Auch der 29. November 2013 war ein Freitag. Außerdem war es der Tag, an dem Gunter Demnig 12 Stolpersteine in Neukölln verlegte, von der Verlegung eines 13. aber absah und sich statt- dessen Bedenkzeit für den Fall Sigurd Franzke erbat. Denn der Neuköllner, der als 27-Jähriger am 13. Mai 1939 wegen „widernatürlicher sexueller Neigungen“ zu zwei Jahren Haft verurteilt, im Oktober 1940 deportiert und am 26. März 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet wurde, ist zwar zweifellos ein Opfer des nationalsozialis- tischen Regimes geworden. Doch der Homo- sexuelle ist auch NSDAP-Mitglied sowie Ober- scharführer der SS und als solches zugleich Täter gewesen. „Vielleicht ist in dem Fall eine vorherige öffentliche Diskussion mit dem proNeubritz, der den Gedenkstein für Sigurd Franzke spenden will, dem Museum Neukölln und dem Bezirk angebracht“, meinte Gunter Demnig vor 14 Monaten im Interview. Volker Banasiak, Neuköllns Stolpersteine-Koordinator, gefiel der Vorschlag ebenfalls.
Und seitdem? Dass der Fall Sigurd Franzke nicht vollends in Vergessenheit geraten ist, beweist der aktuelle Kulturkalender des Bezirksamts. Für den 19. März lädt das Museum Neukölln in dem Leporello zu einer Diskussion zum Thema „Vom Täter zum Opfer? Ein Stolperstein für Sigurd Franzke. SS-Mitglied und homosexuell. Über die Definition des Opfers im Kontext des Gedenkens“ ein. Nun komme etwas Bewegung in die Sache, teilte Volker Banasiak am 6. Januar auf Anfrage nach dem Status quo mit und kündigte an, dass „demnächst eine Presseinfo dazu“ veröffentlicht werde. Die gab es in der Tat, wenn auch mit anderem Inhalt als erwartet: Am 19. Januar teilte der Fachbereich Kultur des Bezirksamts mit, dass „die
Veranstaltung des Museum Neukölln am 19.3. ersatz- los entfällt“.
Es ist allerdings, so Recherchen, nicht nur die Diskussion, die entfällt. Auch den Stolperstein für Sigurd Franzke wird es nicht geben, erfuhr man am 8. Januar beim proNeubritz per E-Mail von Bana- siak. „Damit, dass das alles so lange dauert, haben wir schon überhaupt nicht gerechnet“, sagt Bertil Wewer. „Erst passierte lange gar nichts. Im Sommer letzten Jahres signalisierte mir Gunter Demnig dann im direkten Kontakt, dass er es machen würde, wenn wir es wollen, und im Herbst erfuhren wir sogar, dass das der Stolperstein für Sigurd Franzke auf die Liste der zu verlegenden Stolpersteine kommt.“ Noch mehr überraschte den 1. Vorsitzenden des Vereins aber der Ausgang der Angelegenheit. Demnig wolle den Stolperstein nun doch nicht ver- legen, weil ein Stolperstein nicht ausreiche, um auf die Täter-Opfer-Dimension im Fall Franzke hinzu- weisen, heiße es in besagter Mail, die man im Verein „mit Bedauern zur Kenntnis genommen“ habe. „Ich hätte den Stolperstein als gutes Signal dafür gesehen, wie schnell man vom Täter zum Opfer werden kann“, ergänzt Wewer. Dass Sigurd Franzke, dessen Biographie vom proNeubritz ausgiebig recherchiert wurde, als Opfer anerkannt ist, beweise schließlich schon der Gedenkstein an der Grabstelle auf dem Friedhof Koppelweg.
Der proNeubritz e. V. wird sich indes auch weiterhin dafür einsetzen, dass von den Nazis verfolgte und ermordete Neuköllner nicht vergessen werden. „Für die zweite Jahreshälfte“, so Bertil Wewer, „ist die Verlegung eines Stolpersteins für Carl Pohle geplant.“ Der berge kein Potenzial, zum Problemfall zu werden.
Am 27. Januar findet um 19 Uhr in der Martin-Luther-Kirche (Fuldastraße 50) ein Gottesdienst zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus statt. Die Aktion Sühnezeichen–Friedensdienste und die Martin-Luther-Gemeinde laden gemeinsam zu diesem Gottesdienst ein, der von der Geigerin Anne Marie Harer musikalisch begleitet wird.
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