Ungewohntes Bild im großen Sitzungssaal des Neuköllner Rathauses: Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 14 Jahren aus acht Grund- und zwei Sekundarschulen des Bildungsverbundes Gropiusstadt saßen am letzten Donnerstag für knapp zwei Stunden auf den Bänken, die sonst für die gewählten Kommunalpolitikern des Bezirks- parlaments reserviert sind. Die Schülerinnen und Schüler nahmen gemeinsam mit mehr als 500 anderen am Schreibwettbewerb „Wenn ich in Deutschland etwas zu sagen hätte“ teil, um Bundeskanzlerin Angela Merkel in Form kleiner Reden konkrete Vorschläge zu machen, was sich im Land in Zukunft ändern müsste. Unterstützt wurde der vom Bildungsverbund Gropiusstadt unter der Leitung von Ingke Brodersen initiierte Wettbewerb vom Wohnungsbauunternehmen degewo, und nun diskutierte Schul- und Bildungsstadträtin Dr. Franziska Giffey mit den 38 Kindern, die die besten
Vorschläge gemacht hatten. Die Bezirksver- ordneten Cordula Klein und Wolfgang Hecht (beide SPD) sowie Mahwareh Christians-Roshanai (Bündnis 90/Die Grünen) waren ebenfalls gekommen, um den Reden des politisch interessierten Nachwuchses zuzu- hören und um auf Fragen zu antworten.
Mehr Rechte für Kinder, mehr Umwelt- schutz sowie mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland und auf der ganze Welt, das waren die wichtigsten Forderungen, die im BVV-Saal immer wieder zu hören waren: „Liebe Frau Merkel, wie wär‘s mit einer Um-
weltpolizei?“, fragte Lucie rhetorisch in den Saal. Ganz wie im großen Politikbetrieb wurden Forderungskataloge, 7 Tage- und 5 Punkte-Programme vorgestellt. So forderte Denis beispielsweise: „1. Es müssten gerechte Steuern für jedermann ein-
geführt werden. 2. Der Kinderschutz muss in das Grundgesetz geschrieben werden. 3. Alle, die arbeiten gehen, sollen einen Mindestlohn bekommen, der so hoch ist, dass man davon gut leben kann“. Auch die aus Politikerreden bekannten Verspre- chen und Beschwörungsformeln wurden gelegentlich eingesetzt: „Ich würde wieder Sonne in die Herzen der Menschen bringen“, be- endete Nuha vollmundig ihre Rede. Lena appel- lierte: „Das alles klingt jetzt vielleicht sehr nach einem fantasievollen Abenteuer. Aber es ist möglich – mit euch!“. Linda-Gayle reimte am Ende ihres Aufrufs:
„Ich sag’s auf allen We- gen, macht was dage- gen!“ Mit ihrem noch unverstellten Blick sprachen die Heranwachsenden allerdings ebenso unverblümt die heiklen Themen unserer Gesellschaft an: „Früher ist der Mann 40 Stunden in der Woche arbeiten gegangen und die Frau hat sich um die Familie gekümmert. Heu- te könnte man mit diesem Prinzip nicht überleben. Deswegen sollen Mann und Frau 30 Stunden in der Woche arbeiten gehen und noch Zeit für die Familie haben. So sind Familie und Beruf vereinbar“, stellte Israa kurz und bündig fest. In der Arbeitsmarktpolitik wird das heute viel um- ständlicher als „Erosion des Normal-Arbeitsverhältnisses“ oder unter dem Stichwort
„Work-Life-Balance“ diskutiert.
Gegliedert war die Diskussion in verschiedene Themenblöcke, an deren Ende Franziska Giffey jeweils auf die Fragen, Forderungen und Vor- schläge einging. Befriedigend war dieses einfache Veranstaltungskonzept immer dann, wenn ein lösungsorientierter Dialog aufkeimte – z. B. beim Thema Diskriminierung. Okan be- klagte: „Ich wurde schon öfters als Kanacke beleidigt. Man macht Ausländern sofort Vorwürfe, und bei Muslimen mit Bart denkt man sofort an Terroristen. Oder bei polnischen Mitbürgern sofort, dass sie irgendwas geklaut haben. Das ist echt gemein, weil wir die deutschen Mitbürger auch nicht gleich als Nazis beleidigen.“ Die Stadträtin nahm diese Klage in ihrer Antwort auf: „Man geht so locker mit den Schimpfwörtern um, die sich auf andere Nationalitäten beziehen. Dagegen kann jeder etwas tun“. Die Bezirksverordnete Mahwareh Christians-Roshanai wies auf das Netzwerk Schule ohne Rassismus hin und ergänzte an den Jungen gerichtet: „Ihr müsst miteinander ins Gespräch kom- men. Wenn man Menschen nicht kennt, dann schreibt man ihnen oft irgendetwas zu.“
Schade, dass nur die wenigsten Forderungen tatsächlich in der Zuständigkeit des Bezirkes liegen. Oft haben das Land Berlin oder gar der Bund die notwendigen Kompetenzen – egal ob es um mehr innerstädtische Freiflächen und Kinder- spielplätze oder um den Vorschlag geht, mit dem Unterricht erst um 9 Uhr anzu- fangen, damit alle ausgeschlafen zur Schule kommen können. Bezirksstadträtin Dr. Giffey musste deshalb öfter passen, wenn es konkret um Lösungen ging. „Wir haben kein Geld und können in Neukölln nur 11 Millionen Euro ausgeben. Wir sind längst nicht für alles zuständig“, erläuterte sie deutlich. Ob die Kinder und Jugendlichen das aber wirklich verstanden haben?
Schöner Schlusspunkt am Ende des Vormittags: Nach der Diskussion im BVV-Saal durften alle den Rat- haus-Turm besteigen. Trotz einiger Wolken am Himmel waren die Skyline der Gropius- stadt sowie die Bau- ten am Potsdamer Platz zu sehen, und die Teilnehmer des Schüler-Schreibwettbewerbs „Wenn ich in Deutschland etwas zu sagen hätte“ konnten viele schöne Fotos schießen.
=Christian Kölling=
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