Meist reichen schon Kleinigkeiten, damit Unbehagen in Angst umschlägt: mit Schriftstücken übersäte Schau- fenster oder Kugelschreiber und Formulare direkt neben der Eingangstür. Es sind Signale, die abschreckend wirken – auf alle, die nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben können. Also auf etwa 28.000 Men- schen, die in Neukölln leben, oder mehr als 300.000 Berliner. Gedanken über die Wirkung solcher Alltäg- lichkeiten macht sich aber kaum jemand, weil das Thema Analphabetismus im Bewusstsein derer, die lesen und schreiben können, häufig die Relevanz einer Marginalie hat. Zu unvorstellbar ist ein Leben in einer Parallelwelt ohne diese Fertigkeiten.
So ergeht es zum Leidwesen der Betroffenen auch vielen, die bei ihrer Arbeit in sozialen oder kulturellen Einrichtungen, Ämtern, Arztpraxen und medizinischen Bera- tungsstellen häufig mit funktionalen An-Alphabeten zu tun haben. Insoweit unter- scheidet Neukölln sich nicht von anderen Berliner Bezirken – und Regionen Deutsch- lands. Durch das Engagement des Alpha-Bündnisses Neukölln hat hier jedoch ein Umdenken eingesetzt, das – so wenigstens ist es beabsichtigt – immer weitere Kreise ziehen soll. Inzwischen wurden Mitarbeiter von rund 30 Institutionen im Be- zirk in Sachen Alpha-Kompetenz geschult.
Eine typische Laufbahn zur erfolgreichen Umsetzung der Intention hat Mahi Christians-Roshanai mit der Schülerhilfe Maja eingeschlagen, die seit 14 Jahren unweit des S-Bahnrings individuelle Nachhilfe von der Grundschule bis zum Abitur anbietet. Zuerst habe man als Alpha-Bündnis-Partner an dessen Plenen teilgenommen und dann an einer Alpha-Kompetenz-Schulung, bei der zusammen mit Lernern, d. h. ehemaligen Analphabeten, ein Konzept entwickelt wurde, das „sich an die Bedürfnisse der Zielgruppe richtet und realistisch umgesetzt werden kann.“ Die Sensibilität für das Thema An-Alphabetismus sei bereits vorher vorhanden gewesen, die Fortbildung aber habe bewirkt, „dass ich noch sensibler auf mein Umfeld achte und dem Thema noch respektvoller gegenüberstehe“, beschreibt Mahi Christians-Roshanai den Prozess. Etwa 50 Prozent der Eltern ihrer Schüler, die aus ganz Neukölln kommen, könnten nicht oder nicht richtig lesen und schreiben, schätzt sie: „Ich weiß jetzt, wie ich Hilfe anbiete, ohne Scham zu bewirken. Die Angebote an die Eltern habe ich ausgeweitet, um sie im Alltag zu unterstützen. In den Unterricht in- tegriere ich das Thema, weil ich die Schü- ler*innen sensibilisieren möchte.“
Neben 10 anderen Einrichtungen im Bezirk bekam auch die Schülerhilfe Maja inzwi- schen den Alpha-Kompetenz-Aufkleber ver- liehen, ein Gütesiegel mit prägnanter Au- ßenwirkung, Symbolkraft und dem State- ment „Wir helfen beim Lesen und Schrei- ben“, das vom Alpha-Bündnis Neukölln entwickelt wurde. „Die Schüler und Eltern freuen sich über den aufgeschlossenen Umgang mit dem Thema“, so Mahi Christians-Roshanai, „erzählen es weiter, und jeder, der an meiner Schülerhilfe Maja vorbeikommt und zur Zielgruppe gehört, weiß, dass er herzlich willkommen ist und offen empfangen wird.“ So soll es sein, ist es aber nicht überall.
Bisher habe es noch keinerlei Reaktionen auf den grün-rot-weißen Sticker gegeben, der am Vor-Ort-Büro des QM Richardplatz Süd klebt, bedauert Quartiersmanagerin Suzan Mauersberger. Zusammen mit Lernern vom Lesen und Schreiben (LuS) e. V. hat die Einrichtung eigens einen Flyer in leichter Sprache entwickelt, der Menschen mit Alphabetisierungsdefiziten die Ar- beit des Quartiersmanagements nebst der Mitwirkungsmöglichkeiten für Anwohner beschreibt. Für im Umgang mit der Schriftsprache Ge- übte sieht er zunächst etwas be- fremdlich aus: Längere Wörter sind mit Trennungsstrichen gegliedert, vie- le Satzfragmente wiederholen sich. „Lernerschrift ist redundant“, erklärt eine LuS-Mitarbeiterin. Beim Nach- barschaftszentrum Wutzkyallee hat die neu erworbene Alpha-Kompetenz erstmals dazu geführt, dass ein Infozettel für eine Veranstaltung „zweisprachig“ bedruckt wurde. „Wir haben es ohne die Unterstützung von Lernern probiert und fragen uns nun: Ist das Erstklässlersprache oder passt das?“, lauten die Zweifel an dem Experiment.
Sie konnten entkräftet werden.
Bei anderen Einrichtungen, die Träger des Alpha-Aufklebers sind, steht die praktische Umsetzung des Anspruchs, die Hürden für Menschen mit einer Lese- schwäche zu reduzieren, noch auf der Agenda: Im Büro der Bürgerhilfe Berlin e. V. in der Neuköllner Aller- straße, das bei Wohnungsnotfällen eingreift, entstand die Idee, funktionalen An-Alphabeten das Verstehen von Beschriftungen, Informationsbroschüren und Anträ- gen durch bildsprachliche Symbole zu erleichtern. So weit ist man im Bezirksamt noch nicht. „Bisher haben nur die Volkshochschule Neukölln und die Stadtbib- liothek an der Schulung teilgenommen“, informiert Bildungsstadträtin Dr. Franziska Giffey. Aber sie werbe bei den Abteilungen der Behörde bereits intensiv für eine Teil- nahme an der Alpha-Kompetenz-Fortbildung und der Sensibilisierung der Mitar- beiter für die Bedürfnisse von An-Alphabeten: „Da ist noch viel Schulungspotenzial bei den Kollegen.“
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