„Wir haben nicht mehr viel Zeit, aber genug, um ein paar Dinge zu bewegen“, stellte Dr. Franziska Giffey gestern Vormittag gleich zu Beginn ihrer ersten Pressekonferenz als Bezirksbürgermeisterin von Neukölln fest. Kurz vorher hatte sie eine weitere Premiere ihrer heute einwöchigen Amtszeit hinter sich gebracht: die Leitung der dienstäglichen Sitzung des Bezirksamtskollegiums.
Die Zeit sitzt der neuen Rathaus-Chefin im Nacken, denn bereits im Herbst kommenden Jahres werden die Wähler an die Wahlurnen gerufen, um über die Konstellation der Neuköllner Bezirksverordnetenver- sammlung bis 2021 zu entscheiden. Dass Giffey ohne die Stimmen der Linke-Frak- tion, eines Mitglieds der Piratenpartei sowie zweier Maulwürfe in der SPD-CDU-Zählgemeinschaft zu ihrem Amt kam, erhöht den Druck. Zumal da ja auch noch Jugend- und Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) ist, der sich bereits warmläuft, um 2016 den Sprung vom stellvertretenden Bezirksbürgermeister zum Neukölln-Oberhaupt zu schaffen.
„Was bis zum Ende der Wahlperiode erreicht werden soll“, steht folglich unter dem nun ausgerufenen Neukölln-Programm von Franzis- ka Giffey. Neu, sagt sie, sei die Ausrichtung nicht. Neu ist aber, dass mit dem Papier ein poin- tierter Maßnahmen- und Forderungen-Katalog vorliegt, der einerseits als To Do-Liste taugt, andererseits aber auch als Skala, an der die Bezirksbürgermeisterin ihre Politik messen lassen muss. Wobei die Ausgabenstruktur des Bezirkshaushalts, der zu 74 Prozent Transfer- und Sozialleistungen begleicht, nur wenig Spielräume eröffnet. „Daher“, so Giffey, „setzen wir auf die Akquise von Fördermitteln vom Land, Bund und der EU.“ Realisiert werden solle das durch eine engere Zusammenarbeit zwischen der Europa-beauftragten und der Wirtschaftsförderung.
Ein „Schlüsselthema für die Bezirksentwicklung“ ist der Bereich Bildung. Denn attraktive Schulangebote sind Faktoren, die darüber entscheiden, ob Familien auch dann in Neukölln bleiben, wenn ihre Kinder ins schulpflichtige Alter kommen. „Der Ganztagsschulbetrieb wird weiter ausgebaut“, kündigt Franziska Giffey an und verweist darauf, dass die Umstrukturierung in der Richard- und der Silbersteinschule noch in diesem Jahr umgesetzt werde. Zudem würden 80 Prozent der Bezirkshaushaltsmittel für bauliche Unterhaltung in die Toilettensanierung in sieben Schulen fließen und energeti- sche Sanierungen und Brandschutzmaßnahmen bewerkstel- ligen. Ein Novum sind indes Bemühungen des Bezirks, mit einem speziellen Programm die Schwimmfähigkeit von Schulkindern zu verbessern. Der aktuelle Zustand, der Neukölln die Laterne im Bezirke-Ranking beschert, sei nicht länger hinnehmbar: „In Kooperation mit der SG Neukölln
haben wir das Wassergewöhnungs- projekt ‚Neuköllner Schwimmbär‘ initiiert, das Zweitklässler auf den Schwimmunterricht in der 3. Klasse vorbereitet.“ So gleiche der Bezirk auch in diesem Bereich etwas aus, was innerhalb der Familien nicht geleistet werde. Selbiges gelte beim Aspekt der Jugendarbeitslosigkeit. In der Sonnenallee solle, hofft Giffey, 2016 eine Jugendberufsagentur entstehen, die Schulabsolventen zu Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen verhilft. Das Problem vieler sei ja, dass sie von ihren Eltern keine Orientierungshilfen erwarten könnten, wenn diese von Transferleistungen leben.
Nicht nur Probleme, sondern vor allem Potenziale sieht Neu- köllns neue Bürgermeisterin in der Wirtschaft des Bezirks: „Die Kreativwirtschaft und Tourismus-Industrie voranzutreiben, ist ein Schwerpunkt, und ein Schlüssel- projekt ist die Entwicklung der Karl-Marx-Straße.“ Gleichwohl muss auch Rolf Groth (l.), der Leiter des Stadtentwicklungsamts, zugeben, dass hier vieles noch Zukunfts- musik ist. Beispiel: die seit Jahren leer- stehenden Immobilien Alte Post und das C&A-Gebäude. Von einem „abgestimmten Ansiedlungsmanagement“, das dort betrie- ben werden solle, ist im Neukölln-Programm 2015/2016 die Rede, und auch Groth ist
bemüht, Optimismus zu verbreiten, indem er die bei- den Immobilien nicht Problemkinder, sondern Hoff- nungsträger nennt. Aber seine Ausführungen, die Wendungen wie „sehr viele Ideen“, „Denkmalschutz“ und „Suche nach adäquaten Nutzern ist schwierig“
dominieren, lassen doch eher vermuten, dass die Füße der Problemkinder einen weitaus stabileren Halt haben.
Geduld ist auch in puncto Bürgeramt gefragt – insbesondere bei denen, die es aufsuchen. Lange Warteschlangen sind die Regel in der Donaustraße, ebenso normal ist, dass 40 Prozent der Wartenden aus anderen Berliner Bezirken kommen. „Normal wären 20 Prozent“, sagt Franziska Giffey. Aber normal ist hier nichts mehr, seit sich Neukölln für die andernorts abgelehnte „Sondersituation Spontan- kunden-Abfertigung“ entschieden hat. Diese solle auch unbedingt beibehalten werden, konstatiert die Bürgermeisterin: „Aber ich beabsichtige, dass Neu- köllner Bürger künftig bevorzugt werden.“ Wie das praktisch ablaufen kann, werde derzeit noch diskutiert. Unterm Strich müsse jedoch dringend eine Lösung
seitens des Senats für das Personalproblem im Bürgeramt her. Man sei zwar „froh über die eine Stelle“, die das Land bisher ob des Mehraufwands einrichtete, doch die reiche bei weitem nicht aus.
Während im Bereich Kultur auf Bewährtes gesetzt wird, stehen bezüglich der Sportstätten gleich mehrere Neue- rungen bevor: Eine aktuell im Bau befindliche Dreifeld-Sporthalle an der Hertabrücke soll die Sportkapazitäten in Nord-Neukölln erweitern; die Sanierungsmaßnahmen anderer Sportplätze werden noch in dieser Legislaturperiode angegangen oder abgeschlossen.
Ebenfalls in diesem Jahr, verspricht Giffey, werde auch in Neukölln das Online-Beschwerdemanagement der Berli- ner Ordnungsämter auf den Weg gebracht, um beispiels- weise illegale Müllablagerungen in Zukunft effektiver und schneller durch die BSR abarbeiten zu können. Bereits jetzt wurde indes Giffeys Ambition, mehr Transparenz und Bürgernähe walten zu lassen, aus den Startblöcken gepfiffen: Nur einen Tag nach ihrer Wahl präsentierte sich der Bezirk mit einem neuen Internetportal. Es ist der Anfang der Offensive, ausdrücken zu wollen, „dass wir uns um die Menschen in Neukölln kümmern“. Mit einem regelmäßigen Rathausbrief soll sie fortgesetzt werden. Darüber hinaus hat Franziska Giffey beschlossen, dass die Einbürgerungen fortan wieder Chefsache sind. Das sei ihr sehr wichtig, versichert sie. Müßig sei es dagegen gewesen, ein spezielles Integrationsprojekt in das Neukölln-Programm aufzunehmen: „Wir können gar nicht anders als Integrationspolitik zu machen, wobei das Grundgesetz und die demokratische Werteordnung die Basis sind.“ Die Leute, die hier sind, seien schließlich hier, bringt die Pragmatikerin den Aspekt auf den Punkt. „Da brauchen Sie die Kipp-Frage gar nicht mehr zu stellen!“, erwidert sie, konfrontiert mit der Prognose ihres Amtsvor- gängers, dass der Bezirk angesichts des hohen Migranten-Anteils in absehbarer Zeit kippen werde.
Auch bei einer weiteren Nachfrage zum Thema Heinz Buschkowsky fand Neuköllns erste Bezirksbürgermeisterin unmissverständliche Worte: Sie hätte sich gewünscht, dass er bei ihrer Wahl anwesend ist und deshalb sei er eingeladen gewesen. Aber er habe sich anders entschieden. Nach der Begründung dafür müsse nicht sie, son- dern er selber gefragt werden.
Dr. Franziska Giffeys Neukölln-Programm 2015/2016 ist als pdf-Datei auf der Website des Bezirksamts hinterlegt: http://www.berlin.de/ba-neukoelln/_assets/dokumente/neukoelln-programm-2015-2016.pdf
=ensa=
Filed under: berlin, neukölln | Tagged: bezirksbürgermeisterin neukölln, clemens mücke (wirtschaftsförderung bezirksamt neukölln), dr. franziska giffey (spd neukölln), europa-beauftragte neukölln, falko liecke (cdu neukölln), neukölln, neukölln-programm 2015/2016, puschkin-zimmer (rathaus neukölln), rathaus neukölln, rathausturm neukölln, rolf groth (stadtentwicklungsamt neukölln), sg neukölln, wassergewöhnungsprojekt "neuköllner schwimmbär", wirtschaftsförderung bezirksamt berlin-neukölln |