Nur wenige Opern sind bekannter, beliebter und werden häufiger gespielt als Carmen von Georges Bizet. Auch wer nie eine Oper von innen gesehen hat, kennt Carmens eingängige Melodien. Auf die Bühne der Neuköllner Oper, die im Herbst 1988 ihr Domizil in der Passage bezog und dort schon mehr als 160 Inszenierungen auf- führen konnte, kommt trotz dieser Popularität allerdings erst jetzt eine aktuelle Fassung des weltberühmten Musikstückes: Morgen hat „Die Akte Carmen“ von David Mouchtar Samorai und Bernhard Glocksin im alten Ballsaal, der über 220 Plätze verfügt, Premiere an der Karl-Marx-Straße. „Wir halten uns mit dem Kernrepertoire zurück, das die staatlichen Opern spielen, und schreiben die meisten Stücke selbst“, erklärt Bernhard Glocksin, künstlerischer Leiter der Neu- köllner Oper, zwei Tage vor der Premiere.
„Nur wenn es einen starken Grund gibt, spielen wir Repertoire.“ Diesen starken Grund findet Glocksin inzwischen jedoch buchstäblich vor der Tür des eigenen Hauses. „Es gibt seit 2010 viel mehr sichtbare Armut in Neukölln“, sagt er. Tau- sende EU-Bürger aus Südost-Europa lebten in der Stadt zum Teil unter schwierigsten Bedingungen, und über 50.000 Menschen seien hier illegal ohne Papiere. Menschen würden zu Schattenbürgern – zweifach diskriminiert, durch Herkunft und die Unmöglichkeit, auf legalem Weg zu überleben. Zusätzlich beunruhigt ist Glocksin wegen der Massenarbeitslosigkeit unter Jugendlichen, wie in Spanien, Griechen- land und andernorts in Europa. Nicht zuletzt nähmen Ausgrenzug, Fremdenhass und Gewalt gegen Frauen in der EU erschreckend zu. „All das sind Veränderungen, die sich selbst in unserem multinationalen Ensemble mit hochkarätigen Sängerinen und Sängern zeigen. Die Neuköllner Oper ist ein beliebter Gastspielort für Künstler aus aller Welt, aber die Unterschiede im Ensemble fangen schon beim aufenthalts- rechtlichen Status zwischen EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern an“, klagt Glocksin. Er und der renommierte Regisseur David Mouchtar Samorai verstehen Carmen als die pan- europäische Oper schlechthin. Sie wollen eine sozialkritische Lesart fördern, die im Werk bereits angelegt sei: „Welche große Oper bildet das Europa in der Krise besser ab als Carmen?“, lautet ihre rhetorische Frage. Gewiss, Bizets Werk ist ein Eifersuchtsdrama, wie auch die Oper Othello. Aber Othellos Handlung ist am Hof angesiedelt, während Carmen „im Milieu der Zigeuner und Schmuggler“ spielt, also am Rand der Gesellschaft, der in Europa augenblicklich immer größer werde.
Praktisch unterstützt die Neuköllner Oper den europäischen Gedanken z. B. mit einem Carmen-Projekt in Barcelona: Vier junge spanische Komponisten und Autoren wurden beauftragt, Einakter mit ihrer Carmen-Interpretation zu schreiben, die nun im kommenden Herbst in Berlin gezeigt werden können. Ihrem Ruf als „das etwas andere Musiktheater mit Anspruch“, wird die Neuköllner Oper vor allem aber auch deshalb gerecht, weil sie sich eher als Kultur- und Kommunikationszentrum im Bezirk, nicht aber als Kunst-Tempel versteht. „Wir haben keinen Kunstverdacht“, lacht Andreas Altenhof, der das offensichtlich als positiven Gegensatz zu den drei anderen Berliner Opernhäusern versteht.
Ein Grund, warum „Berlins vierte Oper“ nach wie vor künstlerischen Anspruch, Qualität und hohe Professionalität wie in den Anfangsjahren mit Publikumsnähe und Kiezverbundenheit koppeln kann, liegt vielleicht darin, dass das freie Theater von einem Trägerverein, dem jeder beitreten kann, betrieben wird, nicht aber von einem Förderverein. „Der Vorstand des Vereins ist unser Chef“, erkärt Altenhof, der zum dreiköpfigen Direktorium gehört. Mitglieder eines Trägervereines können eher Einfluss nehmen und haben verbindlichere Mitspracherechte als die eines Fördervereines. Die personelle Ausstattung des Musiktheaters ist allerdings nach wie vor eher bescheiden: 15 Festangestellte und – abhängig von der Aufführung – bis zu 200 Künstler auf Honorarbasis werden beschäftigt. Es gibt weder ein festes En- semble noch ein festes Orchester. „Wir sind in Berlin ein großer Arbeitgeber für die freie Szene“, gibt Altenhof aber zu bedenken.
Zum ausgewählten jungen, internationalen Ensemble von „Die Akte Carmen“ gehören u. a. die Mezzosopranistinnen Farrah El Dibany (r.) aus Ägypten und die Deutsche Valentina Stadler. Beide wechseln sich in der Rolle der Carmen ab, um genügend Erholungszeit für ihre Stimmen im dichtgedrängten Programm zu haben. Jose, ein SEK-Beamter, der sich tragisch in Carmen verliebt, die er am Ende des Stückes vor einem Grenzzaun tötet, wird von Christian Schleicher gesungen. In der Rolle seines Widersachers tritt Bariton Felix Bruder als Stierkämpfer Escamillo auf.
„Die Akte Carmen“ wird bis zum 25. Februar in der Neuköllner Oper aufgeführt. Die Premiere am 22. Januar ist bereits ausverkauft, ggfs. sind aber noch Restkarten an der Abendkasse erhältlich.
Eintritt: 13 – 24 Euro (ermäßigt 9 Euro), Reservierungen telefonisch unter 030 – 68 89 07 77 oder per E-Mail an tickets[at]neukoellneroper.de
=Christian Kölling=
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