„Seit sieben Jahren“, so stand es in der Einladung, „gestaltet die [Aktion! Karl-Marx-Straße] den Wandel des Neuköllner Bezirkszentrums.“ Deshalb wurde neulich auf dem Alfred-Scholz-Platz „gefeiert“ – mit einer Bühne, die so groß war, dass Baustadtrat Thomas Blesing und Moderator Reinhold Steinle sowie dessen Aktentasche auf ihr stehen konnten, mit einigen Schautafeln, die Rück- und Ausblicke visualisierten, und – trotz der Präsenz diverser qua Amt Involvierter – mit einer sehr überschaubaren Gästezahl, die sich nach dem ersten und zugleich spannendsten Programmpunkt weiter reduzierte.
Anwohner waren nur spärlichst vertreten, was ins- besondere der äußerst dezenten Werbung für die Veranstaltung geschuldet gewesen sein dürfte. Inhaber von Läden in der Karl-Marx-Straße waren unter den Anwesenden gar nicht auszumachen – weil das Gros derer abends um halb 7 gemeinhin besseres zu tun hat, als den Visionen der Gestalter zu lauschen, und andere mit der Zukunft der Neuköllner Dauerbau-stelle nichts mehr zu tun haben wollen.
„Wir sind gerade am Ausräumen“, sagt eine Mitar-beiterin von Sivede-Augenoptik. Nach 40 Jahren gibt das Unternehmen den Standort an der Karl-Marx-Straße auf, „aus organisatorischen Gründen“, wie es heißt. Fast drei Jahrzehnte länger hatte sich dort Wäsche Hochfeld gehalten; kürzlich wurde endlich ein Nachmieter für den Laden gefunden. Schon vor einigen Wochen hatte die letzte Inhaberin des traditionsreichen Geschäfts angekündigt, dass ihr das Ende des Mietvertrags gar nicht schnell genug kommen könne, weil sie schon auf dem
Sprung sei: „Ich hoffe, es mel- det sich bald jemand, der 2.500 Euro für 60 Quadratmeter an einer Großbaustelle bezahlen will.“ Die ganze Straße sei völlig auf den Hund gekommen und biete keinerlei Potenzial
mehr für Fachgeschäfte, fand sie, und der Onlinehandel setze den Einnahmen zusätzlich massiv zu. „Die Leute wollen nur noch billigbilligbillig und legen keinen Wert mehr auf Beratung.“ Oder aber: Sie holen sich die im Fachhandel, um anschließend via Internet die richtige Ware bestellen zu können. Früher sei das alles anders gewesen, erinnerte sich die Frau, die lange als Verkäuferin bei Wäsche Hochfeld beschäftigt war, bevor sie den
Laden übernommen hat. Ein Film, der in den 1960er Jahren in der Karl-Marx-Straße gedreht wurde, unter-mauert das eindrucksvoll.
Auch um die Entwicklung des Handels an Neuköllns Magistrale ging es selbst-verständlich bei der Veran-staltung anlässlich des siebenjährigen Bestehens der [Aktion! Karl-Marx-Straße]. Citymanagerin Susann Liepe (l., neben Moderator Steinle) nahm dazu Stellung. Es seien verschiedene Bestands-aufnahmen gemacht worden, die alle belegten, dass es „keine großen Entwicklungen zum Positiven in den letzten fünf Jahren gegeben hat“, bestätigt sie den
Eindruck, der weder viele Gewerbetreibenden noch An- wohner oder Nutzer der Straße überraschen dürfte. „Bei den neuen Geschäftsansiedlungen handelt es sich über- wiegend um Gastronomie“, so Liepe weiter. Auch das wahrlich keine Erkenntnis, die übersehbar ist. „Aber die Karl-Marx-Straße hat viel Potenzial und die Vielfalt wird sich ausbauen“, prognostizierte die Citymanagerin. Bis diese Vorhersage Realität ist, müssen die Händler allerdings noch durch eine lange Durststrecke. „Beim Umbau einer
Straße geht es nicht ohne Umsatzeinbußen“, stellte Susann Liepe fest und verwies auf die Möglichkeit, Überbrückungshilfen beim Berliner Senat beantragen zu können. Unterm Strich warteten aber alle Gewerbetreibenden auf die Zeit nach dem Umbau „und freuen sich darauf“, meinte sie, was mit skeptischen Blicken mancher Gäste quittiert wurde.
Bereits am 4. August, kündigte Liepe an, werde die [Aktion! Karl-Marx-Straße] gemeinsam mit der BVG eine Kampagne starten, die als Zeichen der Wertschätzung für den lokalen Handel werben soll. Völlig unklar ist indes weiterhin die Zukunft des ehemaligen C&A-Hauses und der Alten Post. Beide Immobilien, reagierte die Citymanagerin mit hinlänglich
bekannten Allgemeinplätzen auf die Nachfrage von Moderator Reinhold Steinle, seien eben leider „nicht so einfach“.
Was aus einer nicht so einfachen Immobilie werden kann, wenn man ihr mit Überzeugung und Engagement zu Leibe rückt, hatte schon vorher Bensan Öndül (M.) beim Programmpunkt „Besichtigung der Kreativagentur Hi-Res!“ präsentiert. „Hier sah es ganz furchtbar aus“, erinnerte sich die Leiterin der Personalabteilung der 1999 von zwei Deutschen in London gegründeten Firma. Inzwischen gilt die Beschrei- bung nur noch für das Treppenhaus. Fünf Etagen sind zu bewältigen, wenn man in das 1.600 Quadratmeter große Büro über dem Karstadt-Schnäppchenmarkt am Alfred-Scholz-Platz will. Um Kunden nicht mit dem Anblick zu verstören, erzählte Öndül schmunzelnd, kämen sie in den Genuss eines Abholservices
und würden über das Parkdeck in die Agentur eskortiert.
Sven Küster und Mathias Sinn, die beiden Hi-Res!-Geschäftsführer, wohnen schon seit über 10 Jahren in Neukölln. Bei den Überlegungen, ein Büro in Berlin zu eröffnen, habe folglich die, es in Neukölln anzusiedeln, im Mittelpunkt gestanden: „Als Immobilienmakler keine geeigneten Objekte anboten, beauftragten sie einen Location-Scout, der sonst Filmsets organisiert, mit der Suche, und er fand den Aufbau auf dem Parkdeck des ehemaligen Sinn-Leffers-Hauses.“ Noch ohne Kunden und mit lediglich sechs Mit- arbeitern sei das Büro im April 2012 eröffnet worden. „Schon 2013 gelang uns der große Coup, als wir den gesamten digitalen Etat von BMW pitchen konnten“, so Bensan Öndül weiter. Inzwischen beschäftigt Hi-Res! 78 Festangestellte nebst 15 Freelancern – und aus dem bei laufendem Betrieb umgebauten Parkdeckaufbau wurde
wurde die Zentrale einer erfolgreichen „Kreativagentur im digitalen Umfeld“, die sogar für ihr ungewöhnliches Design eine Auszeichnung erhielt: „Das Büro ist ein absolutes Alleinstellungsmerkmal, deshalb werben wir auch damit.
Momentan wird es weiter – und ebenfalls wieder bei laufendem Betrieb – ausgebaut, weil mehr und größere Aufträge auch mehr Mitarbeiter sowie Platz für sie erfordern. „Künstler sind wir keine, sondern wir arbeiten ideengetrieben innerhalb der gesteckten Rahmenbedingungen“, war der Personal-chefin wichtig zu betonen. Das Interieur der Agentur, das Raum für kreative Anspannung und Entspannung in ein perfektes Miteinander bringt, darf allerdings durchaus als hohe Kunst bezeichnet werden.
=ensa=
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