„Herz der Finsternis“ als theatrale Expedition auf Landwehrkanal und Neuköllner Schiffahrtskanal

wagenburg lohmuehle_theater der migranten_herz der finsternisZwei Jahre ist es her, dass Papst Franziskus bei seinem Besuch auf der italienischen Insel Lampedusa die Gleichgültigkeit der Weltgemeinschaft gegenüber dem Flücht-lingselend im Mittelmeer geißelte. Über 3.500 Menschen sind im letzten Jahr auf der Flucht von Afrika nach Europa ums Leben gekommen, allein im April dieses Jahres ertranken bei zwei Schiffsunglücken innerhalb von nur einer Woche mehr als 1.000 Menschen. Ein Ende der Tragödie mit unvorstellbaren Ausmaßen ist nicht in Sicht. Das Theater der Migranten hat sich jetzt – unter künstlerischer Leitung von Olek Witt und in Zusammenarbeit mit dem Heimathafen Neukölln – des nicht enden wollenden Flüchtlingsleids angenommen. Das Ensemble mit 18 Laiendarstellern aus 15 Ländern, die als Geflüchtete aus Afrika nach Berlin kamen, präsentierte Donnerstagabend die Generalprobe und gestern die Premiere des Stückes „Herz der Finsternis“, kunstfabrik flutgraben berlindas seinen Namen in Anlehnung an Joseph Conrads gleichnamige kolonialkritische Novelle trägt.

Nach Sonnenuntergang startet in der Kunstfabrik am Flutgraben die nächtliche, theatrale Expedition auf Neu-köllns Kanälen. Eine Bootsfahrt, die – wie die Einladung verspricht – „jenseits von Gesetz, Zeit und Logik in eine geheimnisvolle Zone mit (post-)industriellen Räumen, Textcollagen futuristischem Sound und surrealen kunstfabrik flutgraben_theater der migranten_herz der finsternisFiguren“ führt.

Im weitläufigen Raum der Kunstfabrik müssen sich die Besucher der Performance zunächst einer freundlichen und höflichen, aber dennoch peinlichen Befragung durch die Mitglieder des Ensembles unterziehen, bevor sie Platz nehmen dürfen. „Wieviel Geld haben Sie im Koffer ?“, „Nehmen Sie Drogen?“, „Gab es in Ihrer Familie Fälle von Wahnsinn?“, lauten die Fragen. Dann werden einige Gästen gebeten, beim Bau eines Faltbootes mitzuhelfen, das an ein über-dimensioniertes kunstfabrik flutgraben e.V._theater der migranten_herz der finsternisPapierschiff erinnert. Gemein-sam verlassen anschließend Darsteller und Publikum die Halle, um mit dem Faltboot über die Straße vor dem Schlesischen Tor hinüber zum Landwehrkanal in Richtung Wagenburg an der Lohmühlenstraße zu ziehen.

Erzählerin Genifer M. Habbasch (r.), die in Kisan-gani im Kongo geboren wurde und in Namibia aufwuchs, stellt sich an einem Abzweig des Parkwegs vor und rezitiert die ersten genifer habbasch_theater der migranten_herz der finsternisTextstellen aus Conrads Werk, das 1899 veröffentlicht wurde: „Die Eroberung der Erde, die meistens darauf hinausläuft, dass man sie denen wegnimmt, die eine andere Hautfarbe oder etwas flachere Nase als wir haben, ist keine hübsche Sache, wenn wir ein biss-chen genauer hinsehen.“

Nach einem ersten Zwischenstopp an der Bühne der Wagenburg, geht es mit dem Faltboot die steile Böschung zur Fußgängerbrücke in den Görlitzer Park hinauf. Kreuz und quer läuft die Gruppe am nordwestlichen Ufer des Kanals durch die Botanik. „Immer geradeaus, immer geradeaus!“, rufen Helfer, landwehrkanal einstieg_theater der migranten_herz der finsternisbis das schwach beleuchtete floßartige Boot auf der Kreuzberger Uferseite erreicht ist. Einige wenige Gartenklappstühle werden für die Zuschauer herausgereicht, die meisten müssen aber stehen bleiben.

Bedächtig biegt das Boot mit dem großen Steuer-rad auf dem Dach hinter der Lohmühlenbrücke in lohmuehlenbruecke_theater der migranten_herz der finsternisden Neuköllner Schiffahrtskanal ein. Es passiert den Anleger für Ausflugsdampfer an der Wildenbruchbrücke und tuckert unterm Elsensteg weiter – vorbei an Fernheizwerk, Schrottplatz und Hotel Estrel immer tiefer in den Südosten Neuköllns. Licht-projektionen werden während der Fahrt links und rechts auf die Uferböschung geworfen. Die Dar-steller elsensteg_theater der migranten_herz der finsternishuschen mit Masken und großen Schildern am Ufer entlang. „Bon Voyage“ steht auf dem Plakat, das sich einer vor die Brust hält. Ein anderer Flüchtling sitzt auf einer gelben Rettungsleiter im Kanal. „Die Lage ist sehr ernst“, verkündet sein Schild. Im Hintergrund ist in einfachem Englisch die Geschichte des Flüchtlings Seyni zu hören, die nur gelegentlich unterbrochen wird, wenn Genifer Habbasch wieder ein Stück aus der Novelle von Joseph Conrad vorträgt, der zwar polnischer olek witt_theater der migranten_herz der finsternisHerkunft war, seine Werke aber in englischer Sprache schrieb.

Olek Witt (l.), der ebenfalls in Polen geboren wurde und seit 1978 in Deutschland lebt, beobachtet seine Inszenierung genau und setzt mit einer großen Stabtaschenlampe deutlich sichtbare Akzente.

Ohne erhobene Zeigefinger, aber trotzdem nicht zu übersehen, wird schließlich auch an die deutsche Kolonialvergangenheit erinnert, die einerseits zwar schon nach dem Ende des Ersten Weltkriegs offiziell beendet war, andererseits aber in zwielichtigen Figuren wie dem Söldner Kongo-Müller industriegebiet ausstieg_theater der migranten_herz der finsternisnoch bis weit in die 1960er Jahre weiterlebte.

Ihren Abschluss findet die abwechslungsreiche und alles andere als beschauliche Bootsfahrt irgendwo zwischen Neuköllnische Allee und Lahnstraße, wo das flache Boot in der Dunkelheit an einem unwegsamen Bahngelände anlegt. Es geht noch einmal eine sehr steile Böschung hinauf, bis die Gruppe auf dem Hof eines Anrainers im Industrieviertel zur Abschluss-Szene ankommt. Das Paradies, die letzte Station der Sehnsucht nach langen Leiden, schlussapplaus_ensemble theater der migranten_herz der finsternisist erreicht. Die Generalprobe der Auf-führung endet kurz nach Mitternacht mit freund-lichem, langanhaltenden Applaus.

„Ich hoffe, es war nicht zu gefährlich und kommen Sie gut nach Hause“, wünscht Olek Witt den Zuschauern. „Die Autobahn ist gleich in der Nähe“, sagt er scherzhaft und ergänzt den ernstgemeinten Hinweis: „Gegenüber fährt ein Bus.“ Die nächste S-Bahnstation ist auch nicht weit. Nur zweimal um die Ecke. Eigentlich kein Problem, wenn man den Weg kennt.

Das Theater der Migranten spielt „Herz der Finsternis“ noch heute sowie am 31. Juli und 1. August. Beginn des Stückes ist jeweils um 21 Uhr bei der Flutgraben e. V.-Kunstfabrik (Am Flutgraben 3); es sind nur noch Rest-karten für 20 Euro ab 20.30 Uhr an der Abendkasse erhältlich.
Wichtige Hinweise der Veranstalter: Auf dem floßartigen Boot gibt es über-wiegend Steh- und nur wenige Sitzplätze. Die Veranstaltung ist nicht barrierefrei. Outdoor-Bekleidung und -Schuhe sind zu empfehlen!

=Christian Kölling=

 

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