Vier Steppkes mit tiefschwarzen Haaren und braunen Augen von der Trommelgruppe der Jugendkunstschule Neukölln machten vorges- tern Abend den Auftakt beim Fachgespräch „Roma-Kultur-Europa“. Zu dem hatten Bettina Jarasch, Landesvorsitzende der Berliner Grü- nen, und die direktgewählte Neuköllner Wahl- kreisabgeordnete Dr. Susanna Kahlefeld ins Young Arts Nk in der Donaustraße eingeladen. „Wir sind eine pro-europäische Partei. Alle The- men, die uns wichtig sind, sind eigentlich nicht innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen zu lösen. Europa ist eine Riesenchance für uns alle, friedlich und gut zusammenzuleben. Wir wollen nicht auswählen, wer aus Europa zu uns nach Berlin kommen darf und wer nicht.“ Mit wenigen Sätzen umriss Bettina Jarasch, wofür ihre Partei im Europa-Wahlkampf eintreten will. Positionen, für die es wahrscheinlich viel Gegenwind geben wird, wie die Anfang des Jahres geführte Debatte über Armutswanderung und Arbeitsnehmerfreizügigkeit er- warten lässt.
Obwohl Sinti seit mehr als 600 Jahren in Deutschland als Minderheit leben und die ersten Roma zur Mitte des 19.Jahrhunderts während der Industrialisierung aus Un- garn und Polen einwanderten, werden beide Bevölkerungsgruppen in der Mehr- heitsgesellschaft oft als Vorzeigebeispiele integrationsunwilliger oder -unfähiger Gruppen wahrgenommen. Für die Grünen-Politikerin Susan- na Kahlefeld (r.) sind sie da- gegen eher „vernachlässigte Europäer“, deren Leben daran erinnert, dass die europäische Wertegemeinschaft auch So- zialstandards sowie die Wah- rung der Menschen- und Minderheitenrechten braucht. Deshalb seien politische Initiativen nötig, die in der Zivilgesellschaft und auf unterster kommunaler Ebene be- ginnen sollten und bis in die obersten Etagen der europäischen Politik reichen müss- ten. Unverzichtbar sei einerseits eine Politik auf gleicher Augenhöhe, andererseits aber auch die Stärkung der politischen Selbstorganisation.
In zwei parallel laufenden Panels diskutierten die Teilnehmer des Fachgespräches deshalb über positive oder negative Klischees, die eine realistische Wahrnehmung der Sinti und Roma verhindern, sowie über politische Einflussnahmemöglichkeiten auf allen Ebenen zu Beginn der Dekade der Roma in Europa.
Barbara Lochbihler, Abgeord- nete im Europäischen Parla- ment, unterstrich wie notwendig es ist, die Bereiche Wohnen, Bildung, Gesundheit und Arbeit immer gleichzeitig im Auge zu behalten, um dem Teufelskreis aus Armut und mangelnder Qualifikation zu entgehen. Der desolaten Situation, die der Deutsche Städtetag zu recht in Städten wie Dortmund, Köln oder Duisburg kritisiere, stünde eine noch viel katas- trophalere Situation in manchen Gegenden Rumäniens, Bulgariens und Ungarns gegenüber, wo Roma teilweise sogar ohne Wasser und Strom unter Dritte-Welt- Bedingungen leben müssten. Romeo Franz, Politiker aus Rheinland-Pfalz und bis 2013 Vorstandsmitglied im Zentralrat der deutschen Sinti und Roma, fügte zum Teu- felskreis aus Diskriminierung, Armut und Vernachlässigung an: „Man kennt die Ursa- che. Die Ursache ist der Antiziganismus. Das ist der Defekt der Mehrheitsgesell- schaft.“ Für Franz und viele andere ist es schwer, den Vorurteilen zu entkommen, obwohl er unmissverständlich sagt: „Ich bin in erster Linie Deutscher. Ich bin ein deutscher Sinto.“ Daniel Ibraimovic, Mitarbeiter von AspE e.V. im Wohnprojekt Harzer Straße, musste bestätigen, wie sehr die Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung das Denken deutscher Sinti und Roma bestimmt: „Ich kenne eine Menge Leute, die Angst davor haben, sich als Sinti oder Roma zu outen, obwohl sie im Leben er- folgreich sind.“
In Duisburg, wo gerade ein Problem- Haus für bundesweite Aufmerksam- keit sorgte, setzen die veränderungs- willigen Politiker der dortigen rot-rot-grünen Koalition vor allem auf die Ent- wicklung und Pflege zivilgesellschaft- licher Kontakte. Matthias Schneider aus der Stadt mit Europas größtem Binnenhafen wies auf die Arbeit des Runder Tisch e. V. im Stadtteil Marxloh hin, der auch in Krisensituationen interveniert. Eines Tages wurden Roma-Jugendliche verdächtigt, nachts alle Bäume eines Obstgartens abgeerntet zu haben. Die beschuldigten „Zigeuner“ waren tatsächlich die Diebe. Wie der Runde Tisch Marxloh aber auch erfuhr, hatten sie Hunger, und es gab tatsächlich nichts anderes zu essen für sie. Obstgärtner und Roma einigten sich deshalb, dass im nächsten Sommer ein Teil der Ernte für die Roma übrig blieb, denn die nur für den Eigenbedarf produzierenden Gärtner hatten an sich genügend Obst. Sie ärgerten sich vor allem über den nächtlichen Diebstahl, weniger über die verlorenen Früchte.
Neben ganz praktischen Beispielen waren aber ebenso Handlungsempfehlungen für die Politik gefragt. Romeo Franz lobte hier ausdrücklich die Politik der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg. Mit einem Staatsvertrag, der die Anerken- nung der baden-württembergischen Sinti und Roma und ihre Förderung als na- tionale Minderheit garantiert, sei es Ministerpräsident Kretschmann gelungen, das schwierige Verhältnis auf neue Beine zu stellen. Abhängig von der jeweiligen Situation könnte aber auch weitergehende Lösungen wie die verfassungsmäßige Garantie von Minderheitenrechten in Schleswig-Holstein sinnvoll sein. Selbst ganz niedrigschwellige Rahmenvereinbarungen, die Rheinland-Pfalz und Bremen schlos- sen, könnten nach Ansicht von Franz im konkreten Fall nützlich sein.
Und in Berlin? Aus dem Publikum wurde die allgemeine politische For- derung laut, sich in ganz Europa auf die Einhaltung der Kopenhagen-Kri- terien zu besinnen. Sie legen seit dem EU-Gipfel 1993 in Artikel 2 des EU-Vertrages die Achtung der Men- schenrechte Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit, Min- derheitenschutz, Nichtdiskriminierung und Toleranz als europäische Grundwerte fest. Konkret ist das Wohnprojekt Harzer Straße ein vielbeachtetes und gelungenes Beispiel für die soziale Integration. Daniel Ibraimovic von AspE e.V. will eigentlich ein Wohnprojekt und Angebote für alle Menschen, nicht nur für Sinti und Roma: „Wir sind keine eigene Spezies – keine Wesen von einem anderen Planeten, und auch ich habe Vorurteile wie alle anderen Menschen“, fasste er seine Arbeitsauffassung zusammen. Die Grünen Politikerinnen Jarasch und Kahlefeld wünschten sich mehr solcher Projekte in ganz Berlin. Die katholische Aachener Wohnungsbaugesellschaft, die auch in Neukölln das Arnold-Fortuin-Haus initiierte, leiste als Ausfallbürge für das Land Berlin eine Arbeit, die eigentlich von den sechs städtischen Wohnungsgesell-schaften geleistet werden könnte.
=Christian Kölling=
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