Erstmals beteiligte sich das Bezirksamt Neukölln aufgrund eines Beschlusses der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) an den Internationalen Wochen gegen Rassis- mus. Bernd Szczepanski, der Bezirksstadtrat für Soziales, hatte deshalb gestern Abend zur Diskussionsveranstaltung „Wer gehört da- zu? Andersdeutsch in Deutschland“ in den BVV-Saal eingeladen.
„Ich werde häufig gefragt, warum ich Carl heiße – nicht aber, warum ich Chung heiße“, mit dieser persönlichen Beobachtung führte der 1963 in Köln geborene Diplom-Politologe, der seit 2002 Leiter des Mobilen Beratungsteams Ostkreuz ist, die Zuhörer in das Thema des Abends ein. „Woher kommen Sie?“ – „Aus Schöneberg.“ – „Nein, das meine ich nicht.“ – „Ich bin in Köln geboren.“ Chung, dessen Vater koreanisch-chinesischen Ursprungs war und dessen Mutter deutsche Eltern hatte, ist diese und ähnliche Dialoge, bei denen er immer das Gefühl hat, sich rechfertigen zu müssen, gründlich leid. „Merken diese Menschen nicht, dass sie im Grunde einen Arier-Nachweis von mir wollen?“, fragt er irritiert.
Fast 80 Jahre nach den Nürnberger Rassegesetzen sei es an der Zeit, darüber nachzudenken, wer wir als „die Deutschen“ sind. „Wir dürfen die Definition, was Deutsch sein bedeutet, nicht Pegida oder den Neo-Nazis überlassen!“, fordert der Politikwissenschaftler. Obwohl Chung vor einem direkten Hinweis auf die Nazi-Zeit nicht zurückschreckt, will er keine Schuldgefühle bei den Deutschen der Mehr- heitsgesellschaft wecken. Einfaches Schwarz-Weiß-Denken ist ihm ebenso fremd. Die Unterschiede, die es zwischen den 1970er, den 1990er Jahren und der Gegenwart gibt, hat Chung in Deutschland selbst erlebt. Damit die Gesellschaft aber offen, freiheitlich, demokratisch und pluralistisch bleibe, sei eine bewusste Selbst- findung der Deutschen als bürgerliche Gemeinschaft notwendig. Verfassungs-patriotismus wird dieses Denken in einem Wort genannt.
Dass dieser Verfassungspatriotismus in der Praxis noch nicht ausreicht, um über Deutschland als Heimat nachzudenken, wird in der anschließenden Diskussion zwischen Hülya Karci, Leiterin der interkulturellen Neuköllner Seniorentheatergruppe Die Sultaninen, Andreas Altenhof, Direktoriumsmitglied der Neuköllner Oper, Kazim Erdogan, Psychologe und Gründer des Aufbruch Neukölln e. V., sowie Joachim Krauß, Historiker und Experte zur Lage von Sinti und Roma, allerdings mehr als ein Mal deutlich.
Einigkeit besteht in der Runde nur in zwei Punkten: Erstens seien negative Zu- schreibungen mit Begriffen wie „Brenn- punktschule“ oder „Brennpunktbezirk“ für das Zusammenwachsen einer Gesell- schaft und die gedeihliche Entwicklung Neuköllns nicht hilfreich. „Welcher Vater würde schon mit Stolz sagen, mein Kind geht auf eine Brennpunktschule?“, wirft Kazim Erdogan unwidersprochen in die Debatte ein. Zweitens seien klischeehafte Vorstellungen, die früher vielleicht zeitgemäß waren, im Bezirk heute eigentlich längst überholt. „Das ist unser Aschenputtel!“, erklärt Andreas Altenhof beispiels- weise zur Überraschung aller und hält ein Plakat der Neuköllner Oper hoch, auf dem eine junge dunkelhäutige Frau im weißen Kleid zu sehen ist.
Ob es aber das Gefühl geben kann, Deutsch zu sein? Die Meinungen im Saal gehen dazu weit auseinander. „Ich kann Wut oder Liebe fühlen, aber ich kann nicht fühlen, ob ich Deutsch oder Türkisch bin“, hält eine Frau aus dem Publikum Carl Chung entgegen. Der ist sich dagegen sicher, dass es das Gefühl, Deutsch zu sein, tatsächlich gebe; er habe es selber schon erlebt, vor allem im Ausland, als er überhaupt nicht daran dachte. Auch die Bedeutung der Einbürgerung und die der damit verbundenen, in Neukölln öffent- lich stattfindenden Einbürgerungsfeiern schätzen alle – je nach persönlichen Erfahrungen und individuellen Lebensge- schichten – sehr unterschiedich ein.
Der Saal, der anfangs halb gefüllt war, ist nach zweieinhalb Stunden am Ende der Diskussion fast leer. Von der BVV-Zähl- gemeinschaft sind u. a. die Bezirksver- ordneten Eva-Marie Schoenthal (SPD) und Elfriede Manteuffel (CDU) zeitweise mit unter den Gästen gewesen. „Bei der Einladung der Bezirkverordneten hat es Probleme gegeben“, gibt Sozialstadtrat Bernd Szczepanski zu, als die letzten Teilnehmer bei Saft, Mineralwasser und Brezeln zusammenstehen. Sollte es eine Nachfolgeveranstaltung geben, müsse die besser beworben und thematisch zugespitzt werden, räumt er ein. Nur allein beim Wort Rassismus würden viele Akteure der Neuköllner Bezirkspolitik bedauerlicher- weise einfach abschalten, ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen, wie eine Gesellschaft zusammengehalten werden kann, in der längst nicht mehr fast alle gleich aussähen und dieselbe Muttersprache sprächen.
=Christian Kölling=
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