Autofahrer, die gestern Mittag vom Richardplatz in die Richardstraße abbiegen wollten, hatten Pech. Auch in
umgekehrter Richtung gab es für sie kein Durch-kommen. Denn die Straße, die seit einiger Zeit keine Großbaustelle mit Schika- nen für Fußgänger und
den rollenden Verkehr mehr ist, war gesperrt – um am 20. Jahrestag der Städtepartnerschaft von Prag und Berlin ihre Neu- eröffnung zu feiern. „Neueröffnung des Böhmischen Dorfes“ hieß es gar in den Einladungen. Außerdem war davon die Rede, dass die elfte Generation von Nachfahren böhmischer Einwanderer das historische Böh- misch-Rixdorf nach dessen Umbau und Neugestaltung übernehme. Formulierungen, die alle, die lange nicht mehr in dieser
Ecke Neuköllns waren, zu falschen Schlussfolgerungen verleiten könnten.
Deshalb vorweg: Es ist nicht so, dass hier alles anders als zuvor aussieht und Dr. Franziska Giffey (r.) für den Bereich zwischen Richardplatz und Jan-Hus-Weg ihre Zuständigkeit als Bezirksbürgermeisterin abgegeben hat. Richtig ist indes: Die Repräsentantinnen der 11. Nachfahrengeneration sind noch einige Jahre von der Volljährigkeit entfernt, und die Richardstraße wurde im Bereich des Böhmischen Dorfs nach historischem Vorbild denkmalgerecht wiederhergestellt. So trete der „Charakter des Dorfes“ wieder deutlicher zutage, hatte der damalige Bezirksbürger-meister Heinz Buschkowsky bereits an- lässlich des ersten Spatenstichs vor knapp drei Jahren angekündigt. Zugleich wurden so aber auch Planungen realisiert, die schon 1988 durch die Bewohner des Kleinods entstanden, das, so Giffey, mit seiner Ruhe, Beschaulichkeit und Friedlichkeit einen beachtlichen Kontrast zur unweit gelegenen, quirligen Karl-Marx-Straße bilde. Die Umgestaltung lasse die Geschichte der böh-
mischen Einwanderer, mit der in Neukölln die „Tradition der Aufnahme von Menschen, die woanders in Schwierigkeiten sind“ begann, wieder aufleben.
Auch die Prager Oberbürgermeisterin Adriana Krnáčová (l.), die zunächst gestehen musste, zwar schon einige Jahre in Berlin gelebt zu haben, aber noch nie im Böhmischen Dorf gewesen zu sein, betonte in ihrer Rede die positiven Effekte von Zuwanderung: „Die Menschen können mehr bringen als sie nehmen können.“ Eine, die im Alter von drei Jahren aus der Türkei nach Berlin kam, ist Dilek Kolat (r.). Inzwischen ist sie Integrations-Senatorin und stellvertretende Berliner Bürgermeisterin. Die Stadt habe eine lange Geschichte der Einwanderung und „das Böhmische Dorf ist die Keimzelle der deutsch-tschechischen Beziehungen“, untermauerte sie, hocherfreut darüber, dass die Städtepartnerschaft von der jungen Generation weitergetragen werde.
Es waren Antonia, Louise, Philina und Emma (v. l.) aus den Exulanten-Familien Polinna und Motel, die an der Seite von Neuköllns Baustadtrat Thomas Blesing, den Worten Taten folgen ließen: In traditionellen Festtagstrachten der böhmischen Einwan- dererinnen, die bis in die 1970er Jahre beim Kirchgang, heute aber nur noch zu besonderen Anlässen getragen werden, durchschnitten sie das über die Richard- straße gespannte Flatterband und machten so den Weg für einen Rundgang durch ihr Dorf frei. Der begann im Comenius-Garten, wo unter der Leitung von Henning
Vierck (l., neben Adriana Krnáčová), der auch als „Bot- schafter des Böhmischen Dorfs“ gilt, seit genau 20 Jahren „Comenius‘ Gedanken zu Toleranz und Menschlichkeit für alle erlebbar“ werden. Zahlreiche Kinder aus der Nach- barschaft finden in dem philosophischen Garten täglich einen Schutzraum zum Spielen und Entdecken; Erwach- sene nutzen ihn für eine Auszeit vom Alltag.
Während die grüne Oase von den Umge- staltungen unberührt blieb, wurde außerhalb des Zauns kein Stein auf dem anderen gelassen. Die Fahrbahn, die in den letzten Jahrzehnten zum Flickenteppich aus Pflas-tersteinen und Teerfladen wurde, erhielt eine Großsteinpflasterung. Die einst unebenen und für Nutzer von Rollatoren nicht ungefährlichen Gehwege wurden verbreitert und sind durch eine Kombination aus Platten und Mosaikpflaster nun wieder wurden unfallfrei nutzbar. Und die Be- leuchtungssituation in der Richardstraße wurde durch eine Neuausrichtung der Schinkel-Laternen optimiert. Besonders auffällig sind die Veränderungen aber vor dem Kirchsaal der Evangelisch-reformierten Bethlehemsgemeinde: Hier wurde nach
historischem Vorbild wieder ein Staketenzaun installiert, hinter dem ein Vorgarten angelegt werden soll. Zudem ist der Bürgersteig vor dem Haus abgesenkt worden. Was jedoch in der Straße nicht realisiert werden konnte, ist die Pflanzung neuer Bäume: Die botanische Anpassung an die früher vorherrschende Optik, als Linden vor den Gehöften standen, wird durch unterirdische Versorgungsleitungen verhindert.
Durch den nach dem tschechischen Reformator Jan Hus, dessen Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen sich in diesem Jahr zum 600. Mal jährt, benannten Weg zwi- schen Richardstraße und Kirchgasse ging es zum Ausklang in den Betsaal der Evan-
gelischen Brüdergemeine. Der Saal sei Ausdruck des Glaubens und symbolisiere, dass innere Stärke mit Offenheit korrespondiere, erklärte Pfarrer Christoph Hartmann bevor er den vielen dankte, „die im Böhmischen Dorf über die Jahrzehnte Ge- schichte mitgestaltet haben.“
Weitere Veranstaltungen zum Jan Hus Jahr in Neukölln:
13. Juni, 15 – 18 Uhr: Vortrag von Prof. Dr. Joachim Köhler und Pfarrer Dipl. Päd. Dr. Manfred Richter zum 600 Jahr-Gedenken an die Hinrichtung von Jan Hus (Saal der Ev. Brüdergemeine Berlin, Kirchgasse 17)
14. Juni, 10.30 – 14 Uhr: Film und Vorträge „Jan Hus, Tschechen und Deutsche. Zum 600. Todestag des böhmischen Kirchenreformators.“ (Pas- sage-Kino, Karl-Marx-Straße 131; Eintritt: 6 Euro)
5. Juli, 19 Uhr: Sommerkonzert – im Gedenken an Jan Hus (Saal der Ev. Brüdergemeine Berlin, Kirchgasse 17)
7. November, 19.30 Uhr: Oratorium „Johann Huss“ von Carl Loewe (Mag- dalenenkirche, Karl‐Marx‐Straße 201)
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