Neue Bestandsaufnahme des Zusammenlebens in Nord-Neukölln veröffentlicht

heinemann_liecke_yidririm_madonna neuköllnProblem- oder Trendbezirk? Über Neukölln wird in lokalen und bundesweiten Medien viel geschrieben, aber oft werden nur Klischees bedient. Eine fundierte sozialwissenschaft- liche Studie, die die Stimmung der Nord-Neuköllner Einwohnerschaft zusam- menfasst, legte dagegen nun die Camino Werkstatt gGmbH mit der Bestandsauf- nahme „Zusammenleben in Nord-Neukölln“ vor. Ihr Autor Dr. Albrecht Lüter sowie Camino-Geschäftsführerin Dorte Schaffranke stellten die Untersuchung am vergan- genen Mittwoch gemeinsam mit Bezirksstadtrat Falko Liecke (M.), zuständig für die Ressorts Jugend und Gesundheit, und Mitarbeiterinnen des  MaDonna Mädchen- kult.Ur e. V. madonna mädchentreff_neuköllnin den Räumen des Mädchentreffs im Rollbergviertel der Öffentlichkeit vor.

80 Prozent der Menschen leben gern in Nord-Neukölln und nur 3 Prozent sind ungern hier. Besonders zufrieden mit dem Bezirk sind Menschen zwischen 20 und 30 Jahren, nur Bürgerinnen und Bürger ab 60 Jahren sind etwas unzufriedener“, mit diesen erfreulichen Zahlen leitete der promovierte Soziologe Albrecht Lüter in die Bestandaufnahme der Camino-Werkstatt ein. Eine übergroße Mehrheit von 90 Prozent der Befragten gibt an, die Vielfalt der Kulturen und Lebensstile im Neuköllner Norden als Bereicherung zu empfinden. Nur 6 Prozent finden das nicht oder nur eingeschränkt.

Für die Untersuchung wurde eine quantitative Anwohnerbefragung von 311 Perso- nen mit teilstandardisierten Fragebögen in Deutsch, Türkisch Arabisch und Englisch durchgeführt. Zusätzlich wurden qualitative Experteninterviews mit acht Fachkräften geführt, die in Schulen, Einrichtungen der Jugendarbeit, Quartiersmanagements schaffranke_lueter_madonna neuköllnsowie in einer Migranten-Selbstorganisation beschäftigt sind.

Abgefragt wurden neben Einstellungen auch die persönlichen Einschätzungen zu eige- ner und fremder Diskriminierung. 28 Pro- zent der Befragten fühlen sich von Diskrimi- nierung betroffen. Sie ist damit weder ein Massenphänomen noch eine Randerschei- nung. Im Einzelnen geben 11 Prozent der Befragten geben an, dass sie sich wegen ihren deutschen Herkunft in der Minderheit fühlen und diskriminiert werden. Ebenfalls 11 Prozent sagen, dass sie diskriminiert werden weil sie wenig Geld haben. 28 Prozent werden nach eigener Einschätzung zurückgesetzt, weil sie zugewandert sind. 27 Prozent geben an, wegen ihrer vermuteten Religion diskriminiert zu werden. Nahezu zwei Drittel der Diskrimi- nierungen finden im öffentlichen Raum statt, in eher informellen Situationen, wenn Menschen sich auf der Straße, beim Einkaufen, in der Schule, am Arbeitsplatz oder als Nachbarn begegnen. Als häufigster Ort für Diskriminierung wird „die Straße“ von der Hälfte der Betroffenen angegeben. An zweiter Stelle werden Ämter und Behörden, konkret die Ausländerbehörde, das JobCenter bzw. die Arbeitsagentur, die Polizei und das Bürgeramt von 55 Prozent als Verursacher der Diskriminierungen angegeben. Arbeits- und Wohnungsmarkt werden dagegen ebenso wie das Bildungs- und Erziehungssystem nur von einer geringen Zahl als Diskriminatoren genannt.

Bezirksstadtrat Falko Liecke, zugleich derzeit als stellvertretender Bezirksbürger- meister der ranghöchste Vertreter des Bezirksamtes, konzentrierte sich bei seiner Kommentierung der Untersuchungsergebnisse im wesentlichen auf einen Teilaspekt der Diskriminierung: „Das Kopftuch ist bei Mädchen und Frauen der Hauptgrund von subjektv wahrgenommener Diskriminierung. Hier wird besonders deutlich, dass das Kopftuch als religiöse Aussage und auch als fremdartig wahrgenommen wird, das polarisiert.“ Nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgericht aus dem März unterstrich Liecke: „Für mich ist das eine deutliche Aussage, kein Kopftuch in liecke_heinemann_yidririm_hirth_madonna neuköllnöffentlichen Ämtern, wie z. B. bei den Lehrern zuzulassen.“

MaDonna-Geschäftsführerin Gabriele Heine- mann und ihre Mitarbeiterin Sevil Yildririm sowie Heike Hirth, Leiterin des Jugendtreffs The Corner, warnten aufgrund ihrer tägli- chen Arbeitserfahrungen vor salafistischer Rekrutierungsarbeit. Der Trend im Kiez gehe zur Trennung von Sunniten und Schiiten, die früher gut nachbarschaftlich zusammenlebten. Zunehmend würden Mädchen und Frauen, die sich weigern, ein Kopftuch zu tragen, im Freundes- und Familienkreis diskriminiert. „Das Familienzentrum steht leer und die Al-Nur Moschee ist voll“, brachte Falko Liecke seine Befürchtungen auf den Punkt. Mit Blick auf die Berliner Landespolitik kritisierte er: „Wir haben noch keine abgestimmte Strategie für die Präventionsarbeit gegen Salafismus und Islamismus. Ich brauche im Bezirk die Möglichkeit, bezahlte Fachkräfte neu einzustellen.“ Ihre deutlichen Worte gegen Islamismus und Salafismus wollten er wie auch die Mitarbeiterinnen der Jugend- einrichtungen allerdings nicht falsch verstanden wissen: „Man sollte nicht das Stereotyp haben, jeder muslimische Mann sei gleich ein Salafist.“ Stadtrat Liecke betonte, dass es im Bezirksamt zunehnehmend migrantische Mitarbeiter gebe und man, „weil junge Frauen in der Ausbildung oft fitter als Männer sind“, gezielt nach Migrantinnen suche.

Die im Rahmen des Lokalen Aktionsplans Nord-Neukölln in Auftrag gegebene Studie „Zusammenleben in Nord-Neukölln“ wird in Kürze  auf der Website der Camino gGmbH veröffentlicht.

=Christian Kölling=

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