Ein Merkmal, das jemanden in seiner besonderen negativen Art kennzeichnet, wird Stigma genannt. „Kontinuitäten der Stigma-tisierung“ heißt das Buch von Anja Reuss. Montagabend stellte die Wissenschaftlerin ihre Forschungsarbeit über Antiziganismus rund 30 Interessierten vor. Alvaro Rodriguez (r.) und Emanuel Barica vom Amaro Foro e.V. sowie Guillermo Ruiz (l.) von der Sozialfabrik hatten dafür zur Informationsveranstaltung unter dem Titel „Missgunst und Feindseligkeit – Antiziganismus in der Nachkriegs-zeit“ in die Räume von Outreach Neukölln eingeladen. „Ich will einen Beitrag zur Theorie des Antiziganismus in der Gegenwart leisten“, sagte Reuss, die in ihrer Arbeit das Zeitfenster zwischen 1945 und 1950 in allen vier Besatzungszonen Deutschlands untersuchte.
Auch wenn Ansätze positiver Aufklärungsarbeit in Neukölln zu erkennen sind – im Dezember 2014 wurde beispielsweise im Rathaus die Wanderausstellung “Die Vielfalt der Sinti und Roma in Deutschland” gezeigt – bleibt weiterhin viel dafür zu tun. Selbstorganisationen wie der Amaro Foro e. V. beklagen europaweit längst nicht nur die Ausgrenzung von Roma-Kindern im Bildungs-bereich. Grundsätzlich müssen Klischees über Sinti und Roma, die seit mehr als 600 Jahren in Deutschland als Minderheit leben bzw. zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus Ungarn und Polen einwanderten, hinterfragt werden.
„In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren alle damit beschäftigt, den Alltag zu bewältigen. Niemand wollte über die Zeit des Nationalsozialismus sprechen. Die Deutschen sahen sich entweder als Opfer des NS oder sie hielten den Nationalsozialismus nach wie vor für eine an sich gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“, charakterisierte die Historikerin Reuss, die Neuere Geschichte und Neuste Geschichte sowie Erziehungswissenschaften an der Humboldt Universität Berlin studiert hat, die Zeit des Interregiums zwischen 1945 und 1950. Antiziganistische Vorurteile wurden in der Bevölkerung weiterhin unverhohlen geäußert. Die Polizeibehörden führten dezentral sogenannte Landfahrerdateien. Es herrschte ein gesellschaftliches Klima, in dem es einfach war, missliebige Nachbarn oder ungeliebte Arbeitskollegen überall anzuschwärzen: „Es sind ausgesprochene Schieber, welche über große Geldbeträge verfügen. Die Bewohner werden von ihnen als ‚deutsche Schweine‘ bezeichnet“, zitierte Reuss auf Wunsch des Publikums aus einem Denunziationsschreiben. „Trägt westliche Kleidung und geht im Westen wahrsagen“, wird in einem zweiten Schreiben eine Frau diffamiert, um anonym ihren Status als „Opfer des Faschismus“ anzugreifen.
Jahrhunderte alte Stereotype sind längst nicht aufgebrochen, wie der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal im Feuilleton der FAZ er-klärte. Oder die wissenschaftliche Publikation „Kontinuitäten der Stigmatisierung“ von Anja Reuss, die im Metrolpol Verlag erschienen ist, belegt. Guillermo Ruiz aus der Sozialfabrik kündigte deshalb an, dass in den kommenden Monaten die Veröffentlichung einer Studie über aktuelle Formen der Diskriminierung folgen wird.
=Christian Kölling=
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