Nikola Richter reagiert zwar weder auf Papier allergisch, noch hegt sie eine Antipathie gegenüber Gedrucktem, doch beim Lesen hält die 39-Jährige schon lange ihr Smart-phone statt eines Buches in der Hand. Ein Verhalten,
das noch für viele unvorstellbar ist, für die gebürtige Bremerin aber der Impuls war, sich beruflich in eine Marktlücke zu stürzen und Verlegerin zu werden.
Sonnabend, am Welttag des Buches, stellte sie ihren Verlag namens mikrotext anlässlich der Aktion #verlagebesuchen vor, die vom Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels initiiert wurde: 22 Berliner Verleger öffneten dafür die Türen ihrer Büros, um ihre Programme und Autoren zu präsentieren und von ihrer Arbeit zu erzählen. In Neukölln beteiligte sich nur der mikrotext-Verlag, der Anfang 2015 in ein Gemeinschaftsstudio von Colonia Nova zog. Gegründet hatte Nikola Richter ihn aber schon zwei Jahre vorher. „Und davor“, erinnert sie sich, „habe ich ihn erstmal mental gegründet.“ Basierend auf dem, was sie im E-Book-Genre der deutschen Literatur-Szene vermisste: Kurze, luftige Texte, die attraktiv gestaltet sind, unterwegs auf dem Handy gelesen werden können und nicht zuletzt durch den Preis überzeugen. „Bei großen Verlagen sind E-Books so teuer, dass sie das E-Book-Lesen verhindern“, findet Nikola Richter.
Bei ihr kostet kein digitales Buch mehr als 10 Euro, und die meisten der inzwischen 30 mikrotext-Titel sind für weniger als die Hälfte zu haben.
Was alle eint, ist die inhaltliche Klammer: „Ich verlege nur originär digitale Literatur mit episodischen Texten, die einen Netz-Bezug haben.“ Ein Paradebeispiel dafür trägt Assaf Alassaf (l.) zum Ver-lagsprogramm bei. Seit Anfang 2014 lebte er in Beirut und behandelte als Zahnarzt in einem Medical Center für syrische Flüchtlinge. „Abends war ich immer voll von den Geschichten meiner Patienten“, erzählt der Syrer, der schon vor neun Jahren begonnen hat, nebenher journalistisch zu arbeiten. Im Winter 2014/15 war es, als er auf seiner Facebook-Seite einen Episoden-roman verfasste, der von einem fiktiven deutschen Botschafter in Beirut handelt. „Die Übersetzerin Sandra Hetzl entdeckte Assafs
Groteske mit politischem Kontext und heraus kam das Buch „Abu Jürgen“„, fasst Nikola Richter die Geschichte hinter der Geschichte zusammen. „Und was das Großartige ist: Assaf hat durch die Veröffentlichung seines Romans wirklich ein Visum bekommen und ist seit einem halben Jahr in Deutschland“, ergänzt sie, schränkt allerdings ein,
dass sein Status nach wie vor ungeklärt sei.
Auch das bei mikrotext erschienene E-Book „Der Gin des Lebens“ von Stefan Adrian (l.) würde es ohne das Internet nicht geben. Der Österreicher mit dem Hang zu Kalauern und einem Job als Barkeeper, der seit 2002 in Berlin lebt, hatte seine Drinklyrik mit tages-aktuellem Hintergrund nur aus Spaß verfasst und per Newsletter verschickt. Dass aus den Cocktail-Gedichten ein Buch wurde, habe sich einfach ergeben, sagt er. Bei Adrians erstem mikrotext-Roman „Bluffen“, einer Story über das Berlin der Nuller-Jahre und das Scheitern des Hedonismus, war es schon anders.
Sie sei so gut wie auf dem Weg zur Entbindung gewesen, als das Schlusslektorat in den letzten Zügen lag, erzählt Nikola Richter. Im Oktober 2014, einige Wochen nach der Geburt ihrer Tochter, wurde die Verlegerin mit dem Börsenblatt Young Excellence Award ausgezeichnet. Sie habe bewiesen, dass „Literatur in digitaler Form nicht schlechter ist“ und ein entsprechendes Geschäfts-modell gut funktionieren könne, bescheinigte die Jury. „Der Verlag verzeichnet steigende Einnahmen“, bilanziert Richter, „und jetzt, nach drei Jahren, ist der Durchbruch geschafft.“ Eine Herausforderung stelle allerdings nach wie vor das Marketing dar: „Es läuft fast ausschließlich über Facebook, Twitter, Presseverteiler und Kooperations-partner, weil der Buchhandel wegen der geringen
Margen und des hohen Beratungs-bedarfs nicht für E-Books zu begeistern ist.“ Um dort trotzdem einen Fuß in die Tür zu bekommen, sind „drei Titel mit einem großen digitalen Echo außerdem gedruckt im Pocketformat“ erschienen – obwohl das dem Anspruch der Verlegerin, „etwas Luftiges“ zu schaffen, eigentlich widerstrebt.
Die mangelnde Akzeptanz von E-Books macht ihr aber noch in anderen Bereichen zu schaffen: „Wenn der Name meines Verlags in Anführungsstriche gesetzt wird, ärgert mich das total, weil niemand das beispielsweise bei Rowohlt machen würde.“ Zumal sich die Arbeit, die in jedem einzelnen mikrotext-E-Book steckt, nicht von der bei gedruckten Büchern unterscheide. „E-Books sind eine neue Kulturform, und ob meine Texte auf Papier oder dem Handy gelesen werden, ist für mich irrelevant“, findet auch Assaf Alassaf. „Es sind globale Publika-tionen“, fügt Nikola Richter hinzu, „und das ist in der heutigen Zeit sehr attraktiv.“ Überhaupt ist die studierte Germanistin davon überzeugt, dass „Smartphones das Lesen retten“, deren Problem sei allerdings noch, dass die Hardware weit hinter den Möglichkeiten herhinke, die Gestaltungsprogramme für E-Books böten.
Mit dem Verlegen digitaler Literatur ist es aber für Nikola Richter längst nicht getan. Sie versteht sich auch als Entwicklungshelferin des Genres: „Aktuell bereite ich zusammen mit der Designerin Andrea Nienhaus, die auch die mikrotext-Titel gestaltet, das E-Book-Festival 2016 vor.“ Es fand erstmals vor zwei Jahren statt und soll am letzten Juni-Wochenende alle nach Neukölln locken, die sich als Macher oder Leser für digitales Publishing interessieren.
=ensa=
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