Von einem roten Mercedes 300 SL, Kartoffelläden, Trümmerbergen und einer Kindheit und Jugend in der „Topgegend von Neukölln“

schillerpromenade 42_neukölln„Da oben haben wir gewohnt.“ Ralf Lambertz zeigt zur ersten Etage des Hauses Schillerpromenade 42. Wir, das waren die Eltern und seine beiden Schwestern. In einer 2-Raum-Wohnung lebten damals alle. „Aber schon mit schillerpromenade_selchower straße_neuköllnBad!“, fügt er gleich noch dazu. In dieser Wohnung verbrachte der heute 73-Jährige die ersten 22 Jahre seines Lebens. Erst 1963 zog er dort aus: „Meine Eltern waren wohl um 1938 eingezogen und wohnten noch bis zum Jahr 1972 in der Schillerpromenade 42.“ Lambertz schaut sich überrascht um. Seit Jahren war er schon nicht mehr am Ort seiner Kindheit und Jugend. „An der Ecke zur Selchower Straße gab es damals ein Le- bensmittelgeschäft, wo man – wie fast überall – anschrei- ben lassen konnte, und im Parterre unseres Hauseingangs war erst ein Kartoffelladen und dann ein Klempner.“ Heute ist eine türkische Bäckerei in den Räumen an der Ecke, aus der Gewerbeeinheit im Erdgeschoss wurde schillerpromenade_genezareth-kirche_neuköllnirgendwann eine Wohnung gemacht.

Wir gehen auf der Schillerpromenade in Richtung Herr- furthplatz. „Auf der Promenade haben wir immer in den Büschen gespielt, ‚Räuber und Gendarm‘ und solche Sachen.“ Die Büsche seien viel höher gewesen als sie es heute sind. „Ja, und hier, entweder vor der Hausnummer 38 oder 39, stand manchmal der rote Mercedes 300 SL von Horst Buchholz, um den wir Jungs uns gerne gescharrt haben.“ Der Schauspieler, dessen Pflegeeltern hier wohn- ten, sei für sie nicht interessant gewesen, gesteht Ralf Lambertz: „Aber sein Auto!“ Später kam dann auch das Interesse am Kino dazu. Jeden Sonntag ging es nach- mittags für 60 Pfennig Eintritt zur Jugendvorstellung in eines der zahlreichen Kinos an der Hermannstraße. „Am liebsten mochten wir Western“, sagt er. „Den ersten berliner miedermanufaktur_schillerpalais_schillerpromenade neuköllnFernseher haben wir erst 1961 bekommen, da war ich also schon 20.“

Sehr genau weiß der Pensionär, der beim Landeseinwohneramt arbeitete, ebenfalls noch, wo welches Geschäft im Kiez seiner Kindheit und Jugend war. „Ganz viele Kar- toffelläden und Kneipen gab es und fast in jeder Straße mindestens einen Frisör.“ In der Schillerpromenade 1, seit über einem Vierteljahrhundert Adresse der Lesben-Initiative RuT – Rad und Tat e. V., hängen nach wie vor die Fliesen der Fleischerei Hille an den Wänden. „Nebenan war ein Kfz-Reparaturbetrieb, daneben eine Drogerie und zwei Häuser weiter ein Lebens- mittelladen und eine Gaststätte.“ Sogar die Namen der meisten Geschäftsinhaber kennt Ralf Lambertz noch: „Es gehörte sich eben, dass man sie namentlich grüßte, wenn man in einen Laden kam.“ Die Was-war-wo?-Liste, die er zur Vorbereitung des Spaziergangs, um den wir ihn gebeten hatten, erstellt hat, bräuchte er nicht; sie ist vor hof schillerpromenade 42_neuköllnallem eine Gedankenstütze für uns.

Die Erinnerungen, an denen er uns teilhaben lässt, lassen das Bild eines Viertels entstehen, das so gar nicht zu den Eindrücken anno 2015 passt. Bis weit in die 1950er Jahre seien Spuren des 2. Weltkriegs allgegenwärtig gewesen. „Ein Haus in der Selchower Straße, das an unseren Hof anschloss, war von einer Bombe getroffen worden und nur noch ein Trüm- merberg, auf dem wir herrlich spielen konnten.“ Später ist dort eine Kastanie gepflanzt worden. „Am Herrfurthplatz waren einige Häuser zerstört, und die Genezareth-Kirche war eine Ruine, vor der wir Kinder uns gruselten.“ Erst zwischen 1954 und 1959 erfolgte der Wiederaufbau. „Meine Einsegnung“, erzählt Ralf Lambertz, „hat deshalb im Gemeindehaus an der gemeindehaus genezareth-gemeinde_ev schule neuköllnEcke Allerstraße stattgefunden.“ Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude ist seit 2006 und noch bis 2017 größtenteils an die Oberstufe der Evangelischen Schule Neu- kölln vermietet. Was danach mit der Lie- genschaft geschehen soll, ist unklar. Die Genezareth-Gemeinde plant, sie zu verkau- fen, dagegen regt sich nun jedoch Wider- stand aus dem Gemeindekirchenrat.

Hier, in Höhe der Allerstraße, habe der „etwas weniger gute Bereich des Kiezes“ angefangen, erinnert sich Ralf Lambertz. Wiewohl die Schillerpromenade grundsätz- lambertz_steinle_schillerpromenade neuköllnlich „die Topgegend von Neukölln“ gewesen sei. Schillerkiez hat damals natürlich niemand gesagt, der Begriff wurde erst später erfunden. „Über Hundekacke auf dem Bürgersteig hat sich früher übrigens auch keiner aufgeregt.“ Und dass Leute ihren großen und kleinen Müll vor die eigene Haustür schmissen, sei schlichtweg nicht vorgekommen. Man merkt, dass er noch heute stolz darauf ist, im besseren Teil der spielplatz schillerpromenade_kienitzer straße_neuköllnSchillerpromenade aufgewach- sen zu sein. „Die Neuköllner“, so sein Eindruck, „waren doch schon immer stolz, Neuköllner zu sein.“

Bis zur Schule hatte er es zunächst nicht weit: Aus der Haustür, etwa 200 Meter in südliche Richtung, über den Herrfurthplatz und schon war er da. „Eingeschult wurde ich in der Karl-Weise-Schule.“ Anschließend ging Ralf Lambertz in die Boddinschule, danach auf die Rütlischule und dann in die Karlsgartenschule, wo er 1957 seinen mittleren Schulabschluss machte. „Erst 2007, das heißt 50 Jahre später“, erzählt er, „kam es zum einem ersten Klassentreffen.“ Von den 45 Mitschülerinnen und -schülern fanden sich immerhin noch 27 zur Wiedersehensfeier in der Villa Rixdorf am Richardplatz ein. „Die Jungs habe ich zu 90 Prozent erkannt, von den Mädchen keine einzige.“ Frauen, meint er, würden steinle_lambertz_tempelhofer feld_neuköllnsich wohl stärker verändern.

Wir lotsen Ralf Lambertz zum Tempelhofer Feld. Entlang der Oderstraße habe es damals einen schönen Park gegeben. „Dort hat uns der dicke Schupo vom Polizeirevier in der Selchower Straße, der immer im Viertel Streife lief, oft von den Bäumen runter- gepfiffen“, erzählt er. „Dass die Treppe wirklich so breit und steil war …“ Lambertz ist irritiert. „Die meisten Dinge sind doch viel kleiner als in der kindlichen Erinnerung, wenn man sie als Erwachsener wiedersieht.“ Von den Treppen habe es übrigens mehrere gegeben. Er deutet in Richtung Norden: „Als Kinder sind wir in ganz Neukölln rumgestromert, aber im Mai ging es natürlich immer zum Rummel im Jahnpark, wie der Volkspark Hasenheide früher hieß, und im Sommer ins Columbiabad.“ Gelernt habe er das Schwimmen aber – wie die meisten Neuköllner edeka wüst_herrfurthplatz neuköllnKinder – im Stadtbad in der Ganghofer- straße.

Wir gehen zurück ins Zentrum des Kiezes, zum Herrfurthplatz. Das Haus, das auf des- sen südöstlicher Seite nicht dem 2. Weltkrieg zum Opfer fiel, ist deutlich auszumachen. Wir bieten Ralf Lambertz an, den Spaziergang entlang der Stätten seiner Kindheit und genezareth-kirche neuköllnJugend in der Genezareth-Kirche enden zu lassen. Es ist eine Premiere für ihn: „In der war ich noch nie drin gewesen.“ Aus dem Ort, der früher bei ihm für gruselige Momente sorgte, ist einer geworden, der ihn nun positiv zu beeindrucken vermag.

Ob er es bereut, den Schillerkiez vor 52 Jahren ver- lassen zu haben und sich vorstellen könnte, wieder hier – wo die Veränderungen im schnelleren Takt als in anderen Regionen Neuköllns schlagen – zu leben? lambertz_steinle_genezareth-kirche neuköllnNein, er fühle sich sehr wohl in Mahlow, wo er nach einigen Umzügen innerhalb von Berlin sei, sagt Ralf Lambertz (r.). „Aber das, was in Neukölln passiert, verfolge ich trotz- dem auch jetzt noch interessiert: Einmal Neuköllner, immer Neuköllner.“ Als Tipp ge- ben wir ihm mit auf den Weg, doch mal den historischen Krimi „Der nasse Fisch“ von Volker Kutscher zu lesen. In dem wird auch das Polizeirevier erwähnt, das es noch in Ralf Lambertz‘ Kindheit im Schillerkiez gab.

=ensa/Reinhold Steinle=

Am 24. Januar führt unser Autor und Stadtführer Reinhold Steinle wieder durch den Schillerkiez und das angrenzende Rollbergviertel. Start ist um 14 Uhr bei „My Back & Coffee“ in der Hermannstraße 221. Kosten: 10 bzw. 7 Euro (Studenten, ALG II). Anmeldung: reinhold_steinle[at]gmx.de
Sicher wird auch auf den Spaziergang mit Herrn Lambertz eingegangen.

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