Postkarten, Fotos, Briefe und Tagebücher: ein Kapitel Weltgeschichte in Neukölln

erinnerung-installation_tacheles-künstler_lilienkulturgarten neuköllnUm mit jemandem zu sprechen, der alles miterlebt hat, ist es zu spät. „Der letzte Teilnehmer des 1. Weltkriegs ist vor einigen Jahren in Frankreich gestorben“, hat Henning Holsten, Kurator der Aus- stellung 1914/18 – Neukölln im 1. Welt- krieg, recherchiert. Und die heute 100- Jährigen waren noch Kleinkinder, als am 11. November 1918 ein Waffenstillstands-Abkommen unterzeichnet wurde, das den Krieg beendete, der weltweit fast 18 Millionen Opfer forderte. Jeder dritte erwachsene Neuköllner, d. h. rund 45.000 Män- ner, erhielt eine Einberufung zum Kriegsdienst: Etwa 6.600 von ihnen fielen auf den Schlachtfeldern; dazu kamen tausende zivile Opfer der katastrophalen Versorgungs- henning holsten_1. weltkrieg-ausstellung_lilienkulturgarten neuköllnlage der Kriegsjahre in Neukölln.

„Auch um sie geht es uns bei der Ausstellung, mit der wir ein Stück Alltagsgeschichte aus dieser Zeit nachzeichnen wollen“, erklärt Henning Holsten (l.). Der Historiker arbeitet seit drei Jahren für das Mobile Museum Neukölln, das weltgeschichtliche Ereignisse auf die lokale Ebene herunterbricht und die so entste- henden Sonderausstellungen zu den Neuköllnern bringt – in Shoppingcenter, Schulen oder auch ins Rathausfoyer. Für die 1914/18-Premiere suchte sich Holsten mit der lilienkulturgarten_ehrenhalle friedhof lilienthalstr neuköllnEhrenhalle des Friedhofs Lilienthal- straße einen Ort aus, den er selber – obwohl seit über einem Jahrzehnt Neuköllner – erst im letzten Jahr entdeckte. „Vorher“, gesteht er, „kannte ich das Gelände gar nicht und wusste auch nicht, dass ein Teil davon an den Nike e. V. verpachtet ist, der hier den Lilienkulturgarten eingerichtet hat.“ Für die Ausstellung habe sich der Verein sofort gewinnen lassen, lobt Holsten die Ko- operationsbereitschaft, auf die daraus resultierende Frage musste jedoch er als Kurator eine Antwort finden: Wie füllt man diesen großen Raum? Der Aspekt des kriegstagebuch gustav gräser_1. weltkrieg-ausstellung_lilienkulturgarten neukoellnWomit habe dagegen weitaus weniger Probleme aufgeworfen.

„Unser Aufruf, uns Zeitzeugnisse des 1. Welt- kriegs zur Verfügung zu stellen, brachte viel Resonanz.“ Postkarten, Fotos und Briefe wurden als Leihgaben angeboten und ermöglichten tiefe Einblicke in den Alltag der Soldaten und das Leben ihrer Familien in der Heimat. „Diese schnupftabakdose anton franke_1. weltkrieg-ausstellung_lilienkulturgarten neukoellnUnterstützung war für uns schon deshalb sehr wertvoll, weil es keine Literatur über Neukölln im 1. Weltkrieg gibt“, sagt Holsten. Tagebücher, Or- den und Gegenstände von Neuköllnern, die in den Krieg gezogen waren, rundeten die Eindrücke ab – und verblüfften auch den Kurator manches Mal: Im Kriegstagebuch eines Mannes, der bis zu seiner Einberufung einem bür- gerlichen Beruf nachgegangen war, Sätze wie „Pfaffen erschossen“ zu lesen, das beeindru- henning holsten_1. weltkrieg-ausstellung_lilienkulturgarten neukoellncke schon.

Vier Themenblö- cke gliedern die aus 16 Text-/Bild- tafeln bestehende Ausstellung: Der Weg in den Krieg veranschaulicht, wie die nahenden militärischen Auseinandersetzungen einen immer tieferen Keil zwischen Kriegsbefürworter und -gegner in Neukölln treibt. Letztere organisieren die bis dahin größten Aufmärsche, bis mit dem Kriegsausbruch am 1. August 1914 über die sozialdemokratisch geprägte Stadt wie über ganz Groß-Berlin der Belage- texttafel bernhard apelt_1. weltkrieg-ausstellung_lilienkulturgarten neukoellnrungszustand verhängt wird. Es kommt zu Massentrau- ungen, einem Run der Sparer auf die Sparkassen und zu Hamsterkäufen. In Neuköllner an der Front spitzen sich – wie Briefe an Eltern und Ehefrauen dokumentieren – die mensch- lichen Tragödien zu: „Ich bin noch gesund und munter“, schreibt Hermann Menzel seiner Gattin auf der ersten von über 100 erhalten gebliebenen Postkarten. Mit „Grüßt Willy und Gertrud, texttafel kohlrübenwinter_1. weltkrieg-ausstellung_lilienkulturgarten neukoellnund euch selbst umarmt und küßt zum letzten Male, Euer Sohn Max“ verabschiedet sich der Matrose Reichpietsch  in einem Brief von seinen in Neu- kölln lebenden Eltern, bevor er als Anführer der Matro- senrebellion von 1917 standrechtlich erschossen wird. Auch der Artillerist Bernhard Apelt ist bereits seit Tagen tot, als seine letzte Postkarte – mit einem Geburtstagsgruß an die Mutter – im Elternhaus ankommt. In die dramatischen Änderungen des Alltagslebens der Daheimgebliebenen führt der anschließende protesthochburg neukölln_1. weltkrieg-ausstellung_lilienkulturgarten neukoellnThemenblock Heimatfront Neukölln ein: Die Kindl-Brauerei produzierte wegen Malzrationierung nur noch Dünnbier, die wichtigsten Lebensmittel wurden staatlich rationiert, die Neuköllner brachen zu Hamsterfahrten auf, Frauen über- nahmen die Arbeitsplätze von Männern, der Vergnügungs- tempel Neue Welt wurde zum Lazarett umfunktioniert. Im Dezember 1917 sorgte schließlich der Neuköllner Magistrat für Aufruhr, als er in einer geheimen Denkschrift, die an die texttafel garnisonsfriedhof_1. weltkrieg-ausstellung_lilienkulturgarten neukoellnÖffentlichkeit gelangte, festhielt, dass er selber Lebensmittel zu Wucherpreisen auf dem Schwarzmarkt kaufen müsse, um die Versorgung der Bevölkerung aufrecht erhalten zu können. „Krieger und Zivilisten, Opfer und Täter und vermeintlich Unbeteiligte – sie alle wurden durch die Erfahrung des Krieges von 1914/18 geprägt, und doch hat jede und jeder von ihnen eine eigene Geschichte“, resümiert die letzte Tafel des Kriegsende-The- menblocks, die sich des Kriegsdenkens annimmt.

Dass der 1. Weltkrieg völlig im Schatten des 2. Weltkriegs steht, ist für Henning Holsten plausibel: „Er fand außerhalb unserer Grenzen statt und bedeutete keine militärische Bedrohung für die deutsche Zivilbevölkerung. Deshalb ist die Erinnerung eine ganz andere.“

Die Ausstellung des Mobilen Museums Neukölln ist noch bis zum 10. No- vember in der Ehrenhalle des Friedhofs Lilienthalstraße zu sehen. Öff- nungszeiten: Mi. – So. 12 – 17 Uhr, Eintritt: frei.
Im Rahmen der Ausstellung liest Bernhard Schmidtbauer am 24. Oktober um 19 Uhr aus seinem Buch „Als ob die Welt an allen Ecken brannte“, das die Lebensgeschichte des Neuköllners Bernhard Apelt erzählt. Apelt, 1895 geboren, war ein Großonkel des Autors: Er zog als 18-Jähriger in den Krieg und kämpfte an der Ost- und der Westfront, bevor er im April tödlich verwundet wurde. Seiner Familie blieben die Briefe, die er von der Front schickte. Sie sind das erschütternde Zeugnis einer Generation, die für Kaiser und Vaterland in den Krieg zog. Eintritt: 8 Euro/erm. 5 Euro.
Am 26. Oktober führt Kurator Henning Holsten von 14 bis 16 Uhr durch die Ausstellung „1914/18 – Neukölln im 1. Weltkrieg“. Teilnahme: 8 Euro/erm. 5 Euro, Anmeldung unter: Tel. 030 – 627 27 77 16

=ensa=

%d Bloggern gefällt das: