Autorenlesungen finden in der Stadtbibliothek Neukölln normalerweise abends statt. Nicht so am vergangenen Donnerstag. „Es ist eine ungewöhnliche Zeit, aber wir haben auch einen ungewöhnlichen Autor zu Gast“,
begrüßte Bibliothekar Ralph Haack (l.) das Publikum, bevor er Yiğit Muk (M.) vor-stellte, der seine Karriere vom Hauptschulproll zum Einser-Abiturienten in dem Buch „Muksmäuschenschlau“ veröffentlicht hat. Was weder Haack und Ehrengast Jan-Christopher Rämer (r.), noch die Schulklassen im vollbesetzten Saal der Bücherei ahnen konnten: Es wurde auch eine ungewöhnliche Lesung – nämlich eine, bei der kaum gelesen und dafür umso mehr erzählt, gefragt
und geantwortet wurde.
„Ich war weder Gangster, noch Einser-Abiturient“, gestand zunächst Neuköllns Bildungsstadtrat. „Aber ich teile trotzdem mit Yiğit Muk die Erfahrung, immer wieder den Moment der Überraschung zu haben.“ Dass es jemand zu etwas bringt, der in Neukölln geboren wurde und aufgewachsen ist, könnten sich nämlich viele in Deutschland nach wie vor nicht vorstellen, deshalb sei es wichtig, Vorbilder herauszustellen, die ihre Herkunft nicht verleugnen und etwas geleistet haben, worauf sie stolz sind. Über die Möglichkeit, ob auch sein eigener Weg anders, als in Richtung einer politischen Karriere verlaufen wäre, kann Jan-Christopher Rämer nur spekulieren: „Ich weiß nicht, ob es geklappt hätte, wenn ich nicht von so einer Angebotsstruktur umgeben gewesen wäre.“
Bei Yigit Muk, dem Sohn türkischer Einwanderer der späten 1960er Jahre, standen die Vorzeichen ungüns-tiger. Er hatte keine deutschen Kinder in seinem Umfeld und habe vor allem per Fernsehen Deutsch gelernt, erzählt der heute 28-Jährige: „Der Spaß an der Schule verflog mangels Erfolgen schnell, auf der Straße war ich jedenfalls um einiges erfolgreicher.“ Und mit dem wachsenden Erfolg und Respekt, den er sich bereits als Neunjähriger durch brutalste Prügeleien verdiente, schwanden die anfänglichen Gewissensbisse. „Ich profilierte mich durch Gewalt und lebte die Devise ‚Schlag als Erster zu!‘.“ Schon die 3. Klasse musste er wiederholen, in der 6. kam er über eine Hauptschul-empfehlung, und der Traum seiner Mutter, wenigstens eines ihrer drei Kinder würde Abitur machen, rückte in immer weitere Ferne. Eine Knast-Karriere war dafür
greifbar nah.
In der 8. Klasse musste Yigit Muk eine weitere Ehrenrunde drehen, weil er zwar nicht dumm, aber doch dumm genug war, falsche Prioritäten, Idole und Freunde zu haben. Mit seiner Gang R44, die er – wie vieles andere – aus rechtlichen Gründen im Buch umbenannte, eiferte er Vorbildern nach, die es mit Kriminalität zu Geld und dicken Autos gebracht hatten. „Ich habe selber nie Drogen genommen, aber viele meiner Jungs waren stark drogenabhängig, nahmen oft Tilidin und raubten weit über Berlin hinaus Apotheken aus, um an das Zeug zu kommen.“ Welche Wirkung das starke Schmerzmittel hat, das legal z. B. bei Krebspatienten verordnet wird, muss er offenbar Neuköllner Jugendlichen nicht erklären. Als er von einem Lehrer erzählt, der zum Opfer wurde, weil er Fahrrad fuhr und beim Abbiegen Handzeichen setzte, lachen ein paar Jungs. „Wir wollten unsere Lehrer nicht ärgern, wir wollten sie demütigen. Dass ich auch verdammt gute Lehrer hatte, hab ich erst viel später festgestellt“, gibt Muk zu. Auch, dass es für ihn in der 8. Klasse noch unvorstellbar war, irgendwann einmal zu studieren.
Ein Jahr später hatte der Schlüsselmoment im Leben des Jugendlichen jedoch bereits seine volle Wirkung entfaltet: „Als der kleine Bruder von meinem Kumpel Hakan an Leukämie starb, hat die Totenrede des Imams in mir den Nährboden dafür gelegt, dass ich erreichbar wurde.“ Plötzlich sei ihm bewusst geworden, wie wertvoll das Leben ist. Im letzten Jahr auf der Hauptschule brachte er es zwar nur – bedingt durch lange Fehlzeiten wegen einer Erkrankung am Epstein-Barr-Virus – auf einen Durchschnitt von 4,9, „aber Hauptschulabschluss klingt scheiße!“, fand er, hängt den MSA an und meldete sich danach in einer Privatschule in Steglitz an, die er durch Türsteher- und Model-Jobs finanzierte, um das Abitur anzugehen.
„Da wurde ich plötzlich gefördert und gefordert und begann immer mehr, mich durch meinen Wissensstand zu profilieren. Es gefiel mir, Dinge zu wissen, und als ich in der 11. Klasse Jahrgangsbester war, setzte ich mir das Ziel, erster Einser-Abiturient an meiner Schule zu werden.“ 2012 war es erreicht, mit einem Schnitt, der sogar die Null vor dem Komma hatte. „Dass das geht,“ erzählt Yigit Muk schmunzelnd, der inzwischen Wirtschaftswissenschaften an der FU Berlin studiert, „wusste ich kurz vorher noch gar nicht.“
Ähnlich unverhofft kam er dazu, sich nun auch Autor nennen zu können, wobei er unklar bleibt, was genau die Urheberangabe „YiğitMuk mit Lars Wandke“ in dem 252-seitigen Werk bedeutet. Interessant sind in „Muksmäuschenschlau“ zweifellos die Einblicke in eine Parallelwelt, in der sich Gewalt verselbstständigt hat, und den Schulalltag aus der Sicht eines Schülers. Andererseits wirken die detailverliebten Schilderungen, die Muks Wandlung vom Saulus zum Paulus nacherzählen, jedoch auch äußerst ermüdend, zumal ersterer Phase entschieden mehr Raum gegeben wird.
Sehr viel eindringlicher, pointierter und reflektierter fällt indes der Rückblick auf Kindheit und Jugend aus, wenn Muk vor Publikum davon erzählt – und mit Fragen konfrontiert wird. „Wir standen uns extrem selber im Weg, aber ich kann die Dinge, die ich getan hab, nicht rückgängig machen und schäme mich für vieles sehr“, antwortet er offen auf eine. Ja, er habe noch Kontakt zu einigen Kumpels seiner Gang, die um die 100 Leute umfasste und „wie eine Familie“ für ihn gewesen sei, auf eine andere: „Aber viele von ihnen sind auch im Knast.“ Yigit Muk selber ließ sich meist nicht schnappen, so dass er nur mit ein paar Sozialstunden aktenkundig wurde: „Umso wichtiger ist es mir heute, mich beim Verein InteGREATer für Prävention und Intervention zu engagieren.“
Muks Buch, das er von seinem Büro zum Geburtstag geschenkt bekommen habe, stehe dafür, dass es sich lohne, Kinder und Jugendliche nie aufzugeben und sich für die Chancengleichheit einzusetzen, unterstrich Jan-Christopher Rämer. Zugleich relativiert es jedoch Vorurteile hinsichtlich der Verantwortung der Eltern: „Über das Ausmaß, was ich getan hab, waren sich meine Eltern überhaupt nicht bewusst. Erst durch das Buch ist ihnen klar geworden: Wir hätten da wegziehen müssen!“
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