Nicht allzu viele Schriftstellerschicksale sind mit dem Namen Neukölln verknüpft. Das von Erich Mühsam, der mehrere Jahre in der Britzer Hufeisensiedlung wohnte, ist eines der wenigen. Auch deshalb eröffnete die Galerie Olga Benario in der Richardstraße Donners- tagabend die Ausstellung „Menschen, lasst die Toten ruh‘n und erfüllt ihr Hoffen“. Gezeigt werden Zeugnisse des Dichters, Publizisten, Anarchisten und Kriegsgegners Mühsam, der von Dezember 1924 bis Februar 1933 mit seiner Ehefrau Kreszenzia („Zenzl“) in einem kleinen Haus in der Dörchläuch- tingstraße lebte. Zusammengestellt wurde die Ausstellung von Hans Hübner, der gemein- sam mit Angela Friedrich die Vernissage mit einem literarischen Programm gestaltete. Erstmals hatte Hübner die Dokumente und künstlerischen Darstellungen im letzten Jahr zum 80. Todestag des unbeugsamen Anarchisten im Parteibüro der Linken in Oranienburg präsentiert: Erich
Mühsam war am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von der SS erhängt worden, woran u. a. ein Gedenkstein in der Dörchläuch- tingstraße nahe der Parchimer Allee erinnert.
„Mein Werdegang und meine Lebenstätigkeit wurden bestimmt von dem Widerstand, den ich von Kindheit an den Einflüssen entgegensetzte, die sich mir in Erziehung und Entwicklung im privaten und gesellschaftlichen Leben aufzudrängen suchten“, schrieb Mühsam, der am 6. April 1878 als Sohn eines wohlhabenden Apothekers in Berlin geboren wurde, in seiner Autobiographie. Er verstand sich als „kommunistischer Anarchist“, passte damit aber in keine gängige Schublade, sondern eckte überall an. Sein bekanntestes Werk ist die bereits 1907 als Spottgedicht gegen die SPD verfasste Ballade vom Revoluzzer, der von Beruf Lampenputzer ist: Statt sich an der Revolution aktiv zu beteiligen schreibt der Lampenputzer ein Buch darüber, „wie man revoluzzt und dabei noch Lampen putzt“, weil er sich vor der Gewalt und der Macht der Arbeiterklasse fürchtet. Viele seiner anderen Gedichte, die inzwischen in drei Bänden zusammengefasst wurden, sind allerdings ebenso unbekannt wie vier Theaterstücke, die Erich
Mühsam verfasste.
Hans Hübner (r., neben Angela Friedrich) wurde auf den Dichter, Publizisten und poli- tischen Redner aufmerksam, als er im Antiquariat eines Tages das Buch „Der Leidensweg Erich Mühsams“ von Kreszenzia Mühsam entdeckte. Hübners Vater war von 1933 bis 1934 ebenfalls im KZ Oranienburg, ohne Mühsam allerdings jemals begegnet zu sein. Besonders empfehlen kann Hans Hübner an diesem Abend das frisch vom Verbrecher Verlag herausgegebene Mühsam-Lesebuch „Das seid ihr Hunde wert!“. Die ebenfalls dort erschienenen Tagebücher aus den Jahren 1910 bis 1924 seien „ungeheuer wichtig“, fügt er hinzu, schränkt allerdings ein, dass sich eine An- schaffung der Bände nur für echte Mühsam-Kenner lohne.
Begleitend zur Ausstellung gibt es bis zum 26. Februar an jedem Don- nerstag um 19.30 Uhr eine Themenveranstaltung in der Galerie Olga Benario (Richardstr. 104): Den Aufstieg der NSDAP in Britz von 1925 bis 1933 behandelt am 22. Januar der Vortrag des Historikers Bernd Kessinger. Eine Woche danach, am 29. Januar, geht es in die Gegenwart: Jürgen Schulte stellt die seit drei Jahren bestehende Anwohnerinitiative Hufeisern gegen rechts vor.
=Christian Kölling=
Filed under: berlin, neukölln | Tagged: angela friedrich, bernd kessinger, buch "das seid ihr hunde wert" (verbrecher verlag), buch "die nationalsozialisten in berlin-neukölln 1925 - 1933" (vergangenheitsverlag), erich mühsam, galerie olga benario, hans hübner, hufeisensiedlung, jürgen schulte (hufeisern gegen rechts), mühsam-tagebücher, neukölln, verbrecher verlag berlin |