Die Versuchung liegt direkt nebenan. „Kein Englisch!“, instruiert Diana Mercher die Frauen und Männer, die sich um ein Computerterminal im Museum Neukölln
versammelt haben. Viele sind mit dem Englischen vertrauter als mit der deutschen Sprache, aber alle entschlossen, das zu ändern. Im Deutsch-kursus der VHS Neukölln haben die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, der Ukraine, Pakistan und dem Iran bereits die Kompetenzstufe A2 erreicht. „Dabei sind einige erst seit fünf Wochen hier“, sagt Diana Mercher, die Dozentin, nicht ohne Stolz: „Sie entdecken gerade, was Demokratie bedeutet, haben eine riesige Hoffnung, sich schnell zu integrieren, und
sind sich bewusst, dass Sprache ein wichtiger Schlüssel ist.“
Beim Besuch der Ausstellung „99 x Neukölln“ sollen die Frauen und Männer aber nicht nur ihre frisch erworbenen Deutschkenntnisse einsetzen. Hier lernen sie parallel auch etwas über die Ver-gangenheit und Gegenwart ihrer neuen Heimat. „Zeitreise Neukölln“ heißt das vom Museum konzipierte Programm, das die Flüchtlinge dafür nutzen: Es besteht aus Arbeitsblättern, die fünf Themenbereiche aufgreifen und diese anhand von jeweils zwei Ausstellungsobjekten veranschaulichen. Ein ver-ziertes Toilettenbecken symbolisiert beispielswei-se das Spektrum „Trautes Heim“, eine Nähma-schine die „Frauenwelten“, ein Röntgenbild das Thema „Gekommen, um zu bleiben“, eine Groß-trappe die „Neuköllner Tiere“ und das Rixdorfer Tanzpaar den Bereich „Freizeit & Feiern“. In den Vitrinen können die Originale der Exponate angesehen werden; Informationen zu ihnen liefern die Computerterminals: beim Antippen des dt-Buttons in deutscher Sprache, wahlweise aber auch auf Eng-
lisch und – durch das Aktivieren des easy-Symbols – in leichter Sprache. „Wer das Deutschkurs-Niveau A2 erreicht hat, kommt mit dem Zeitreise-Programm klar“, ist die Erfahrung von Bernd R. Müller, dem Direktor der bezirklichen Volkshochschule.
Er und Museumsleiter Dr. Udo Gößwald hatten am vergangenen Donnerstag zu einem Pressegespräch ins Museum Neukölln eingeladen, um über eine neue Ini-tiative des Arbeitskreises der Berliner Regio-nalmuseen zu informieren, die unter dem Motto „Wir zeigen Flüchtlingen unsere Stadt“ steht. Die „Zeitreise Neukölln“ ist Teil dieses Pro-gramms; andere Bezirksmuseen beteiligen sich mit Gesprächskreisen, Workshops, Führungen oder Familiennachmittagen, die gezielt Flücht-linge ansprechen sollen.
„Die Regionalmuseen sind sehr verwurzelt in den Bezirken und verstehen sich mit ihrer Ausrichtung auf das soziale und kulturelle Leben der Bürger als Orte der Orientierung für Flüchtlinge“, beschreibt Gößwald (r.) die Grundidee der Initiative. Die thematische Vielfalt der Dauerausstellung „99 x Neukölln“ biete Geflüchteten zudem die Möglichkeit zum breitgefächerten Abgleich mit ihren eigenen Erfahrungswelten. Gleichzeitig verändere sich dadurch aber auch die Sicht auf manche Exponate, weiß der Museumsdirektor: „Den von einem syrischen Flüchtling geschnitzten Pfirsich-kern haben wir schon seit 12 Jahren in der Samm-lung. Damals war er ein Nischenthema, jetzt hat er eine besondere Aktualität bekommen.“ Auch das Röntgenbild, das den von einem Granatsplitter verletz-ten Thorax einer Libanesin zeigt, wurde durch die Kriegsflüchtlinge zu einem „Thema, das mit großer Vorsicht behandelt werden muss“.
65 Deutschkurse hat die VHS Neukölln in diesem Jahr bereits – zusätzlich zu den BAMF-Integrationslehrgängen – angeboten. „Etwa 30 Kurse waren zur Zeitreise im Museum“, schätzt Müller. Vor dem Besuch erfolge eine sprachliche Vorbereitung, hinterher werde er inhaltlich nachbereitet – und sei den Teilnehmern außerdem bestenfalls die Schwellenangst genommen, die viele Migranten
gegenüber Kultur und Museen hegten. „Für uns“, so der Neuköll-ner Volkshochschul-Chef, „gehört kultu-relle Bildung aber zur Grundbildung, und extrem wichtig ist deshalb der Universalzugang zu Texten in Leichter Sprache.“ Nicht nur für Geflüchtete, ergänzt er, denn für Bildungsferne und funktionale An-Alphabeten sei das Angebot
ebenfalls von großem Vorteil.
Von Bildungsferne sind die Frauen und Männer, die sich an diesem Vormittag zusammen mit Diana Mercher (l.) auf eine Zeitreise durch die Geschichte Neuköllns begeben, so weit entfernt wie von ihrer alten Heimat. Die meisten haben schon eine akademische Ausbildung absolviert, sind Biologen, Ärzte, Chemiker und Lehrer. Andere wollen die Chancen in ihrer neuen Heimat nutzen und erst noch ein Studium beginnen. So viel Bildungsorientierung sei zwar keine Ausnahme unter den Flüchtlingen, bestätigt Bernd R. Müller: „Es ist aber auch nicht die Regel.“ Insofern unterscheiden sie sich folglich kein bisschen von der Gesellschaft, in der sie ankommen wollen.
Am 16. Dezember lädt das Museum Neukölln zum Refugees Welcome Day ein: Geflüchtete aus Neukölln und ihre Kinder können an diesem Tag das Museum und dessen Arbeit kennenlernen. Angeboten werden mehrere Führungen mit Dolmetschern durch die Dauerausstellung „99 x Neukölln“ und die Wechselausstellung „Die sieben Tische – Gastkultur in Neukölln“ sowie ein Programm für Kinder. Außerdem hat jeder Gelegenheit, sich an einem kleinen Buffet zu bedienen.
Außer der „Zeitreise Neukölln“, die für Deutschkurs-Teilnehmer der VHS Neukölln konzipiert ist, bietet das Museum auch Führungen für Will-kommensklassen sowie Klassen an, die ein spezifisches Interesse an der Begegnung mit Flüchtlingskindern haben. Weitere Informationen: Tel. 030 – 62 72 77 727 oder info[at]museum-neukoelln.de
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