänger*innen“ zu fordern. „Hier laufen fünf Straßen zusammen, was die Situation sehr unübersichtlich macht. Zum Glück hat es noch keine wirklich schweren Unfälle gegeben“, sagte die Politikerin. „Warum wurde die Ecke nicht schon längst umgebaut?“, fragte sie dennoch. Schließlich sei dazu eine gute Gelegenheit gewesen, als die Straße von der Pflügerstraße bis zur Hobrechtbrücke aufgerissen war, um am Landwehrkanal einen unterirdischen Stauraum anzulegen, der bei starken Regenfällen das Mischwasser auffangen soll.
Kahlefeld und Kofbinger beklagten einhellig, dass für die Instandhaltung der Bürgersteige zu wenig getan und im Neuköllner Norden weniger als im Süden des Bezirkes investiert würde. Gegenüber der BZ hatte Neuköllns Baustadtrat Thomas Blesing im Sommer erklärt, dass er in diesem Jahr erstmals 430.000 Euro von insgesamt 1,7 Millionen Euro für die Ausbesserung von fünf Gehwegen am Ortolanweg sowie an Braunschweiger Straße, Selchower Straße, Mahlower Straße und Gielower Straße vorgesehen habe. „900.000 Euro für einen neuen Parkplatz und Pflastersteine am Schloss Britz genehmigte das Bezirksamt 2011 ohne Beschluss der Bezirksverord-netenversammlung“, erinnerte sich dagegen Susanna Kahlefeld an eine seinerzeit lancierte Pressemitteilung der Neuköllner Grünen.
Grundsätzlich weist Kofbingers Anfrage auf ein Berliner Milliarden-Problem hin: Die Sanierung eines Quadrat-meters Bürgersteig kostet – niedrig veranschlagt – 100 Euro. Allein in Neukölln beträgt die gesamte Gehweglänge etwa 344 Kilometer. 30 bis 35 Prozent der Wege, also mehr als 100 Kilometer, sind akut sanierungs-bedürftig. Immer wieder klagen Institutionen wie der Deutsche Städtetag darüber, dass die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland und seinen Städten an vielen Stellen notleidend sei. Die Mittel für die Sanierung der Bürgersteige werden beim immensen Sanierungsbedarf für kommunale Brücken, Tunnel, Straßen und für die Infrastruktur des öffentlichen Personennahverkehrs aber oft vergessen. In Berlin wurden erst kürzlich die Regularien des Straßeninstandsetzungs- bzw. Anti-Schlagloch-Pro-gramms um den Bereich der Geh- und Radwege erweitert. „Damit sind die Bezirke in die Lage versetzt worden, eigenständig Prioritäten bezüglich der Straßen-, Geh- und Radwegsanierung zu setzen“, teilte die Senatsbau-direktorin Regula Lüscher in ihrer Antwort auf Kofbingers Frage mit.
Alltägliche Stolperfallen im Neuköllner Straßenland – wie gestern vor der Schule am Richardplatz fotografiert – nimmt die schweigende Mehrheit der Fußgänger nach wie vor hin. Auch ein Urteil des Bundes-gerichtshofes vom 5. Juli 2012 (III ZR 240/11), das den Bezirk Pankow zwang, einer Seniorin Schadensersatz und Schmerzensgeld zu zahlen, weil sie auf völlig desolaten Betonplatten gestürzt war, dürfte daran nichts ändern. Wenn die Behörde nachweisen könne, dass sie den betreffenden Gehweg regelmäßig kontrolliere, würden die Erfolgsaussichten einer Klage sinken, sind sich Experten einig. Allerdings sei es nicht ausreichend, nur ein Warnschild anzubringen, ohne weiter etwas zu tun.
Um dem Fußverkehr, auf den im Berliner Durchschnitt bereits 31 Prozent aller Wege entfallen – im dichtbesiedelten Neuköllner Norden sind es sicherlich mehr – mehr Raum zu geben, setzt beispielsweise der ökologische Verkehrsclub VCD auf eine „Rückeroberung der Straße“. Das Konzept würde nicht nur mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer schaffen, sondern die Kosten für die Infrastruktur würden zwischen allen Verkehrsarten gerechter verteilt, sodass es unter dem Strich mehr Geld und Qualität für den Fuß- und Radverkehr gäbe.
=Christian Kölling=
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