Der Bürgerverein Berlin-Britz besteht bereits seit 1890. Dagegen ist dessen Idee, vor Wahlen zu einem Mehrparteiengespräch einzuladen, noch jung. „Aber auch diese Veranstaltung hat schon Tradition“, sagte Jürgen Rose. Am vergangenen Mittwoch konnte er erneut Neuköllner Kandidaten für die Abgeordneten-hauswahl und reichlich interessiertes Publikum begrüßen. „Die AFD haben wir bewusst nicht eingeladen, und so bleibt es auch“, positionierte sich der Vereinsvorsitzende gleich zu Anfang.
Vertreter anderer Parteien sind durchaus eingeladen und wären willkommen gewesen, doch: Einerseits haben die Sommerferien begonnen und andererseits wollte man nur Politiker, die für den Ortsteil Britz aufgestellt sind, auf dem Podium haben. Ein Kriterium, das mit Sibylle Steffan (2. v. r.) von den Grünen sowie den CDU-Direktkandidaten Christopher Förster (M.) und Thomas de Vachroi (l.) auch drei der vier Diskutanten erfüllten. Der SPD-Vertreter Martin Hikel (2. v. l.) kandidiere zwar für Rudow, habe jedoch kurzfristig für seine familiär verhinderte Kollegin Derya Caglar einspringen können, begründete Jürgen Rose (r.), bevor er auf zwei Besonderheiten der kommenden Wahl verwies:
Während Neukölln bisher nur sechs Wahlkreise hatte, sind es jetzt sieben. Auf Britz wirkt sich die Neusortierung in der Form aus, dass sich der Ortsteil auf die Wahlkreise 3, 4 und 5 verteilt. Im Wahlkreis 5 dürfte Dr. Robbin Juhnke aussichtsreichster Kandidat für das Direktmandat sein. Gegen den CDU-Politiker, der nach der Wahl in seine dritte Legislaturperiode im Abgeord-netenhaus ginge, treten die ebenfalls AGH-erfahrene Anja Hertel (SPD), Wolfgang Ewert (Grüne) und Hanna Rübig (Die Linke) an. Offener erscheint der Ausgang im Wahlkreis 4, den Rübigs Genosse Jörg Lelickens, Derya Caglar, Christopher Förster und Sibylle Steffan holen wollen. Im Wahlkreis 3 spekulieren neben dem SPD-Abgeordnetenhaus-Mitglied Joschka Langenbrinck der Linkspartei-Vertreter Ruben Lehnert, Georg P. Kössler von den Grünen und Thomas de Vachroi auf das Direktmandat.
Letzterer war mit 56 Jahren zwar der Oldie unter den Youngsters auf dem Podium, ist aber gleichwohl ein Neuling in der Politik. „Meine Schwerpunkte liegen im sozialen Bereich“, stellte sich de Vachroi vor, der beim Diakoniewerk Simeon arbeitet und seit 2011 in Neukölln wohnt. Besonders um die Themen Integration, Senioren, Flüchtlinge, Inklusion und Obdachlose gehe es ihm, führte er aus und konkretisierte: „Die Obdachlosen haben wir vollkommen vergessen, die müssen wir zurückholen.“ Dass Thomas de Vachroi im weiteren Verlauf des Gesprächs stiller als alle anderen blieb, lag insbesondere am mauen Interesse des Publikums an sozialen Aspekten.
Wichtiger waren ihm Antworten auf Fragen zur Sicher-heit und zur auf die Krugpfuhl- und Hufeisensiedlung heruntergebrochenen Wohnungsbaupolitik. Zwar sei die Gentrifizierung in Britz noch nicht angekommen, aber höhere Ausgaben fürs Wohnen stünden auch den Mietern in der Hufeisensiedlung bevor, merkte eine Betroffene an. Um-fangreiche Sanierungen einschließlich sechswöchiger Umsetzung der Mieter habe die Deutsche Wohnen als Eigentümerin angekündigt: „Ich rechne mit einer Mieterhöhung von 100 bis 150 Euro.“ Das würden die meisten Britzer, denen es „in der Regel ganz gut, aber nicht sehr gut“ gehe, zwar bewältigen können, doch die Anwohnerschaft werde sich verändern, prognostizierte die Frau: „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass die
Mietenproblematik auch einmal Britz betreffen wird.“
Die Politik müsse Rahmenbedingungen schaffen, damit es nicht so weit kommt, forderte Sibylle Steffan, während Martin Hikel darauf verwies, dass Mieter ihre Rechte einfordern müssten. Gegen Fehler, die in der Vergangenheit durch die Privatisierung von Wohnraum – wie auch der Siedlung in Britz – gemacht wurden, könne die Politik heute nichts mehr unternehmen. Rund 100.000 Wohnungen, ergänzte Steffan, seien in den Zeiten des rot-roten Senats privatisiert worden. Die Politik, unterstrich de Vachroi, habe in den letzten Jahren bei der Wohnungspolitik fürchterlich versagt. „Umso wichtiger ist es jetzt umzuschwenken“, fuhr Hikel fort. Bei der Mietpreisbremse müsse nachgearbeitet werden, und perspektivisch werde es nicht ohne eine Reduzierung der durch-schnittlichen Wohnfläche pro Person gehen, um den Bedarf in Berlin zu decken. Zumal der Milieuschutz, die soziale Erhaltungssatzung gegen
Luxussanierung, nur in Kombination mit anderen Maßnahmen Wirkung zeigen könne. „Er ist nur ein Papiertiger und eine Investitionsbremse“, schaltete sich Christopher Förster in die Diskussion ein, um den Stand-punkt der CDU zu vertreten und durch ein persönliches Statement zu ergänzen: „Ich bin dafür, dass auf dem Tempelhofer Feld gebaut wird.“
Ungleich konstruktiver und näher am Realisierbaren waren die wohnungsbaupolitischen Ambitionen von Steffan und Hikel. „Ich bin dafür, dass auch Lebensqualität wächst, indem Grün erhalten und bei Wohnungen nachverdichtet wird“, konstatierte die grüne Direktkandidatin, die mit dem Schwerpunkt Europapolitik als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag tätig ist und seit sechs Jahren „im bezaubernden Neukölln“ lebt. Nachverdichtung „ohne die Traufhöhe zu killen“, ist auch für den SPD-Politiker das Mittel der Wahl, der in der ablaufenden Legislatur-periode der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung angehörte und im Hauptberuf als Lehrer für Mathe, Politik und Geschichte an einer Zehlendorfer Schule arbeitet: „Ziel muss sein, keine neuen Armutsquartiere zu schaffen und in den Wohnhäusern mit der Durchmischung anzufangen.“
Die fehlende Polizeipräsenz sei u. a. in seinem Wahlkreis ein Problem, für das er sich als Abgeordneter einsetzen wolle, hatte Christopher Förster bereits in der Vorstellungsrunde verkündet. Zu brillieren wusste der Leiter des Büros der Neuköllner CDU-Bundestagsabgeordneten Christina Schwarzer aber beim Thema Sicherheit dennoch nicht. Er wisse über den Fall nichts, musste Förster zugeben, als aus dem Publikum das Gespräch auf die kürzlich vom Abschnitt 56 eingestellte Sonderkommission gegen Neonazis gelenkt wurde: „Weil Henkel unser Problem für nicht mehr vorhanden erklärt hat, haben wir jetzt in Britz wieder ein Problem mit Faschisten.“ Er werde Innensenator Henkel daraufhin ansprechen, bot Förster an und wiederholte, dass wegen der abschreckenden Wirkung die Polizei-präsenz vergrößert werden müsse, er aber auch mehr Videoüberwachung begrüßen würde. Letztere führe de facto nicht zu weniger Kriminalität, konterte Sibylle Steffan. Und da zum Abschnitt 56 auch Hikels Wahlkreis in Rudow gehört, konnte wieder einmal der exzellent vorbereitete SPD-Vertreter Hintergründe bekanntgeben: „Die Soko Rechts hat schon vor einem Jahr signalisiert, dass es ihr an politischer Unterstützung fehlt.“ Das grundsätzliche Problem sei aber das Fehlen von 1.600 Stellen bei der Polizei: Trotz Neueinstellungen gebe es wegen des Anwachsens der Bevölkerung in Berlin heute unterm Strich weniger Polizisten für mehr Menschen als 2011. Mit seinem Plädoyer für Präventionsteams in Hotspots und die Wiedereinführung von Kontaktbereichs-beamten
in den Kiezen, lagen Martin Hikel und Christopher Förster letztlich auf einer Linie.
Inwieweit das vom Britzer Bürgerverein initiierte Mehrparteiengespräch zur Entscheidungsfindung der anwesenden Wähler beigetragen hat, sei dahingestellt. Einen Eindruck von vier Neuköllner Direktkandidaten für die Abgeordnetenhauswahl und ihren Prioritäten bekam man aber durchaus. „Der AFD Stimmen wegzunehmen, ist mein größtes Ziel“, resümierte Thomas de Vachroi. Sibylle Steffan will mit den Grünen einen anderen Politikstil etablieren und durchmischte Kieze: „Die Wahl entscheidet, wie wir in Berlin weiter zusammenleben.“ Christopher Förster plant u. a., das Problem illegaler Müllablagerungen anzugehen sowie das Online-Angebot der Bürgerämter auszubauen. Indes sieht Martin Hikel „Bildung und Chancengleichheit für alle“ nicht nur als Querschnittthema, sondern als „Fixstern, an dem wir unsere Politik orientieren“. Im Dialog mit den Bürgern die wachsende Stadt zu gestalten, werde die größte Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte, ist er überzeugt und empfiehlt: „Wählen Sie nach Verstand und nicht nach Gefühl!“
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