Wanderung zu Orten des Abschieds in Neukölln

gradwanderung neukoellnSchon über den Namen der Veranstaltung stolperten manche: „Gradwanderung“. Es hätten einige Leute angerufen, um  darauf hinzuweisen, dass zwischen a und w ein t und kein d  gehöre, sagt Sophia Trier vom Fachbereich Kultur des Bezirksamts Neu- kölln, der den „Spaziergang zu Orten des neuer luisenstädtischer friedhof neuköllnAbschieds“ veran-staltet. Eigentlich war ihre Telefonnummer nur angegeben worden, um Anmeldungen für die Tour zentral sammeln zu können. Nun ist bei ihr nicht nur zu erfahren, dass man ein BVG-Ticket bzw. Kleingeld dafür mitbringen sollte, sondern auch, dass der vermeintliche Schreibfehler keiner ist: „Die Künstlerin Birgit Auf der Lauer hat den Titel vollkommen bewusst gewählt, weil die Wanderung die Themen Tod und Abst. thomas friedhof_neuköllnschied aus verschiedenen Blickwinkeln behandelt.“ Und Winkel würden nunmal in Grad gemessen.

Es ist die Ausstellung „Exitus – Tod, Trauer, Melan- cholie“, die aktuell in der Galerie im Körnerpark gezeigt wird, die den Impuls gab, so unterschiedliche wie widersprüchliche Orte des Abschieds „im gesell- schaftlichen Umfeld Neuköllns“ bei einer Wanderung anzusteuern. Schließlich lasse sich beim Blick auf den Stadtplan feststellen, dass der Tod im Bezirk nicht wenig Platz einnimmt. Besonders breit macht er sich entlang der Hermannstraße, wo zwischen der U8-Station Leinestraße und dem S-Bahnring  gleich st. thomas-friedhof_neukoellnfünf Friedhöfe angelegt wurden. Einer davon ist der Alte St. Thomas-Kirchhof auf der östlichen Seite der Hermannstraße.

Er ist nicht nur die erste Station bei der von Birgit Auf der Lauer geführten Gradwande- rung, sondern auch ein Ort, an dem sich die Beziehung zwischen Leben und Tod als besonders schmaler Grat darstellt. „Auf Initiative der Seelsorgerinnen des Vivantes Klinikums Neukölln ist hier eine Grabstelle für Frühchen entstanden“, erklärt die gradwanderung neuköllnKünstlerin den altersmäßig bunt gemischten Mitwanderern und weist auf eine im Mai 2004 in Kraft getretene Änderung im Berliner Bestat- tungsgesetz hin, die seitdem den Begriff  Leiche neu definiert bzw. festgelegt hat, dass tot- geborene Föten und verstorbene Frühchen bereits ab einem Gewicht von 500 Gramm als solche zu behandeln sind. Bis dahin galt, dass menschliche Körper, die weniger als 1 Kilogramm auf die Waage bringen, nicht beerdigt, sondern als pathologischer Abfall entsorgt werden. „Die Grabstelle für Frühchen auf dem St. Thomas-Friedhof wurde aber erst vor 1 1/2 Jahren durch eine frühchen-grabstelle vivantes_st. thomas-friedhof_neuköllngemeinsame Initiative unserer Seelsorgerin Anette Didrich, unserer Pathologie und der Station für Geburtsmedizin  erworben“, informiert Ulrike Rei- chardt vom Seelsorge-Team des Vivantes Klinikums Neukölln, die – anders als bei der ersten Grad- wanderung – die nächste begleiten wird. „Seitdem haben wir im Bezirk einen würdigen Ort für die Bestattung der Föten, und Eltern haben, was sehr wichtig ist, eine Anlaufstelle.“

Etwa alle zwei bis drei Monate werden die Urnen der Kinder nach einer Trauerfeier für Eltern und Ange- frühchen-grabstelle vivantes_st. thomas-friedhof neuköllnhörige zu Grabe getragen. „Für jedes Kind wird eine Kerze angezündet“, beschreibt die evangelische Pfar- rerin Details des Rituals, das als „christlicher Gottesdienst, der offen für alle Konfessionen ist“ abgehalten wird. Totgeburten bedeuten ein besonders brutales Erleben, weil die „Mütter den Tod im eigenen Leib spüren“, weiß Ulrike Rei- chardt. Dem folge „eine sehr, sehr lange Zeit der Trauer“, die selbstverständlich seelsorgerisch begleitet werde: „Für die Eltern ist es aber oft noch wichtiger, sich mit anderen Betroffenen austauschen zu können.“ Auch dieses gegenseitige Kennen- birgit auf der lauer_gradwanderung neuköllnlernen werde durch die Trauerfeier und die Grabstelle erheblich unterstützt. „Ich bin sehr froh über die jetzige Situation“, sagt die Seelsorgerin und lobt auch die Kulanz, die die Friedhofsverwaltung hinsichtlich der Grabgestaltung zeigt.

Die Rolle und Aufgabe von Friedhöfen müs- se überhaupt neu überdacht werden, findet Birgit Auf der Lauer (l.) und deutet zum gegenüberliegenden Neuen St. Thomas-Friedhof. „Der wurde schon Mitte der 1980er Jahre wegen des Flächenüberhangs geschlossen“, schildert sie, „und soll zu einem öffentlichen Park werden.“ Neue Arten der Nutzung würden sich aber – außer dem st. thomas-friedhof neuköllnFrühchen-Grab – auch auf dem Alten St. Thomas-Friedhof zeigen: Ein Pavillon behei- matet seit inzwischen fast fünf Jahren eine Ausstellung über kirchliche Zwangsarbeiter, die im Lager an der Hermannstraße un- tergebracht waren.

Entlang der Hermannstraße geht es weiter zur nächsten Station der Gradwanderung: Im Ricam Hospiz wird die Gruppe erwartet, um das Haus zu besichtigen und mehr über die dort gegenwärtige Form des würdevollen Sterbens und Abschiednehmens zu erfahren. Bei einer anschlie- ßenden kleinen Pause auf dem Tempelhofer Feld wird Birgit Auf der Lauer vom Besuch eines Friedhofs an der EU-Grenze zwischen Griechenland und der Türkei berichten, auf dem Flüchtlinge anonym beerdigt werden. Etwa fünf Stunden nach dem Start endet die Gradwanderung schließlich an der Sehitlik-Moschee, wo vorher der Islamische Friedhof besichtigt und eine Imamin die Bestattungsrituale der Muslime schildern wird. Wer nicht die komplette Tour mitmachen wolle, räumt Sophia Trier ein, könne aber selbstverständlich auch nur an einzelnen Etappen teilnehmen.

Die nächste Gradwanderung findet am 28. März statt und beginnt um 13 Uhr am Eingang der Galerie im Körnerpark. Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung erforderlich: Tel. 030 – 90239 4084 (Fachbereich Kultur, Sophia Trier) oder per E-Mail an sophia.trier[at]bezirksamt‐neukoelln.de

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