Morgen geht für die Zweitklässler der Richard- und der Sonnen-Grundschule eine ganz besondere Schulwoche zu Ende. Eine, in der sie drei Tage vom Norden in den Süden Neuköllns gefahren sind, um im Kombibad Gropiusstadt etwas zu lernen, was viele ihrer Eltern
nicht können: sich über Wasser halten. „Ich bin die Einzige in meiner Familie, die schwimmen kann“, erzählt ein Mädchen, dass so nass wie stolz auf einem Startblock am 50 Meter-Becken sitzt, das sie gerade durchquert hat. Morgen wird sie es wieder tun und anschließend die Neuköllner Schwimmbär-Urkunde nebst -Anstecknadel sowie eine kleine Über- raschung für ihre Leistung und ihren Mut erhalten, sich dem Element, das keine
Balken hat, zu stellen. Bis Mitte Juli sind es knapp 500 Kinder von 11 Neuköllner Schulen, die durch das Pilotprojekt auf den regulären Schwimmunterricht in der 3. Klasse vorbereitet werden.
Schirmherrin der Initiative, die dazu beitragen soll, dass „perspektivisch alle Neuköllner Kinder beim Übergang in die 4. Klasse wirklich schwimmen kön- nen“, ist Dr. Franziska Giffey (r., neben Berliner Bäderbetriebe-Pressesprecher Matthias Oloew). „Da- von sind wir heute leider noch weit entfernt“, muss die Bezirksbürgermeisterin einräumen: Während in Pan- kow nur 6,1 Prozent der Drittklässler das Schuljahr 2012/2013 mit nicht ausreichenden schwimmerischen Fähigkeiten abschlossen, waren es in Neukölln 40,2 Prozent – und damit mehr als doppelt so viele wie im berlinweiten Durchschnitt. Eine Zahl, die alarmierte und dazu veranlasste, mit Mitteln aus dem Senats-Bonus-programm für Schulen in schwieriger Lage, vom Bezirks- amt Neukölln, der Leffers-Sportstiftung Neukölln sowie dem Rotary Club Berlin-Alexanderplatz den Neuköllner
Schwimmbär zu initiieren.
Als „Juwel unter vielen Projekten, die ich von meiner Vorgängerin erben durfte“ bezeichnete denn auch Jan-Christopher Rämer (r.) die Maßnahme, mit der „kein Grundstein für sportliche Höchstleistungen, sondern für die Überlebens- und Kulturtechnik Schwimmen“ gelegt werden soll. Als er Ende der 1980er Jahre zur Grundschule ging, so Neuköllns neuer Bildungs-, Schul- und Sportstadtrat, sei es ganz normal gewesen, dass alle schwimmen konnten. Heute hingegen sind es durchschnittlich gerade mal zwei Kinder, die sich schon ohne Schwimmhilfen über Wasser halten können, wenn sie in die 3. Klasse kommen, berichtet eine Sportlehrerin der Richard-Grund-
schule.
Es waren Daniela von Hoerschelmann (r.) und Nicole Hilarius, die das Neuköllner Schwimmbär-Projekt konzeptioniert haben. Beide sind Schwimmtrainerinnen bei der SG Neukölln und davon überzeugt, dass das gemeinhin praktizierte Schwimmenlernen im Nichtschwimmerbecken nur bedingt effektiv ist: „Das Besondere hier ist, dass wir mit den Kindern gleich ins Tiefwasser gehen, wo sie sofort ganz anders konditioniert werden, weil sie nicht stehen oder laufen können.“ Funktionieren könne das allerdings nur, wenn ausreichend Trainer mit im Wasser sind und die akribisch auf die individuellen Befindlichkeiten ihrer meist zunächst extrem ängstlichen Schützlinge achten: Vier kommen beim Neuköllner Schwimmbär auf bis zu 25 Kinder, die wiederum „alles haben, aber auch alles ablegen können, was ihnen hilft und Sicherheit gibt“. Poolnudeln, Gurte und Schlori-Schwimmkissen gehören ebenso zum Standard wie die Gewissheit, dass jeder fürs Gleiten ins Wasser die Zeit bekommt, die er
braucht. „Wir wollen“, so Daniela von Hoerschelmann, „den Kindern in den sechs Schwimmeinheiten an ihren drei
Projekttagen einfach eine tolle Erfahrung im Wasser ermöglichen, und dass wir das jetzt umsetzen können, freut mich wahnsinnig.“ Nicht zuletzt, weil die Resonanz der Schulen genau wie die der Kinder äußerst positiv sei. Die meisten von ihnen hätten das Wassergewöhnungsprojekt am Vortag ohne Tiefwassererfahrungen begonnen, so
die Trainerin. Schon am zweiten Tag war von Ängsten nichts mehr zu spüren.
Auch Marco Guhl (l.), Neuköllns Schulsportleiter, ist voll des Lobes. „Das Projekt“, findet er, „stellt eine bahnbrechende Entwicklung dar.“ Der Normalfall sei, dass Kinder, denen die Primärerfahrung Wasser fehlt, das Untertauchen als Risiko erleben. Durch die intensive Betreu- ung könne das behoben werden: „Anders als beim Schulschwimmen, wo ein Lehrer auf 12 bis 15 Schüler kommt.“
Woran aber liegt es nun, dass Neuköllns Kinder bei der Schwimmfähigkeit die Laterne haben? An einer erhöhten Unterrichts-ausfall-Quote jedenfalls nicht, versichert Guhl. Die unterscheide sich nicht von anderen Bezirken. „Die Entwicklung hat mit der sozialen Situation zu tun. Und damit, dass viele Eltern überfordert sind und ihre Kinder auch an anderen Stellen nicht ausreichend unterstützen“, sagt Franziska Giffey. Dazu komme, dass die Schwimm- kultur in den Familien, unabhängig vom Kulturkreis, nicht mehr verankert sei: „Des- halb müssen wir als Bezirk Aufholarbeit leisten und Ausfallbürgen sein.“ Einen weiteren Grund ergänzte Matthias Oloew. „Wir glauben, dass unsere Bäder nicht mehr so attraktiv sind, dass in ihnen die Wassergewöhnung als Normalfall stattfin-
det“, meinte der Pressesprecher der Berliner Bäderbetriebe, die das Projekt durch ein reduziertes Nutzungsentgelt für das Kombibad Gropiusstadt unterstützen. Es ist auch eine Investition in die Zukunft, denn „nur wer schwimmen kann, wird später auch unser Kunde.“
Der Neuköllner Schwimmbär ist ein erster Schritt zum Schwimmen, doch davon, schwimmen zu können, sind die Mädchen und Jungen nach ihren Projekttagen noch einiges entfernt. Folglich bescheinigt die Urkunde den Eltern auch nur, dass die Kinder wichtige Fähigkeiten im Wasser erlernt haben. „Bitte lassen Sie Ihr Kind weiterhin nicht allein oder unbeaufsichtigt ins Wasser!“, heißt es auf der außerdem.
=ensa=
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