Weltgeschichte auf einen Neuköllner Kiez heruntergebrochen

titelseite leben im umfeld der martin-luther-kirche im ersten weltkrieg_berlin-neuköllnWenn nach dem Abschluss eines Projekts eine ge-druckte Dokumentation entsteht, gleicht diese oft einer von Logos gezierten Nabelschau, die für Unbeteiligte eher uninteressant ist und als Kernaussage impliziert, dass die in der Projektförderung kalkulierten Druck-kosten eben ausgegeben werden mussten.

Embleme von Förderern und Danksagungen fehlen auch in der Broschüre „Leben im Umfeld der Martin-Luther-Kirche im Ersten Weltkrieg“ nicht. Ansonsten unterscheidet sich das Produkt einer im letzten Jahr von der evangelischen Gemeinde veranstalteten Ge-schichtswerkstatt aber erheblich und ausgesprochen wohltuend von einschlägigen Publikationen. Wie haben die Menschen vor 100 Jahren in diesem Neuköllner Kirchenbezirk gelebt und wie war ihre Haltung zu den weltpolitischen Geschehnissen? Das ist der Themenkomplex, der unter der Leitung else rose_leben im umfeld der martin-luther-kirche im ersten weltkrieg_berlin-neuköllnder Politologin Ursula Bach von Gemeindemit-gliedern recherchiert wurde.

Die Einweihung der Martin-Luther-Kirche lag nicht einmal fünf Jahre zurück, als sich die europäi-schen Großmächte im August 1914 gegenseitig den Krieg erklärten. Im Arbeiterbezirk Neukölln, wo die SPD zwei Jahre zuvor bei den Reichstags-wahlen 83 Prozent der Stimmen erlangt hatte, lebten damals knapp 270.000 Menschen: Rund 45.000 von ihnen wurden in den Kriegsjahren als Soldaten eingezogen, etwa 6.600 davon starben bei den Kampfhandlungen. In nahezu jedem dritten Haus im Kiez, so die Recherchen, habe sich die Zahl der Gefallenen bemerkbar gemacht. Viele andere – wie auch Otto Rose – überlebten und kamen mit leichten bis schwersten Verwundungen karl westphal_leben im umfeld der martin-luther-kirche im ersten weltkrieg_berlin-neuköllnzurück. „Von den seelischen Schäden sprach niemand“, resümiert Margit Rose-Schmidt in ihrer Familienchronik.

Wer waren die Kriegstoten aus der Umge-bung der Martin-Luther-Kirche und wo genau hatten sie gewohnt? Eine Gedenktafel für die Opfer, die in der Fuldastraße angebracht war, wurde 1944 im 2. Weltkrieg ebenso wie die Kirche bei einem Luftangriff zerstört. 74 Neuköllner Gemeindeblätter der Jahre 1914 bis 1917 durchforsteten die Teilnehmer der Geschichtswerkstatt und werteten sie aus. Mit dem Ergebnis, dass 444 Namen von Gefallenen und 19 von Verwundeten ermittelt werden konnten. Nur zwei der Männer, auch das zählt zu den Resultaten, hatten einen höheren Offiziersdienstgrad bekleidet.

Die Portraits von Bruno Seitner aus der Weserstraße 46, Paul Salewsky aus der Weserstraße 25, Rudolf Karl Messerschmidt aus der Laubestraße 7 und Willi Cas-per aus der Erkstraße 7 – allesamt  Gemeindemitglieder – stehen exemplarisch  für

fuldastraße_leben im umfeld der martin-luther-kirche im ersten weltkrieg_berlin-neukölln weserstraße_leben im umfeld der martin-luther-kirche im ersten weltkrieg_berlin-neukölln

im 1. Weltkrieg gefallene Neuköllner. Ihren Biografien schließen sich in der 52-seitigen Broschüre persönliche und eindringliche Erinnerungen Überlebender bzw. ihrer Angehörigen an: Passagen aus einem Kriegstagebuch, aus Familien-geschichten und aus Briefen eines Vaters, den neben der Sorge um den Sohn an der gemeindebezirk_leben im umfeld der martin-luther-kirche im ersten weltkrieg_berlin-neuköllnFront auch die Auswirkungen der dramatischen Ver-schlechterung der Lebensverhältnisse in Neukölln belasten.

Schon im Herbst 1915 hatte es erste Hungerkrawalle gegeben. Ab dem Winter 1916/17 spitzte sich die Versorgungslage katastrophal zu, und Demonstratio-nen vor dem Rathaus Neukölln gegen die Lebens-mittelknappheit waren an der Tagesordnung. Die Sterblichkeitsrate in der geschwächten Zivilbevölke-rung wuchs eklatant an: 469 Mitglieder der Martin-Luther-Gemeinde mussten im letzten Kriegsjahr zu orte damals und heute_leben im umfeld der martin-luther-kirche im ersten weltkrieg_berlin-neuköllnGrabe getragen wer-den, allein im Oktober 1918 waren es 100 Tote.

Seine Stärke hat das lesenswerte Zeitzeugnis zweifellos im biografischen Anteil, der Orte mit Menschen verbindet und Einblicke in deren Le-benssituationen und Standpunkte gewährt. Nicht minder aufschlussreich ist jedoch der skizzierte Wandel, was die Haltung der Gemeindepfarrer zum Krieg betrifft. Sie hoffe, schreibt die amtierende Pfarrerin Anja Siebert-Bright in ihrem Vorwort, dass die Dokumentation dazu anregt, „den Frieden, in dem wir seit 70 Jahren leben dürfen, weiter zu schätzen und neue Wege zu finden, ein friedvolles Miteinander vor Ort und in Europa zu gestalten.“

Die Broschüre „Leben im Umfeld der Martin-Luther-Kirche im Ersten Welt-krieg“ ist kostenlos in Luther’s Laden (Fuldastr. 50, Tel. 030 – 60977490) erhältlich.

=ensa=

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