Wie wacht man an einem Tag auf, den man als jüngste Bezirksbürgermeisterin Berlins beenden wird? „Ohne Wecker!“, sagt Franziska Giffey strah- lend und wohl wissend, dass es künftig noch weniger Tage als bisher geben wird, die mit diesem mor- gendlichen Luxus beginnen. Und der erste Gedanke danach? „Heute isses endlich soweit!“ Eine irre Anspannung sei das gewesen. „Aber“, findet sie, „wenn man die nicht hat, sollte man es gar nicht erst machen.“
Die Anspannung war der 36-jährigen Verwaltungs- und Politikwissenschaftlerin deutlich anzusehen, als sie zum letzten Mal als Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport den BVV-Saal im Neuköllner Rathaus betrat und Bezirksverordnetenvorsteher Jürgen Koglin (SPD) um 17.05 Uhr die Sitzung eröff- nete, bei der es neben der Buschkowsky- auch die Giffey-Nachfolge zu bestimmen galt. Wer keine Platzreservierung für die Besuchertribünen habe, werde heute ein Problem bekommen, hatte er schon vorher angekündigt, denn die seien „aus gegebe- nem Anlass mehr als voll“. Selbiges traf ebenfalls für den Pressetisch zu. Dass vier der 55 Bezirksverordneten der Sondersit- zung ferngeblieben waren, vermochte das Problem auch nicht zu lösen. Um weitere Komplikationen zu verhindern, baute Koglin bereits vor dem Urnengang für das Bezirksbürgermeister-Amt vor. „Wir haben eine geheime Wahl“, erinnerte er die
Bezirksverordneten und bat darum, die Wahlzettel nicht durch das Hinzufügen des eigenen Namens zu ergänzen.
Es war 17.42 Uhr, als der Bezirksverord- netenvorsteher (l.) mitteilte, dass für den Tagesordnungspunkt Wahl zur Bezirks- bürgermeisterin auf Vorschlag der aus SPD und CDU bestehenden Zählgemein- schaft 43 Ja- und sechs Nein-Stimmen sowie zwei Enthaltungen ausgezählt wur- den: „Ich stelle fest, damit ist Frau Dr. Giffey zur Bezirksbürgermeisterin ge- wählt.“ Wenig später bestätigte die SPD- Politikerin sichtlich erleichtert und strahlend: „Ja, ich nehme die Wahl an und ich freue mich darüber.“ Auf die offizielle Ernennung und Vereidigung musste Giffey allerdings noch ein wenig warten, denn zunächst stand der Wahlgang an, der ihren Partei- kollegen Jan-Christopher Rämer zum Bezirksstadtrat für Bildung, Schule, Kultur und Sport machen sollte.
Noch während die Bezirksverordneten in einem Nebenraum ihre Stimmen abgaben, klärte Die Linke-Fraktion per Pressemitteilung über die Herkunft von drei der sechs Nein-Stimmen bei der Giffey-Wahl auf. Sie kämen von ihren Abgeordneten, weil „Dr. Giffey in die Fußstapfen von Buschkowsky tritt und die Politik der sozialen Ausgren-
zung fortsetzt.“ Dass die Links-Politiker mit dieser Meinung nicht alleine stehen, bewies zeitgleich ein von der Salaam-Schalom-Initiative organisierter Flashmob vor dem Rathaus, der ebenfalls Kritik daran, dass Giffey „formal und ideologisch“ Heinz Buschkowsky folge, demonstrieren wollte. Indes teilte die Fraktion der Neuköllner Grünen, von denen niemand Nein-Stimmen abgegeben hatte, mit, dass das „Wahl- ergebnis ein großer Vertrauensvorschuss“ sei. Franziska Giffey werde jetzt beweisen müssen, dass sie sich um die vielen Baustellen im kümmert und „willens und in der Lage ist, Politik im Sinne der Neuköllner Bevölkerung zu machen. Außer- dem erwarten wir von ihr neue Akzente in der Integrationspolitik, die sich von den Positionen ihres Vorgängers deutlich unter-scheidet.“
Es war 18.07 Uhr, als Jürgen Koglin erneut ans Mikrofon trat, um zu verkünden, dass Jan-Christopher Rämer (r.) mit 45 Ja- und sechs Nein-Stimmen zum Bezirksstadtrat gewählt wurde. „Ja“, erklärte der 34-Jährige, der seit 2011 der Neuköllner BVV angehört, auf die Frage, ob er das Amt annehme, „sehr, sehr gerne. Es ist mir eine große Ehre.“
Um 18.14 Uhr, als das neue Türschild neben ihrem Büro bereits hing, wurde Dr. Franziska Giffey zur ersten Neu- köllner Bezirksbürgermeiste- rin ernannt, ins am 31. Mai nächsten Jahres endende Beamtenverhältnis befördert und vereidigt. Zwei Minuten später war auch hinter Jan- Christopher Rämers Wahl zum Bezirksstadtrat für Giffeys Ex- Ressort der feierlich-formale Schlusspunkt gesetzt. Die neue Bezirksbürgermeisterin übernimmt mit ihrem Amt auch die Abteilung Finanzen und Wirtschaft, wobei – wie sie später betonte – die Themen Bildung und Integration auch weiterhin Schwerpunkte ihrer Arbeit bleiben würden. „Mein Ziel ist es, noch mehr Kindern Chancen und Perspektiven zu geben“, umriss derweil Neu-Stadtrat Rämer seine Ambitionen. „Wir fördern, wo wir können und fordern, wo wir müssen.“
Nicht minder sportlich sind die Aufgaben, die Franziska Giffey in ihrer Amtszeit angehen will, um sich für eine weitere zu empfehlen. In einer so kämpferischen wie sympathisch emotionalen und persönlichen Antrittsrede umriss sie diese. Nie, sagte sie, habe sie es sich träumen lassen, dass sie einmal Bürgermeisterin des Bezirks werden würde, auf den sie als 11-Jährige, kurz nach der Wende, erstmals den Fuß setzte. Es war zugleich der erste Schritt auf auf westdeutschem Boden! „So geht es mir wie vielen Neuköllnern. Sie sind nicht hier geboren und aufgewachsen, aber sie sind jetzt hier und können diese Stadt gestalten.“ Sie glaube nicht, fuhr sie fort und widersprach damit deutlich einer von Buschkowskys Thesen, dass der Wandel ein Strohfeuer ist, aber „wir müssen gute Rahmenbedingungen schaffen.“ Ein neues Neukölln gelte es zu kreieren. Der Bezirk müsse wegkommen vom Image des Nur-Problem-Bezirks, hin zu einem lebenswerten Innovationsbezirk: „Und wenn das irgendwo klappen kann, dann hier.“ Als erste Frau an der Spitze Neuköllns wolle sie eine „pragmatische, ehrliche und aufrechte Bürgermeisterin sein, die ihre Bürger kennt und von ihnen gekannt wird.“ Sie trete ihren Aufgaben mit Freude und Respekt entgegen und werde alles tun, um sie zu erfüllen, versprach Franziska Giffey. In Neukölln gebe es viele Schätze zu heben, ist sie überzeugt: „Denn Neukölln
macht glücklich – vielleicht nicht immer, aber immer öfter.“
Um 18.52 Uhr schloss Bezirksverordnetenvor- steher Jürgen Koglin die Sondersitzung der Neuköllner BVV, um zu einem Umtrunk, Torte und Brezeln zu laden. Ex-Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky hatte es vorgezogen, nicht an ihr teilzunehmen; anders seine Vorgänger Arnulf Kriedner (CDU, 1981 – 89) und Prof. Bodo Mane- gold (CDU, 1995 – 2001). „Ich finde es schön, wenn die, die mal Verantwortung getragen haben, da sind“, hatte Franziska ihre Anwesenheit gewürdigt – an einem Abend, an dem sie Bezirks- bürgermeisterin wurde, der aber auch ein „Zeichen an all diejenigen, die die Stadt mitgestalten“ sein sollte: „Wir alle tragen gemeinsam Verantwortung für den Bezirk und dafür, dass er ein Ort der Vielfalt, der Demokratie und der Menschenrechte bleibt.“
=ensa/Christian Kölling=
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