Stadtentwicklung theoretisch und praktisch

Montagabend hatte Senator Andreas Geisel zum Stadtforum mit dem Titel „Berlins neue Gründerzeit: Alle wollen wohnen“ in die kleine Arena des Tempodroms tempodrom_4.stadtforum berlineingeladen. Mittwoch war der Senator für Stadt-entwickung und Umwelt dann mit dem Neuköllner SPD-Abgeordneten Joschka Langenbrinck sowie Bezirksbaustadtrat Thomas Blesing (SPD) und Ingo Malter, dem Geschäftsführer der Stadt und Land GmbH, zum Kiezrundgang im erweiterten Quartiersmanagement-Gebiet Sonnenallee/High-Deck-Siedlung, um sich über die Chancen für ein nachbarschaftliches Miteinander zu informieren. Zwei Termine, bei denen es sowohl um eher theoretische als auch ganz praktische Aspekte der Stadtentwicklung ging.

„Langsam wird das Tempodrom zu klein für uns“, begrüßte Andreas Geisel die mehr als 500 Besucher in der vollbesetzten kleinen Arena. „Eine Stadt wie Erfurt ist in den letzten Jahren nach Berlin gekommen. In den nächsten Jahren stößt Bochum noch einmal zu uns“, veranschaulichte der Senator das Bevölkerungswachstum in der Hauptstadt: „Wir werden an die 4 Millionen-Grenze stoßen.“ Um bezahlbare Wohnungen zu schaffen, sei die Sozialwohnungsbauförderung im Land Berlin wieder eingeführt worden. Damit der unverzichtbare Wohnungsbau tatsächlich rasch beginnen könne, habe seine Verwaltung ausreichend Flächen für 200.000 friedrichstrasse berlinWohnungen identifiziert, teilte Geisel mit. Ebenso wichtig sei es, die soziale Mischung in der Stadt zu erhalten. In London und Paris, aber auch in einigen Teilen der Friedrichstraße gebe es sie nicht mehr. „Wir müssen neue Sozialwohnungen auch in der Mitte der Stadt bauen!“, forderte Geisel. Bereits 2017 würden 3.000 Wohnungen im sozialen Wohnungsbau gebaut. Weil fast jedes neue Wohnbauprojekt auf den Widerstand der Anwohner stoße, wolle die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung mit den Bürgern frühzeitig ins Gespräch kommen: Ein gut genutztes Online-Forum ist auf der Webseite des Stadtforums eingerichtet worden.

Geisel beschwor das Aufkommen einer neuen Gründerzeit, die der ersten Gründerzeit, die im Kaiserreich nach 1870 eingesetzt habe, und der zweiten Gründerzeit, die es in den 1920er Jahren der Weimarer Republik gab, nun folge. „Nur Mut!“, spornte der Senator seine Zuhörer an: „Verzagtheit hilft uns nicht weiter. Ich bude_geisel_luetke-daldrup_4.stadtforum berlinbin optimistisch für Berlin, die besten Zeiten liegen noch vor uns.“

Aus wissenschaftlicher Sicht trug Prof. Dr. Heinz Bude (l.), Soziologe an der Uni Kassel, zur Debatte bei. Vier Städte-Typen stellte er als Modelle vor, an denen sich Berlin orientieren könne: die Creative City, die Smart City, die Arrival City und die Party City. Neben den Megatrends demografischer Wandel, Digitalisierung und Ökologie sei aber vor allem die immer weiter zunehmende soziale Ungleichheit der Megatrend aller Megatrends. „Seit 20 Jahren gibt es in Deutschland eine neue Form des Proletariats. Es ist das Dienst-leistungsproletariat, das größtenteils aus den Beschäftigten der Pflege- und Reinigungsberufe besteht, die trotz harter Arbeit oft weniger als 1.000 Euro netto monatlich verdienen“, erklärte Bude. Das Dienstleistungsproletariat habe keinen Marx, keinen Bebel, und keine Rosa Luxemburg, d. h. keine Hoffnung auf die Verbesserung seiner Situation, weil ihm jede Möglichkeit zum sozialen Aufstieg fehle. Während ein Industriearbeiter durchaus irgendwann einmal als Facharbeiter monatlich bis 6.000 Euro netto verdienen könne, hätte das Dienstleistungsproletariat diese beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten nicht. „Zweitens hat sich die Mittelklasse gespalten“, fuhr der Soziologe fort: „Es gibt einerseits das gut gebildete Akade-mikerpaar, das sich gerade noch eine Miete von 800 Euro leisten kann. Es gibt inzwischen aber auch das ebenso gut gebildete Akademikerpaar mit vier Kindern, das sich eine Eigentumswohnung in der Naunynstraße für 600.000 Euro kauft und walz_4.stadtforum berlinzusätzlich noch einmal 300.000 Euro für den Ausbau investieren kann“, skizzierte der Soziologe Bude die von ihm beobachtete neue soziale Ungleichheit.

„Alle Etiketten sind untauglich für Berlin“, waren sich in der anschließenden Diskussion alle Experten einig, zu denen auch Susanne Walz (r.), Geschäfts-führerin der L.I.S.T. GmbH gehörte. „Auf der Straße ist die Angst vor der Verdrängung!“, musste Walz allerdings aufgrund ihrer praktischen Erfahrungen einräumen. Seit 1999 setzt sich die L.I.S.T. GmbH als Beauftragte für das Quartiersmanagement im Rahmen des Bund-Länder-Pro-gramms geisel_blesing_mueller_langenbrinck_rundgang schulenburgpark neukoellnSoziale Stadt für benachteiligte Stadtteile ein.

Über die Chancen auf ein nachbarschaftliches Miteinander im erweiterten Quartiersmanagement Sonnenallee/High-Deck-Siedlung in Neukölln machte sich Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (l.) dann Mittwochmorgen bei einem Vororttermin an der Seite von Baustadtrat Blesing (M.) und Joschka Langenbrinck (r.) selber ein Bild. Das QM-Gebiet wäre nach den Kategorien des Soziologe Bude wohl am ehesten als Übungsort des Ankommens oder als Arrival City im Sinne von Doug Saunders zu verstehen. „Ich bin gespannt auf die Projekte, die Sie mir vorstellen. Auf den ersten Blick macht das Gebiet eine gepflegten Eindruck“, sagte der Senator nach der Begrüßung durch Ingo Malter, den Geschäftsführer Stadt und Land Wohnbauten-GmbH, und Ines Müller (2. v. r.), die Quartiersmanagerin des Gebietes. „Wir fragen uns ständig, was wir verbessern können, um die soziale Struktur stabil zu halten“, benannte Malter die Hauptaufgabe im Gebiet. „Alle 14 Tage ist Sperrmüllabfuhr“, gab Müller ein Beispiel: „Zwar stellen die Anwohner ihren Sperrmüll oft einfach auf die Straße – aber auch der Mülltourismus ist bei uns enorm.“ Die wohnprojekt junge muetter vaeter_rundgang schulenburgpark neukoellnFluktuation im Gebiet, in dem viele Alleinstehende und kleine Familien leben, sei hoch und – anders als etwa im Reuterkiez – werde sich das Quartiersmanage-ment in absehbarer Zeit kaum selbst überflüssig machen können. Im Gegensatz zur High-Deck-Siedlung sind die knapp 1.000 Wohnungen des QM-Erweiterungsgebietes Schulenburgpark klein und vergleichsweise günstig. Seit einer Anhörung, die im Mai 2015 aufgrund des erfolg-reichen Einwohnerantrags zum Milieuschutz im Ausschuss der BVV Neukölln statt-fand, milster_geisel_stadtteilmuetter_rundgang schulenburgpark neukoellnwird vereinzelt aber kritisch auf steigende Mieten hingewiesen.

Erste Station des Rundgangs war der 2004 in Neukölln gegründete Junge Mütter/Väter e. V. in der Neuköllnischen Allee. Petra Milster (l.) vom Projekt berichtete im Gruppenraum der Einrich-tung, wie Eltern, die aufgrund ihrer Persönlich-keitsentwicklung eine Unterstützung bei der Betreuung ihrer kleinen Kinder brauchen, auf Grundlage des Paragraphs 19 SGB VIII geholfen wird. „Wir wollen Familien befähigen, dass sie mit Kindern zusammenleben können“, erklärte sie den Zweck ihrer Arbeit. „Stabile Beziehungen werden in der Regel im ersten halben Jahr aufgebaut. Danach ist es schwierig. Unsere Arbeit ist zu 90 Prozent erfolgreich“, erläuterte Milster weiter. Für alle Eltern bzw. Alleinerziehenden dreher_rundgang schulenburgpark neukoellnund ihre Kinder stellt der Verein neben den Gruppenräumen und Spielzimmern eine Ein- bis Zwei-Zimmerwohnung zwischen 50 und 65 Quadratmeter zur Verfügung.

Zweite Station der Tour war die Kepler Schule. Sie habe „noch nicht den besten Ruf“, ging Rektor Moritz Dreher (r.) in die Offensive, als er seine Gäste begrüßte. „Ich bin aber davon überzeugt, dass wir alle Kinder gut fördern“, fügte er hinzu. Die Zahl der Schüler, die überwiegend aus den benachbarten drei Grundschulen kommen, habe sich fast verdoppelt. Es gebe keine nennens-werten Gewaltvorfälle in der Schule, allerdings sei Schul-Distanz ein gravierendes Problem. Mit dem Geld aus einem Bonusprogramm, das von Bildungssenatorin Sandra Scheeres initiiert und vom Abgeordneten Joschka Langenbrinck mit auf den Weg gebracht wurde, seien drei Projekte, darunter ein Mentorenprogramm, finanziert worden. Lobend erwähnte Schulleiter Dreher auf Nachfrage auch die Arbeit seines Hausmeisters. „Wir haben einen sehr engagierten Hausmeister. Er betreut z. B. die gruppe_kepler-schule_rundgang schulenburgpark neukoellnHandwerker, die gerade in der Schule arbeiten und er achtet darauf, dass es nicht zu laut wird, wenn die Schüler Klassenarbeiten schreiben oder Prüfungen haben.“

Nach gut anderthalb Stunden war der Besuch des Senators beendet. „Unser größtes Kapital sind die Menschen vor Ort, die sich hier engagieren“, sagte Andreas Geisel bei der Verabschiedung und räumte ein: „Es geht nicht nur um Bauen, sondern auch darum, dass wir stabile Nachbarschaften haben.“

=Christian Kölling=

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