Die Nazis waren die Bösen. Die Juden die Opfer. Natürlich stimmt das so im Großen und Ganzen. Doch so leicht zu kategorisieren ist das Leben nie. Denn wo gehört dann Stella Goldschlag hin? Eine Jüdin, die über 100 Juden in Berlin an die Nazi-Schergen verraten hat. Und weshalb verübt diese Frau, die die Nazi-Zeit überlebt hat, fünf Ehen eingegangen ist, im Jahr 1994 mit 72 Jahren Suizid? Wahrlich kein einfacher Stoff, für ein deutsches Singspiel: In der Neuköllner Oper trägt es den Titel „Stella – Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“, und Peter Lund schrieb die Texte, Wolfgang Böhmer komponierte die Musik und Martin G. Berger führte Regie.
In der Mitte der Bühne ein einstöckiger, länglicher Bau. Doch ist es ein Bau? Nein, es ist auch ein Glaskasten, offen einsehbar für das Publikum, außerdem aber ebenfalls ein Zuhause, in dem Stella Gespräche mit ihrem Vater führt. Es kann aber auch unvermittelt zum Folterraum der Nazis werden. Und obendrein hat es eine spiegelnde Fläche, in der sich das Publikum spiegelt. Was wird uns gespiegelt?
Ganz toll, die Umsetzung des Zeitgeists der 1920er Jahre. Mit A-capella Gesang, der an die Comedian Harmonists erinnert, Videoeinblendun-gen der Entertainerin Josephine Baker – und Stella, die diese Welt und vor allem den Jazz liebt, und davon träumt einmal ein großer Star zu werden. Wenn dies, wegen ihrer jüdischen Herkunft in Deutschland nicht möglich sein soll, dann eben in Amerika. Einzig ihre Religion soll daran Schuld sein, dass sie ihre Träume nicht verwirklichen kann? Nein, sie fühlt sich nicht als Jüdin, weshalb sie zum Christentum konvertiert. Doch es ist alles sinnlos: Für die Nazis bleibt sie eine Jüdin.
Und sie verrät jüdische Menschen an die Nazi-Schergen. Einige bringen sich aus Angst vor der Deportation vorher selber um, das Leben anderer endet auf furchtbare Weise in den Konzentrationslagern. Stella empfindet für ihr Tun keine Reue. Damit ist sie wahrlich nicht allein. Adolf Eichmann tritt in der Inszenierung auf und schiebt sämtliche Verantwortung auf die Staatsspitze ab. Im Genre der leichten Muse singt er: „Eichmann, mein Eichmann, so sprach mir der Führer. Ist der Transport auch gut organisiert?“ Dazu wird Hitlers Konterfei gezeigt. Trägt das das Stück? Oder wird hier die Judenverfolgung als Komödie präsentiert? Nein, es funktioniert so gut wie in Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“.
Gerade die Leichtigkeit, angesichts des schreck-lichen Tuns, macht uns als Publikum betroffen. Zudem holt Stella einzelne ganz direkt mit gezielten Fragen aus der reinen und bequemen Zuschauerrolle heraus: Würden Sie mir noch Platz in der U-Bahn machen, wenn ich den Judenstern offen trage? Bleibt nicht vielleicht die Handtasche als Besetzt-Zeichen auf dem Nachbarsitz liegen?
Der Inszenierung tat es gut, dass sie sich nach einem vollgepackten ersten, einstündigen Teil im zweiten mehr Zeit ließ und damit dem Publikum mehr Gelegenheiten zum Spüren, Fühlen und Verarbeiten der Dialoge gab. Am Ende wurde dem sechsköpfigen Ensem-ble – und allen voran Frederike Haas, die der Rolle der Stella eine beängstigende Glaub-würdigkeit verleiht – ein riesiger Schlussapplaus zuteil.
Mein direkter Sitznachbar, ein Herr aus dem anglo-amerikanischen Raum und der deutschen Sprache nicht mächtig, konnte der Handlung von „Stella“ trotzdem gut folgen. Nicht verwunderlich, hat er doch erst vor einigen Wochen das Stück als Solo namens „Blond Poison“ im australischen Sydney gesehen. Bereitwillig schenkte er mir das Programmheft, das er von der Reise mitgebracht hatte.
Weitere Aufführungen von „Stella“ heute und morgen, vom 21. bis 24. und 28. bis 31. Juli sowie vom 4. bis 7. August jeweils um 20 Uhr in der Neuköllner Oper (Karl-Marx-Straße 131 – 133). Eintritt: 16 – 25 Euro (erm. 9 Euro); Karten-Reservierung über tickets[at]neukoellneroper.de oder tele-fonisch unter 030 – 68 89 07 77.
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