Das Referendariat einer Kopftuchträgerin im Bezirksamt Neukölln, der Einwohnerantrag für die Einführung von Milieuschutzgebieten im Norden des Bezirkes sowie Strategien zur Islamismus-Prävention in der Jugendarbeit bestimmten am vergangenen Mittwoch die Debatten der Bezirks-verordnetenversammlung (BVV) im Rathaus.
Zuerst gratulierte aber Ute Lanske als stellver-tretende Vorsteherin des Bezirksparlaments mit Blumen und einer Urkunde dem BVV-Vorsteher Jürgen Koglin zum 30-jährigen Jubiläum als Bezirksverordneter.
„Diskriminiert das Bezirksamt Neukölln Frauen mit Kopftuch?“: Um diese Frage ging es anlässlich des Falls der Rechtsreferendarin Betül Ulusoy, die zur Vor- bereitung auf ihr zweites juristisches Staatsexamen beim Kammergericht Berlin ein Praktikum absolviert und sich um eine Ausbildungsstation in der Rechtsabteilung des Bezirksamtes Neukölln beworben hatte. „Es trifft nicht zu, dass der Bewerberin eine Absage erteilt wurde“, stellte Bezirksbürgermeisterin Dr. Franziska Giffey gleich zu Beginn der Sitzung klar. „Der Bewerberin“, hieß es weiter, „wurde lediglich mitgeteilt, dass keine sofortige Ausbildungsbestätigung gegenüber dem Kam- mergericht Berlin erfolgen kann, weil ihre Einsatzmöglichkeiten und -orte als Rechtsreferendarin im Bezirksamt Neukölln zunächst einer Prüfung unterzogen werden müssten. Wie daraus eine Absage konstruiert werden konnte, ist für das Bezirksamt nicht nachvollziehbar.“
Ausführlich debattiert wurde über den Vorgang eine ganze Stunde lang bis zum Ende der Sitzung, nachdem andere Tagesordnungspunkte abgearbeitet waren. Viele Bezirksverordnete von SPD und CDU äußerten ihren Unmut, dass Betül Ulusoy über soziale Netzwerke und die Medien ihren Fall sofort skandalisiert habe. „Versuchen Sie sich doch einmal, sich in die Lage einer Kopftuchträgerin zu versetzen“, rief Semih Kasap von den Piraten in den Saal, worauf mehrheitlich allerdings nur mit Lachen und amüsierten Zurufen reagiert wurde. Lege man die Maßstäbe des Arbeits- oder des Beamtenrechtes an, lautete der Tenor vieler Redner, sei das Vertrauensverhältnis zu Frau Ulusoy eigentlich zerstört und es sei dem Bezirksamt hoch anzurechnen, dass sie dennoch, wie am Vortag entschieden, ihre Ausbildung im Rathaus absolvieren könnte. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Ga- briele Vonnekold fragte sich dagegen verwundert: „Warum konnte der Leiter des Rechtsamtes den Vorgang nicht zügig abschließen und der Praktikantin gleich eine Ausbildungsstation zusagen?“ Auch wenn sie beispielsweise als Rechtsanwältin tätig sein will, brauche sie das Praktikum unbedingt, um das 2. Juristische Staats-examen ablegen zu können. Dem hielt Daniel Dobberke (CDU) entgegen, dass es nicht zwingend sei, dass das Bezirksamt der Praxis des Kammergerichts folge. Bezirksbürgermeis- terin Giffey erklärte, dass die Bewerbung der Rechtsreferendarin der erste Fall gewesen sei und er deshalb zuerst mit allen Stadträten besprochen werden musste. „Die Neutralität des Staates und das Verbot, religiöse Symbole bei der Ausübung hoheitlicher Aufgaben zu tragen, sind ein hohes Gut unseres Gemeinwesens“, begründete sie die Beratung des Gremiums. Nur Christian Posselt (Die Linke) widersprach und wünschte sich eine Regelung wie in Großbritannien und Kanada: Dort, meinte er, könnten Polizistinnen mit Kopftuch und Polizisten mit Turban
hoheitliche Aufgaben auch mit Außenwirkung wahrnehmen.
Weiterhin wurde über den Einwohnerantrag für die Einrichtung von Mileuschutzgebieten in Nord-Neukölln abgestimmt, der bereits Ende Mai im Stadtentwicklungsausschuss beraten wurde. „Wir bleiben unserer Linie treu: Wir lehnen den Milieuschutz ab!“, fasste Daniel Dobberke die Position der Neuköllner CDU zusammen. Die einzig wirksamen Mittel, hob deren Fraktions-vorsitzender Gerrit Kringel hervor, seien Wohnungsneubau und die Mietpreisbremse des Bundes, die im Land Berlin gerade umgesetzt worden sei. Tom Küstner vom Mietenbündnis Neukölln, der den Einwohnerantrag noch einmal vor der BVV begründete, forderte ein Primat der Politik gegenüber den Wirtschaftsinteressen der Immobilienbranche, auch unter Berufung auf Artikel 28 Absatz 1 der Berliner Verfassung, wo festgesetzt ist: „Das Land fördert die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum, insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen.“ Anne Helm von der Piraten-Fraktion erinnerte daran, dass der Anteil des Einkommens, der für die Miete ausgegeben werden müsse, beständig steige. Auch nehme die Überbelegung von Wohnungen deutlich zu. „Wir müssen jetzt sofort handeln und einen Strauß von Instru- menten anwenden, zu dem der Milieuschutz ebenso wie eine Umwandlungsverordnung gehört“, forderte sie und lehnte weitere „Vor- untersuchungen für Voruntersuchungen“ vehement ab. Der SPD-Verordnete Michael Morsbach sah dagegen die Lage weniger dramatisch, warb für Milieuschutz mit Augenmaß und die Annahme des von seiner Partei beantragten Zeitplans für Milieuschutzgebiete: „Wir haben viel städtischen und genossenschaftlichen Wohnungsbau in Neukölln und die Mietpreisbremse des Bundes gilt seit 1. Juni in Berlin.“ In Abgrenzung zum Mietenbündnis erklärte er weiter, dass Neukölln nicht nur eine Arme-Leute-Gegend sei, sondern der Bezirk immer auch die Heimat von Facharbeitern und Arbeitern mit gutem Einkommen gewesen ist. Grundsätzlich
unterstrich er jedoch: „Wir sagen ganz klar: Wir wollen die Menschen nicht verdrängen.“ Der Grünen-Bezirksverordnete Jochen Biedermann befürchtete indes, dass die Verwaltung den Zeitplan nur „mit Schneckentempo in Zeitlupe“ aufstellen werde, denn der politisch verantwortliche Bezirksstadtrat Blesing (SPD) habe nie ein Hehl aus seiner ablehnenden Haltung gegen den Milieuschutz gemacht. Auf Nachfrage der SPD-Verordneten Mirjam Blumenthal räumte Biedermann ein, dass er kein Misstrauen in Blesings Arbeit als Stadtrat habe, aber „in der Tat habe ich die Befürchtung, dass er bei Prüfung des Milieuschutzes für einen maximal langen Zeitraum sorgt. Ich befürchte das Schlimmste.“ Am Ende der Diskussion wurde der SPD-Antrag bei Enthaltung von Grünen, Piraten und Linken nur mit den Stimmen der SPD angenommen – der
Zählgemeinschaftspartner CDU stimmte dagegen.
Als vertagte Vorgänge vorheriger Sitzungen standen schließlich auch noch die Themen Islamismus-Prävention in der Jugendarbeit und Maßnahmen gegen religiös motivierte Radikalisierung in Neukölln auf der Agenda. Der Jugendhilfeausschuss-Vor- sitzende Christopher Förster (CDU) wollte wissen, wie der Bedarf für Programme eingeschätzt wird, die Kinder und Jugendliche vor radikalen islamistischer Einflussnahme schützen. Jugendstadtrat Falko Liecke (CDU) antwortete, dass es zwar bereits eine Vielzahl an Präventionsmaßnahmen gebe, gleichwohl ein dringender Bedarf bestehe, diese Angebote nicht nur temporär, sondern langfristig und konstant vor- zuhalten, was aber eine gesicherte Finanzierung, die nicht allein aus dem Haushalt seines Ressorts sichergestellt werden kann, erfordere. Vielmehr, so Liecke, seien auch die Berliner Bildungs- sowie die Integrationsverwaltung in der Verantwortung. Ob- wohl mit Ausnahme der Linken alle Fraktionen für Maßnahmen gegen religiös motivierte Radikalisierung stimmten, waren die Erwartungen der verschiedenen Fraktionen an diese Maßnahme und die Beurtei-lungen teils sehr unterschiedlich. Während beispiels- weise Förster beklagte, dass sich in Berlin geborene Schulkinder aus Zuwandererfamilien bei einem Workshop nicht klar dazu bekennen konnten, dass sie Deutsche seien, interpretierte Anne Helm dieses Verhalten als „natürliche Reaktion auf täglich erfahrene Ausgrenzung“. Die Integrations-Debatte wird Neukölln also erhalten bleiben, egal ob Betül Ulusoy ihre Ausbildung im Bezirk nun antritt oder nicht. Am Mittwochabend hatte sie auf das Angebot des Bezirksamtes jedenfalls noch nicht geantwortet. Inzwischen hat sie den eingeräumten Termin, für die Stelle zuzusagen, verstreichen lassen.
=Christian Kölling=
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