Auf der nördlichen Rollbahn des Tem- pelhofer Feldes hatte das Bündnis „Wahlrecht für Alle“ gestern ein symbo- lisches Wahlbüro eingerichtet. Einen Tag vor Europa-Wahl und Volksent- scheid konnten hier alle nicht wahl- berechtgten Berlinerinnen und Berli- ner beide Abstimmungsfragen zum Tempelhofer Feld beantworten. Wahl- berechtigte Deutsche wurden bei ei- nem ebenfalls symbolischen Voting gefragt, ob Ausländer mit bzw. ohne EU-Pass in Zukunft das Recht erhalten sollten, an Volksentscheiden im Land Berlin teilzunehmen. Gemeinsam hatten In- und Aus- länder vor allem aber auch die Möglichkeit, sich einen Berlin für Alle-Pass ausstellen
zu lassen, um damit zu dokumentieren, dass die formale Staatsangehörigkeit beim Berlinersein nicht wichtig ist.
Auf einer mehrere Meter langen Papierrolle, die neben dem provisorischen Wahltisch und der säulenförmigen Wahlurne aus Sperrholz und Plexi- glas auf dem Boden lag, konnten Prominente und Unbekannte notieren, warum sie das Wahlrecht für Alle fordern: „Wahlrecht schafft Beteiligung“ hatte Raed Saleh, SPD-Fraktions- vorsitzender im Berliner Abgeordnetenhaus mit rotem Stift auf das Papier geschrieben. Etwas darüber mit schwarzem Filzstift die Stellungnahme von Dr. Susanna Kahlefeld, partizipationspolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus: Sie spricht sich für das Wahlrecht für Alle aus, weil „…Jede*r da mitbestimmen sollte, wo er/sie lebt!“.
„Wählen ist ein Menschenrecht!“, er- klärte Hakan Tas, partizipations- und flüchtlingspolitischer Sprecher der Lin- ken im Abgeordnetenhaus. Er sprach damit sicherlich vielen migrationserfah- renen Menschen aus dem Herzen, die überhaupt nicht verstehen können, weshalb sie in Berlin zwar wohnen, leben, arbeiten und Steuern zahlen, aber nicht wählen dürfen. Die US-Amerikanerin Hillary (l.), die in Berlin zwar mit Niederlassungsrecht lebt, aber nicht einmal als Wahlhelferin tätig werden kann, fragt sich: „Warum darf ich nicht einmal im Wohnbezirk wählen? Das ist hier auch mein Rathaus, meine Straße, meine Kita, meine Schule und mein Park!“
Nach Angaben des Bündnisses „Wahlrecht für Alle“ sind ca. 487.000 bzw. 16 Prozent der in Berlin lebenden Menschen ohne deutschen Pass und deshalb z. B. auch von der Abstimmung über die künftige Nutzung des Tempelhofer Felds ausge- schlossen. „In den angrenzenden Bezirken Neukölln, Kreuzberg und Tempelhof-Schöneberg“, heißt es im Berlin für Alle-Pass, „sind über 160.000 Berliner_innen vom Ergebnis des Volksentscheides direkt betroffen – ohne mitbestimmen zu dürfen!“ Die SPD-Bundestagsabgeordnete Mechthild Rawert (l., neben Dr. Susanna Kahlefeld) fordert unter anderem aus diesem Grund die SPD-Fraktion des Berliner Par- laments aktuell auf, „gesetzgeberische Mög- lichkeiten zu prüfen und zu erörtern, das Recht auf Teilnahme an Volksbegehren un- abhängig von der Staatsbürgerschaft zu gewähren“. Das kommunale Wahlrecht für Ausländer – auch aus Drittstaaten, die der EU nicht angehören – ist schon länger eine Forderungen der SPD auf Bundesebene.
Die Wahlrechtsforderungen der Piraten und der Linken sind derzeit wohl die weit- reichendsten. Fabio Reinhardt, migrationspolitischer Sprecher der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus, will sich am liebsten ganz vom Prinzip der Staatsangehörigkeit beim Wahlrecht verabschieden: „Wenn Menschen hier in Berlin leben, dann sollen sie nach einer gewissen Zeit das Wahlrecht erhalten – ganz unabhängig davon, welche Staatsangehörigkeit sie haben.“ Die Linke will ebenfalls das allgemeine Wahlrecht einschließlich des Wahlrechtes zum Bundestag für alle, wenn sie für eine gewisse Zeit, „über die man streiten könne“, ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Im im Frühjahr 2014 erfuhren allerdings alle Befürworter des Ausländer- wahlrechts einen Dämpfer. Die Bürgerschaft der Hansestadt Bremen wollte es EU-Bürgern mit breiter Mehrheit von SPD, Linken und Grünen ermöglichen, auch bei Landtagswahlen – und nicht nur bei Kommunalwahlen – ihre Stimme abgeben zu können. Doch der Bremer Staatsgerichtshof lehnte dieses Vorhaben in seinem Urteil mit der Begründung ab, dass zum Volk und damit zum Wahlvolk nur die deutschen Staatsangehörigen zählen würden. Nach Ansicht von Martin Wilhelm, Geschäfts- führer von Citizens for Europe e. V., einer Mitgliedsorganisation des Bündnisses „Wahlrecht für Alle“, hat das Bremer Urteil weitreichende Konsequenzen: „Wir müs- sen jetzt an den Bundestag ran- gehen. Das können wir als kleiner Verein aber nicht allein. Wir brau- chen ein bundesweites Bündnis zum Thema Wahlrecht!“ Allerdings ist Wilhelm selber sehr skeptisch, ob eine Zweidrittel-Mehrheit zur Änderung des Grundgesetzes zu- stande kommen kann. In der Bevölkerung sei den letzten Um- fragen zufolge eine knappe Mehr- heit von 48 Prozent zu 46 Prozent gegen das Wahlrecht in den Landtagen für Ausländer.
Ungeachtet dessen bleibt die Forderung nach dem Kommunalwahlrecht, das EU- Bürgern bereits zusteht, auch für Drittstaat-Angehörige ohne EU-Pass bestehen. Für viele ist die deutsche Staatsangehörigkeit keine Option, weil sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit nicht einfach aufgeben können. Der Doppelpass wird aber weiterhin viel zu selten ausgestellt. „Von den Zuwanderern wird immer mehr verlangt“, berichtete Susanna Kahlefeld aus der kommunalen Praxis. „Sie sollen sich in der Schule, im Quartiersmanagement, bei Gewerkschaften und in Parteien stärker enga- gieren – aktiv wie die Deutschen sein, aber sie bekommen nicht das Gleiche zurück: Partizipation heißt ‚Teilhabe‘ und darin steckt das Wort haben!“
=Christian Kölling=
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