„Ick bün all hier!“ Wer das 175 Jahre alte Märchen vom Hasen und dem Igel in die Gegenwart adaptieren, den Ort der Handlung nach Neukölln verlegen und deshalb die Rolle des Igels neu besetzen will, hat mit Dr. Franziska Giffey die ideale Protagonistin. Neuköllns Bürgermeisterin ist so allgegen-wärtig, dass leicht der Verdacht aufkommen kann, sie habe sich klonen lassen.
Gestern war es der AG 60plus-Aktionstag der Berliner SPD, der zwischen anderen Terminen einen Platz in ihrem Kalender fand. Dass dieser in der Nähe des Rathauses auf dem Alfred-Scholz-Platz stattfand, dürfte Giffey schon aus praktischen Erwägungen gut gepasst haben. Dass über der Veranstaltung zwar „Gedenken an 70 Jahre Kriegsende und Befreiung vom Nazi-Terror“ stand, Moderator Alexander Kulpok aber in den Talkrunden mit Neu- köllns SPD-Politikern seine verbalen Vorlagen konsequent in Richtung Wahlkampf kickte, garantierte denen einen Nachmittag in der Komfortzone.
Zuerst bat Kulpok die drei Abgeordnetenhaus-Mitglieder Joschka Langenbrinck (l.), Erol Özka- raca (2. v. r.) und Kirsten Flesch auf die Bühne. Flüchtlinge seien keine bösen, sondern arme, verfolgte Menschen, die hier nun unter der „Überforderung einer Behörde“ zu leiden hätten, kritisierte Letztere, die abschließend auch noch kurz vom von ihr initiierten Arbeitslosenfrühstück im Reuterkiez erzählen durfte. Inzwischen, berichtete Kirsten Flesch, gebe es diese Veranstaltung seit 15 Jahren und sie finde schon deshalb großen Anklang, weil die Arbeitslosen nicht mit politischem Smalltalk überschüttet würden, sondern außer dem Frühstück auch praktische Hilfe bekämen. Eine andere Art von Hilfe brachte Erol Özkaraca mit dem in dieser Woche vorgestellten Neuköll- ner Pilotprojekt „Staatsanwaltschaft für den Ort“ ins Spiel. Damit solle es gelingen, Jugend- liche zu sondieren, die mehr kriminelle Energien haben. Dass es im Bezirk Voraussetzungen gebe, die ein Abrutschen in die Kriminalität begünstigen, könne man nicht wegreden. Doch das habe nichts mit der Abkunft der Delin-quenten zu tun, sondern mit vorherrschenden sozialen Strukturen. Kein neues Phänomen, wie Özkaraca betonte: „Die Kriminalität war in sozialen Brennpunkten immer höher, und um daran etwas zu ändern, muss nicht nur die Justiz etwas tun, sondern es muss auch Prävention greifen.“ Bildung helfe, Gewalt und Kriminalität einzudämmen, spielte Kulpok, dessen schulische Laufbahn 1945 in Neukölln begann, Joschka Langenbrinck an. Bildung sei in der Tat und obwohl das abge- droschen klinge, der Schlüssel für den sozialen Aufstieg: „Deshalb setzen wir uns
für kostenlose Bildung von Anfang an ein und arbeiten daran, dass mehr Kita-Plätze in sozialen Brennpunkten entstehen.“
Daran konnte Franziska Giffey nach dem musikalischen Intermezzo der Berliner Klez- mer-Pop-Ska-Band Di Grine Kuzine direkt anschließen. „In Neukölln fehlen 1.000 Kita-Plätze, weil wir nicht genügend Erzieherinnen haben“, betonte sie, und das sei vor allem für Kinder schlecht, die „nicht im Wohlstandsnest liegen“. Mit dem Thema Flücht- linge und der Überzeugung, dass denen „nicht nur Betten, sondern auch Perspektiven“ zu bieten seien, sprach die seit drei Wochen amtierende Bezirksbürgermeisterin eine weitere Problematik an, die auf landes- oder bundes- politischer Ebene gelöst werden muss, weil „wir es uns nicht leisten können, alle im im Sozial- leistungsbezug zu haben“. Neukölln sei nach Heinz Buschkowsky mit Franziska Giffey „gut bedient“, fand Alexander Kulpok noch bevor die Bürgermeisterin von innovativen Lösungen für viele Probleme und der Lage des Bezirks im Herzen Europas gesprochen hatte. „Der Ausgang der Wahl in Großbritannien besorgt mich“, kommentierte Giffey den haushohen Sieg der konservativen Tories, wobei man allerdings beachten müsse, dass auf der Insel ohnehin „ein anderes Europagefühl“ herrsche. Die Briten seien zwar sehr gut bei der EU-Fördermittelakquise, sonst aber
an Europa kaum interessiert, hielt die ehemalige Europabeauftragte Neuköllns fest.
Mit Themen, die die Gemüter der Wähler bewe- gen, konfrontierte Kulpok schließlich auch die SPD-Bezirksstadträte Jan-Christopher Rämer (l.) und Thomas Blesing (r.). Erster, der vor drei Wochen das Ressort Bildung, Schule, Kultur und Sport von Dr. Franziska Giffey übernahm, unterstrich, dass nur wenige der 62 bezirklichen Schulen im Zusammenhang mit der aktuellen Schultoiletten-Diskussion im Licht der Öffentlichkeit stünden: „Wenn etwas rund läuft, interessiert das eben auch niemanden, und die Aufgabe von Kommu- nalpolitik ist, dass Dinge rund laufen.“ Entsprechend bemüht sei der Bezirk, die Schulen zum gebundenen Ganztagsbetrieb auszubauen; bei zweien werde das bereits zum nächsten Schuljahr realisiert. Unrund läuft derzeit auch in Blesings Zuständigkeitsbereich Bauen, Natur und Bürgerdienste manches. Zumindest, was den Aspekt der hoffnungslos überlaufenen Bürgerämter betrifft, konnte der Stadtrat jedoch Verbesserungen in Aussicht stellen: Künftig dürften die Neuköllner hoffen, gegenüber Kunden anderer Bezirke bevorzugt behandelt zu werden und „einen recht nahen Termin“ zu bekommen. „Mit diesem Modell“, ist Blesing überzeugt, „werden wir wieder Pluspunkte bei den Neuköllnern sammeln.“
Fast am Ende des Aktionstag-Nachmittags, als sich der Alfred-Scholz-Platz schon deut- lich geleert hatte, ging es dann aber doch noch mit Zeitzeugen um das Kriegsende am 8. Mai 1945. Davon bekamen die Neuköllner SPD-Politiker aber nichts mehr mit. Joschka Langenbrinck war zum Stolpersteine-Putzen, andere ins Wochenende geeilt und Franziska Giffey von ihrem Fahrer abgeholt worden.
Heute guckt sich die Bezirksbürgermeisterin zusammen mit ihrem Neffen Niels, einem Berliner Profi-Basketballer, in der Max-Schmeling-Halle das ALBA-Grundschul- liga-Finale an, an dem auch sieben Neuköllner Grundschulen teilnehmen. Nächsten Montag stehen anlässlich des Tags der Kinderbetreuung Kita-Besuche auf dem Programm, und Dienstag kommt Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem EU- Projekttag nach Neukölln. Franziska Giffey ist schon hier.
=ensa=
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