21 Milieuschutzgebiete in Berlin, keines davon in Neukölln

milieuschutz-kundgebung_rathaus neuköllnDas Bündnis bezahlbare Mieten und die Kiezgruppe des Mietenvolksentscheids hatten vorgestern Nachmittag zur Kundgebung vor dem Neuköllner Rathaus aufgerufen. Hinter- grund des Protests: Anfang September 2014 war der Einwohnerantrag „Milieuschutzgebiete für Neukölln“ gestartet worden, und im Januar diesen Jahres konnte die Initiative 3.500 Unterschriften an Bezirksverordnetenvorsteher Jürgen Koglin (SPD) übergeben. Nachdem die Zulässigkeit des Antrages überprüft worden war – 77 Prozent der gesammelten Unterschriften waren gültig und die erforderliche Anzahl von mindestens 1.000 Unterschriften war damit deutlich überschritten – wurde der Einwohnerantrag auf der Bezirksverordnetenversammlung am 25. März als Drucksache 1243/XIX wie jeder gewöhnliche BVV-Antrag einer Fraktion beraten. Am kuestner_kahlefeld_milieuschutz-kundgebung neuköllnEnde der Debatte war der Einwohnerantrag mit den Stimmen aller Fraktionen in den Stadtentwicklungs-Ausschuss überwiesen wor- den, wo er nach der Kundgebung diskutiert wurde.

„Ich hoffe, dass die neue Bezirksbürgermeisterin das Milieu in Neukölln endlich für schützenswert erach- tet“, wünschte sich Dr. Susanna Kahlefeld (r.), Neu- köllner Wahlkreisabgeordnete der Grünen, die wie einige andere zum Zeichen des Protestes als Haus verkleidet auf dem Rathausvorplatz stand. „Milieu-schutzgebiete sind in allen anderen Berliner Bezirken mit vergleichbarer Sozialstruktur längst üblich“, fügte die Landespolitikerin hinzu. Tom Küstner (l. neben Kahlefeld), eine der drei Vertrauenspersonen des Einwoh- nerantrags, kritisierte Teile der Immobilienbranche, die nur schnell und billig sanieren würden, aber kein Interesse an Wohnraumverbesserung hätten, sondern nur ein einträgliches Geschäft auf Kosten der Mieter suchten. „Selbst Familien als Doppelverdiener können sich keine neue Wohnung mehr leisten“, kommentierte er den rasanten Anstieg der Angebotsmieten, der innerhalb der letzten fünf Jahre im lenz_milieuschutz-kundgebung neuköllnNeuköllner Norden zwischen 70 und 89 Prozent lag.

Pater Kalle Lenz (r.) aus der katholischen St. Christo- phorus-Gemeinde im Reuterkiez sagte: „Ich bin vor das Rathaus gekommen, weil ich direkt mitkriege, wie die Leute im Kiez keine Wohnung mehr bekommen und wie Verdrängung stattfindet.“ Eine Anwohnerin aus der einst verrufenen Emser Straße, die sich als Emserianerin vorstellte, klagte: „Ich wohne seit 27 Jahren in der Emser Straße. 22 Jahre lang hat mich niemand besucht. Früher fuhrmann_milieuschutz-kundgebung neuköllnwollte keiner hier wohnen, heute wollen hier alle kaufen!“

Marlis Fuhrmann (l.), Bezirksverordnete der Linke-Fraktion, wies in ihrer Rede darauf hin, dass von 21 Milieuschutzgebieten in Berlin kein einziges in Neukölln liege und vermutete, es gebe in Neukölln vielleicht zu viele Bezirks-politiker, die denken würden: „Ein bisschen Verdrängung, da kann ich gut mit leben!“ Jochen Biedermann (r.) von den Neuköllner Grünen biedermann_milieuschutz-kundgebung neuköllnerinnerte schließlich daran, wie lange die Oppositionsparteien vergeblich versucht hätten, den Milieuschutz auf die Tagesordnung der BVV zu setzen. „Wir wurden anfangs in die Nähe von Steinewerfern gestellt“, empörte sich der Vorsitzende des Stadtentwicklungs-Aus- schusses zunächst, endete aber mit einem großen Kompliment an die Initiatoren des Einwohnerantrages: „Ich danke dem Mietenbündnis, dass es das Thema Milieu- kein aufwertungsgebiet_milieuschutz-kundgebung neuköllnschutz so gut in die Öffentlichkeit gebracht hat.“

Äußerst sachlich verlief anschließend die Anhörung der drei Vertrauenspersonen des Einwohnerantrags im Stadtentwicklungsaus- schuss der BVV. Knapp 50 Gäste, die zuvor an der Protestkundgebung teilgenommen hatten, waren zu ihr ins Cigli-Zimmer des Rathauses gekom- men. Willi Laumann vom Mietenbündnis Neukölln präsentierte zur Mietenenentwicklung mehrere Folien auf der Leinwand. Eindringlich warnte der Mieten-Experte: „Wir müssen alles tun, damit Neuköllner, die nur in der Lage sind, geringe Mieten zu zahlen, weiterhin im Bezirk bleiben können.“ In den vergangenen Jahren wären einkommensarme Menschen in den Südosten der Sonnenallee ausgewichen. Die High-Deck-Siedlung und die Weiße Siedlung seien aber inzwischen vollbelegt. Jetzt wolle der Bezirk diese Siedlungen ebenfalls aufwerten, weil arme Menschen grundsätzlich als Problem angesehen würden, ohne nach den sozialen Hintergründen und Ursachen ihrer Armut zu fragen. „Eine zynische Haltung!“, kritisierte Laumann scharf. Auch Michael Anker, dritte Vertrauensperson des Einwohnerantrages, wies darauf hin, dass Neukölln historisch gesehen ein Bezirk für Menschen mit geringem Einkommen an der Grenze zur Armut oder darunter ist. „Es gab in Neukölln schon immer Leute, die nur wenig Geld hatten. Auch ich gehöre zu denen mit geringem Einkommen“, bekannte Anker. „Ich möchte trotzdem mietwucher stoppen-transparent_milieuschutz-kundgebung neuköllnwie bisher in meinem Kiez am Richardplatz wohnen bleiben und ich will nicht nach Hellersdorf oder Marzahn umziehen müssen!“

Die Zählgemeinschaft von SPD und CDU lehnte erwartungsgemäß den Einwohner-antrag des Mietenbündnisses ab. Während sich die CDU-Fraktion des Bezirks eindeutig gegen soziale Erhaltungssatzungen aus- sprach, war die Haltung der SPD diffenzierter: Seit der bei ihrer Klausurtagung im September 2014 beschlossenen wohnungspolitischen Kehrtwende plädiert die Neuköllner SPD für einen Milieuschutz mit Augenmaß im Reuter- und Schillerkiez. Die BVV-Fraktion der SPD legte am Ende der Anhörung als eilig erstellte Tischvorlage einen Antrag unter der Überschrift „Zeitplan für Milieuschutzgebiete“ vor. Darin heißt 150527 PM SPD Neukoelln bringt weitere Milieuschutzgebiete in Nord-Neukoelln auf den Weges: „Das Bezirksamt wird gebeten, falls sich aufgrund der Ergebnisse der Untersuchung im Reuterkiez die Einrichtung eines Milieuschutz- gebietes abzeichnet, einen Zeitplan für weitere Untersuchungen vorzulegen. Der Zeitplan soll darlegen, wann im Anschluss an die Unter-suchung im Reuterkiez in welchen weiteren Gebieten in Neukölln eine vorbereitende Unter- suchung zum Milieuschutz durchgeführt wird. Das Bezirksamt wird gebeten, diesen Zeitplan dem Ausschuss für Stadtentwicklung bis zum Ende des 3. Quartals 2015 vorzulegen.“ Der Antrag wurde gegen die Stimmen der CDU und bei Enthaltung von Grünen, Piraten und Linken auftakt berliner mietenvolksentscheid_neuköllnallein mit den Stimmen der SPD im Ausschuss angenommen.

„Wir müssen weiter Druck machen, damit die Politik auf unsere Sorgen reagiert“, kommentierte ein Mietenaktivst das Ergebnis und warb dafür, die Unterschriftenliste für den gerade angelaufenen Ber- liner Mietenvolksentscheid zu unterschreiben: „Denn Milieuschutz ist kein Allheilmittel. Wir brauchen eine bessere Mieten- und Wohnungspolitik.“

=Christian Kölling=

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