Die ersten Punkte der Tagesordnung der 38. Sitzung der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung am vergangenen Mittwoch konnten, nachdem den Opfern des Germanwings-Absturzes gedacht worden war, schnell abgehandelt werden: Die Einwohnerfrage- stunde fiel mangels eingereichter Fragen aus – und der Passus „Der Bürgermeister hat das Wort“ mangels Bürgermeister, denn der heißt zwar noch bis Ende März Heinz Buschkowsky, war aber nicht anwesend.
Länger hielten sich die Bezirksverordneten dagegen mit der Vorlage zur Beschlussfassung auf, die den Einwohnerantrag zum Milieuschutz in ganz Nord- Neukölln betrifft. Dieser war vom Mietenbündnis Neukölln initiiert worden, dessen Sprecher Michael Anker zunächst ans Rednerpult trat, um zu berichten, wie leicht es war, die erfor- derliche Unterstützerzahl von 1.000 um mehr als das Dreifache zu übertreffen. Über 76 Prozent der gesammelten Unterschriften seien gültig gewesen, bestätigte Be- zirksverordnetenvorsteher Jürgen Koglin, bevor Vertreter der Fraktionen ihre Mei- nungen zum Antrag abgaben. Eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur sei nicht per se eine Katastrophe, erwiderte Michael Morsbach (SPD) auf Ankers Information, dass im Neuköllner Norden ob immens gestiegener Mieten eine „Verdrängung der Armen durch nicht mehr ganz so Arme“ stattfinde. Zudem handele es sich bei vielen so genannten Luxussanierungen nicht um solche, sondern um dringend notwendige bau- liche Aufwertungen von Wohnhäusern, an denen oft jahrzehntelang nichts gemacht worden sei, konsta- tierte der SPD-Bezirksverordnete, der dafür plädiert, doch erstmal die Wirkung der beschlossenen Prü- fung einer Milieuschutzsatzung am Beispiel des Reuterkiezes abzuwarten. Weitaus härter teilte an- schließend Daniel Dobberke in Richtung der Ini- tiatoren des Mietenbündnisses aus. Er lehne den Milieuschutz ab, gab der CDU-Politiker zu Protokoll, und stelle hinsichtlich der Auswirkungen auf die Mieten „viel Geheuchel bei den Befürwortern“ fest. Überhaupt seien es Phantom-
diskussionen, die auf Bezirksebene geführt würden, weil die Entscheidungen für effektive Maßnahmen das Land und der Bund träfen. Wenig Verständnis für die Kritik am Ein- wohnerantrag zeigte hingegen Gabriele Vonnekold. Die Initiative mache sich damit um den Bezirk verdient, weil der Milieuschutz einen „Schritt in die richtige Richtung“ darstelle. „Ohne diese Unterstützung von außen“, so die Fraktionsvorsitzende der Grünen, „würde sich hier nicht viel bewegen.“ Umso wichtiger sei es, zu verhindern, dass vielleicht erst dann ein Milieuschutz eingeführt wird, „wenn kein Milieu mehr da ist, das wir schützen können.“ Das unterstrich auch Anne Helm (Piraten-Partei), die empfahl, den Antrag (Drucksache 1243/XIX) an den Stadtentwicklungsausschuss zu
überweisen. Dem stimmte die Bezirksverordneten-versammlung einstimmig zu.
Von Helms Parteikollegen Steffen Burger kam eine Mündliche Anfrage, die Auskünfte über den aktuellen Stand von Masernerkrankungen in Neu- kölln forderte. Derzeit gebe es 138 Fälle, was eine „Zahl auf stabil hohem Niveau“ für den Bezirk bedeute, führte Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) aus. Sämtliche Erkrankten seien ungeimpft gewesen – unter ihnen auch vier Babys, da diese erst ab dem 8. Lebensmonat die Impfung erhalten könnten. Zwar lasse sich eine hohe Sensibilität für das Thema in Kitas und Schulen beobachten, so Liecke weiter, die „größte Gruppe der Erkrankten, nämlich junge Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren, bleibt leider unerreicht.“ Das beruhe darauf, dass in diesem Alter – abge- sehen von gynäkologischen Untersuchungen bei Frauen – kaum Arztkontakte entstünden.
Ebenso schnell konnte eine Mündliche Anfrage von Marlis Fuhrmann (Linke) auf der Agenda als erledigt abgehakt werden. Bei einer besseren Vorrecherche hätte sie sogar ganz entfallen können. Denn die wohnungspolitische Sprecherin der Fraktion ging bei ihrem Tagesordnungspunkt Weiteres Hostel in Woh- nungen auf der Karl-Marx-Straße schlichtweg von einer falschen Prämisse aus. „Wieso“, fragte sie, wird auf der Karl-Marx-Straße 176 in einem denkmalge- schützten Wohnhaus in zuvor im Wesentlichen leerstehenden Wohnungen die Einrichtung eines Hostels geduldet?“ In den betreffenden drei Etagen, in denen im April das Karl-Marx-Hostel eröffnet, „befanden sich die Räumlichkeiten einer Grundstücksverwaltung“ und somit sei kein Tatbestand der Zweckentfrem- dung einschlägig, wurde Fuhrmann von Baustadtrat Thomas Blesing (SPD) belehrt.
Größtenteils gute Nachrichten hatte an- schließend Sozialstadtrat Bernd Szczepan- ski, als er die Mündliche Anfrage Wie weiter mit den Neuköllner Flüchtlings- unterkünften? beantwortete, die Thomas Licher (Linke) gestellt hatte. Die Beschlag- nahmung der ehemaligen Container-Schulräume im Mariendorfer Weg als Not- unterkunft für Flüchtlinge, die zunächst vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) nur bis Mitte April geplant gewesen ist, wird verlängert. Kurz vor der BVV-Sitzung habe das Amt ihm mitgeteilt, „dass der Beendigungstermin nicht zu halten sein und die Verlängerung der Nutzung auf unbestimmte Zeit vorgenommen wird“, so der Sozialstadtrat. Darüber hinaus habe das LAGeSo angekündigt, den Bezirk Neukölln aufgrund des weiter steigenden Bedarfs in den kommenden Tagen schriftlich dazu aufzufordern, weitere räumliche Kapazitäten für die Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Bezüglich des geplanten Flüchtlingsheims in der Karl-Marx-Straße, ergänzte Szczepanski, dass sich die Verhandlungen zwischen Be- treiber und LAGeSo seit Monaten hin- zögen. Dafür habe er kein Verständnis, sondern sei „sehr daran interessiert, endlich eine Ent-
scheidung zu haben.“
Entschieden wurde indes ein Antrag, der bereits auf den Tagesordnung der BVV- Sitzung im Februar gestanden hatte, aber vertagt werden musste. Ahnend, dass sie damit „wieder reflexartige Ablehnung“ auslösen würde, hatte Mahi Christians-Roshani beantragt, dass das Bezirksamt einen Leitfaden für Neuköllner Einbürge- rungsfeiern beschließen möge. Statt diesen als Selbstverständlichkeit durchzuwinken und den Anregungen der Grünen-Politikerin zur Verbesserung der Feierlichkeiten zu folgen, entspann sich aber eine Debatte, die, so Christians-Roshanai „absolut typisch verlaufen ist“ und von „Alltagsrassismus“ geprägt war. „Debatte zu Einbürgerungsfeiern macht sprachlos. Wenn Kritik gleich Nestbeschmutzung ist, ist konstruktive Auseinandersetzung unmöglich“, twitterten die Neuköllner Grünen. Für die Antragstellerin sind die Aggressionen jedoch kein Problem, dass sich mit Sprachlosigkeit lösen lässt, sondern vielmehr den Redebedarf im Bezirksparlament verdeutlicht. Die Chance, durch eine Überweisung des Anliegens im Integrationsausschuss damit zu beginnen, wurde verhindert, der Antrag abgelehnt.
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