Kriegsenkel werden Erwachsene der Jahrgänge zwischen 1960 und 1975 genannt, die den Zweiten Weltkrieg zwar nicht selbst erlebt haben, die aber aufgrund der Kriegserlebnisse ihrer Eltern und Großeltern unter dem Schatten der Kriegstraumata ihrer Vorfahren leiden. Den Begriff hat die Autorin Sabine Bode geprägt, nachdem sie 2003 bei ihren Recherchen für das Buch „Die vergessene Gene- ration“ auf dieses Phänomen stieß, das darauf hinweist, dass auch Nachkommen, die in Sicherheit und Wohlstand aufwuchsen, ein geschichtliches Erbe tragen – egal ob sie es wollen oder nicht.
Die Geschichte des Flughafens Tempelhof während der Zeit des National-sozialismus will der Verein THF 33-45 in lebendiger Erinnerung halten. Für ein Werkstattgespräch lud er am vergangenen Donnerstag in die Zollgarage des ehemaligen Flughafens ein: Prof. Dr. Reinhard Bernbeck vom Institut für Vorder-asiatische Archäologie der FU Berlin sowie Dr. Karin Wagner von der Oberen Denkmalbehörde des Landes Berlin bewerteten erste Ergebnisse der Grabungen, die von 2012 bis 2014 auf dem Tempelhofer Feld stattfanden.
„Das Tempelhofer Feld ist immer ein Ort für Militär, Luftfahrt und Volksbelustigung gewe- sen“, ordnete Prof. Dr. Bernbeck, der auf dem Gebiet der zeitgenössischen Archäologie derzeit Pionierarbeit leistet, sein Forschungsfeld ein, während er den knapp zwei Dutzend Zuhörern das Bruchstück einer bei Grabungen auf dem Gelände gefundenen alten Tonpfeife zeigte, das vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammt. Ursprünglich als Ackerfeld zwischen den Dörfern Tempelhof, Schöneberg und der Stadt Berlin genutzt, wurde das Areal unter den preußischen Königen nach und nach zum Exerzier- und Truppenübungsfeld, bis es ab 1872 für große Militärparaden und seit 1885 zusätzlich für erste Flugversuche genutzt wurde. Am Nord- rand des Tempelhofer Feldes entstand 1896 eine Militär-Arrestanstalt, die direkt gegenüber der gleichzeitg errichteten Kasernenanlage auf der anderen Seite des heutigen Columbia- damms lag. Die Arrest-Anstalt umfasste ein Gefängnisgebäude mit Wachstube und 156 Zellen, ein Gerichtsgebäude und ein Beamten-wohnhaus. Am Südrand des Tempelhofer Feldes nahm 1923 ein erster Flughafen seinen Betrieb auf, der ab 1927 über den damaligen U-Bahnhof Flughafen (heute Paradestraße) erreicht werden konnte. Das neue, nach Plänen des Architekten Ernst Sagebiel errichtete Flughafengebäude blieb in der Nazi-Zeit allerdings unvollendet und wurde erst nach Kriegsende in Betrieb
genommen.
In der Arrest-Anstalt am Nordrand des Tempel- hofer Feldes richteten die Nazis 1933 zunächst ein Gestapo-Gefängnis und später das KZ Columbia-Haus ein, das bis 1936 betrieben wurde. „Die grüne Minna – wie der Gefangenen-transporter damals genannt wurde – fuhr für Folterverhöre mehrmals täglich zur Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße 8, wo heute die Ausstellung Topographie des Terrors steht“, bemerkte Bernbeck.
Nach Beginn des 2. Weltkrieges im September 1939 wurden schätzungsweise mehr als 1.000 Zwangs- arbeiterinnen und -arbeiter für die Rüstungsproduktion der Luftfahrtindustrie in mehreren Barackenlagern auf dem Tempelhofer Feld untergebracht. Die Baracken standen am Südrand des Geländes in der Nähe des ersten Flughafengebäudes und am Nordrand direkt neben dem Hangar 1 des neuen unvollendeten Flughafen- gebäudes, von wo aus sie etwa bis zur Mauer des Garnisionsfriedhofes reichten. Die am Nordrand wurden Anfang 1944 von Bomben getroffen und brannten vollständig nieder.
Die Funde von verschiedenen Grabungsstellen, die an diesem Abend präsentiert wurden, waren eher bescheiden. „Ich wage nicht zu sagen, dass das dahin gehört“, kommentierte der Archäologe Bernbeck (l.) die Reste eines verbogenen Lam- penschirms, die bei Sondierungsgrabungen in der Nähe des 1938 abgerissenen Columbia-Hauses am Hangar 1 des Sagebiel-Baues gefunden wurden. Zum Fund eines Zinksarges unweit der Mauer des Garni- sonsfriedhofes erklärte er, dass bei der Flughafenerweiterung auch Friedhofsfläche miteinbezogen wurde. „Wir brauchen jetzt fünf- bis zehnmal mehr Zeit als für die Sondierungsgrabungen, um die Funde alle auszuwerten“, sagte Bernbeck. Einen Antrag für eine auf drei Jahre befristete Forschungsstelle zur Auswertung der Funde hat der Archäologe bereits gestellt. Und vielleicht sind am Ende tatsächlich noch Überraschungen zu erwarten. Besonders vielversprechend schätzte Prof. Dr. Bernbeck am Donnerstag allerdings nur einen Fund von Tierknochen ein, der wahrscheinlich aus einer Küche des Flughafens stammt: „Die Knochenfunde belegen, dass hier höchstwertiges Rindfleisch verarbeitet wurde, kaum Schwein, kein Geflügel und etwas Wild.“ Bernbeck vermutet, dass in der Küche wahrscheinlich für hochrangige Leute gekocht wurde, die sich vielleicht nur für kurze Zeit am Flughafen aufhielten.
Eine Einschätzung der Sondierungsgrabungen aus Sicht der Oberen Denkmalbehörde des Landes gab Dr. Karin Wagner (r.) ab. Sie äußerte sich zufrieden darüber, dass im Erdboden der historische Schriftzug BERLIN des ersten Flughafens am Südrand des Geländes gefunden und die Unterkellerung des alten Flug- hafengebäudes aus der Weimarer Republik als Bodendenkmal gesichert werden konnte. Außerdem wurde ein mit Beton verstärkter Splittergraben am Südrand des Geländes unter Denkmalschutz gestellt. „Das Land Berlin hat ein großes Interesse an der Geschichte des Tempelhofer Feldes, und der Senat hat ausdrücklich dazu aufgefordert, Planungsmittel für die Jahre 2016 und 2017 zu beantragen“, erklärte die Denkmalschützerin. Gleichzeitig warnte sie jedoch eindringlich vor Aktionismus, solange kein Handlungsdruck durch neue Bauvorhaben auf dem Tempelhofer Feld besteht: „Die nächsten Schritte der Grabungen müssen ganz genau überlegt werden, denn die Archäologie baut immer auch eine Fehlstelle“, sagte Dr. Wagner. Und sie fügte hinzu: „Wir müssen auch an die nachfolgenden Generationen denken, die vielleicht mit anderen Methoden und Fragestellungen das Gelände in unverändertem Zustand archäologisch erkunden wollen.“
Der Verein THF 33-45, der zuletzt im April zum 70-jährigen Jubiläum der Befreiung der Zwangsarbeiterlager auf dem Flughafen durch polnische und ukrainische Soldaten der Roten Armee eine Veranstaltung mit drei Zeitzeugen ausgerichtet hatte, die selbst als Zwangsarbeiter interniert waren, wird seine Positionen bei der Aufstellung des Entwicklungs- und Pflegeplanes für das Tempelhofer Feld und am Runden Tisch weiter einbringen.
Für die Öffentlichkeit bietet der THF 33-45 an jedem 2. und 4. Sonnabend im Monat etwa 1 1/2-stündige Führungen zur NS-Geschichte des Tempelhofer Feldes an. Treffpunkt ist um 14 Uhr am Denkmal Columbiadamm/Ecke Golßener Straße.
=Christian Kölling=
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