Den Text hat die Wirklichkeit geschrieben: Premiere von „Ultima Ratio“ im Heimathafen Neukölln

Heimathafen Neukölln_UltimaRatio02(c)VerenaEidelEigentlich hätte die neueste Produktion bereits am vergangenen Freitag uraufgeführt werden sollen. Aber dann entschied man sich im Heimathafen Neukölln drei Tage vor dem geplanten Termin, „wegen kurzfristiger Umbesetzung in der Produktion“ die restlos ausverkaufte Premiere von „Ultima Ratio“ um einen Tag zu verschieben. Das Stück erzählt den Kirchenasyl-Fall des somalischen Ehe- paares Aliyah und Robble in der katholischen St. Christophorus Gemeinde im Neuköllner Reuter- kiez. Nach einer Idee von Lucia Jay von Seldeneck wurde die Leidensgeschichte der beiden Flüchtlinge unter der Regie von Nicole Oder und durch Zeich- nerin Bente Theuvsen zu einer Live Graphic Novel.

Im Studio des Heimathafens steht vorne links ein altertümlicher Overhead-Projektor auf der Bühne. Weiße Lamellen-Vorhänge reichen an allen drei Seiten von der Decke bis zum weiß gestrichenen Bühnenboden. Am Heimathafen Neukölln_UltimaRatio01(c)VerenaEidelProjektor hat Bente Theuvsen mit schwarzer Tusche gerade vier verhüllte menschliche Gestalten auf eine Folie gepinselt, deren Bild an die Stirnseite der Bühne geworfen wird. Neben dem projezierten Bild sitzt die Schauspielerin Tanya Erartsin in ihrer Rolle als Aliyah im weißen Overall am Boden vor dem Vorhang. Nun ist die Zeichnerin dabei, auf der Folie die Burkas der Frauen mit weißen Strichen kunstvoll zu verzieren, was die Zuschauer im gleichen Moment auf der Wand beobachten können. Kurz danach tuscht Theuvsen einen Heimathafen Neukölln_UltimaRatio03(c)VerenaEidelAffenbrotbaum auf eine neue Folie. Aliyah tanzt vor dem Bild mit ihrem Schatten, was auf der Bühne wirkt, als würde sie den gemalten Baum umrunden.

In der kommenden Stunde reiht sich Bild an Bild. Eine Graphic Novel ähnelt einem Comic Strip, nur mit dem Unterschied, dass ihre Geschichte länger ist und einen realistischen Inhalt hat. Richtig lebendig wird das als Live Graphic Novel inszenierte Schauspiel aber erst durch Ton und Licht. Eingangs liest Asylbewerber Robble, der ebenso wie seine Frau im wirklichen Leben einen anderen Namen trägt, selbst einen Text auf Somalisch vor. Die Übersetzung spricht Britta Heimathafen Neukölln_UltimaRatio06(c)VerenaEidelSteffenhagen, die aus dem Off auch alle übrigen Texte vorträgt: „Wir sind nicht bereit, unsere Aufklärung zu opfern …“ und „Das wird man doch noch sagen dürfen“, zitiert sie Volkes- stimme oder gibt mit teils technisch verfremdeter Stimme verschiedene Berichte aus Behörden- schreiben und Krankenakten wider.

Tanya Erartsin, die im Heimathafen bereits die Hauptrolle im Stück „ArabQueen“ spielt, stellt in ihrer Rolle der Aliyah die gesamte Bandbreite im Leben einer Flüchtlingsfrau Heimathafen Neukölln_UltimaRatio07(c)VerenaEideldar. Zusätzlich kann sie in zwei kurzen Szenen als Richter sowie als Pastoralreferentin ihre ganze schauspielerische Vielseitigkeit beweisen.

Aliyah flieht aus Mogadischu über Kenia und den Sudan durch die Sahara nach Libyen und von dort über das Mittelmeer nach Lampedusa. In den Straßen Catanias ist sie obdachlos und vollkommen schutzlos Gewalt und Misshandlungen ausgesetzt. Nach zwei Fehlgeburten flüchtet sie aus Italien zuerst nach Dänemark und später nach Deutschland. Erartsin springt für einen Augenblick in die Rolle des Richters, Heimathafen Neukölln_UltimaRatio05(c)VerenaEidelder feststellt, dass Aliyah zwar unter einem Post Traumatischen Belastungs Syndrom und einer leichten Depression leide, zusammen mit ihrem Mann Robble aber aufgrund des Abkommens Dublin III wieder nach Italien abgeschoben werden könne, weil bei ihr keine Reiseunfähigkeit vorliege. Wenig später schlüpft Tanya Erartsin dann in die ganz entgegengesetzte Rolle der Pastoralreferentin Lissy Eichert, die in der St. Christophorus-Gemeinde die Betreuung des Flüchtlingspaares organisiert, um für das leibliche und seelische Wohl von Aliyah und Robble zu sorgen. Zuvor hatte die Kirchengemeinde am 30. April 2014 per Rundmail über ihr Votum für das Kirchen-Asyl informiert: „Wir haben uns entschieden und nehmen am Donnerstag auf.“ Für Erartsins Auftritt als Pastoralreferentin, der mit dem Ausruf „Ich Heimathafen Neukölln_UltimaRatio04(c)VerenaEidelfreue mich, hallelujah!“ endet, gibt es Szenen-Applaus.

„Phantastisch gemacht – sehr berührend“, kom- mentiert Pater Kalle Lenz nach der Premiere. Ein anderes Mitglied der im Publikum gut vertretenen St. Christophorus-Gemeinde freut sich, dass eine Auf- nahme des „Adoramus te Domine“ aus der Karfrei- theuvsen_steffenhagen_erartsin_ultima ratio_heimathafen neuköllntags-Liturgie der Kirche als Originalton zu hören war.

„Es ist schwer, jemanden zu wecken, der sich schlafend stellt“, lautet ein afrikanisches Sprichwort, das auf der Rückseite des Programmheftes steht. Das Stück dokumentiert die Leiden eines Ehe- paares, dessen Fall nur einer von tausenden ist und veranschaulicht die Bedeutung des Kirchen-Asyls, das eine Ultima Ratio ist, d. h. ein letztes äußerstes Mittel, um mit den Behörden ins Gespräch zu kommen. Seit Herbst 2014 hat das Flüchtlingspaar eine Duldung nach §60 Absatz 2 des Asylverfah- rensgesetzes. Am Tag der Premiere, dem 18. April 2015, warteten sie aber immer noch auf ihre Erstanhörung für ein Asylverfahren in Deutschland. Die kontroverse öffentliche Meinung über das Thema Asyl kann die Aufführung sicherlich kaum beeinflussen, wohl aber Denkanstöße geben.

Weitere Aufführungen des Stückes „Ultima Ratio“ am 23. + 24. April und 20., 21. + 29. Mai um 19.30 Uhr sowie am 28. Mai um 21 Uhr im Studio des Heimathafen Neukölln (Karl-Marx-Str. 141) Eintritt: 15 Euro/erm. 10 Euro.
Am 24. April wird im Anschluss an die Vorstellung zu einer Gesprächsrunde mit Lissy Eichert eingeladen. Die Pastoralreferentin der katholischen Gemeinde Sankt Christopherus hat vor 20 Jahren zum ersten Mal einem flüchtigen Menschen Schutz in der Kirche gewährt. Seitdem hat die Neuköll- ner Gemeinde bisher in 19 Kirchenasyl-Fällen eine legale Aufenthalts-erlaubnis für Menschen erkämpft, die abgeschoben werden sollten. Auch für Aliyah und Rooble aus Somalia.

=Christian Kölling=

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