Die evangelische Martin-Luther-Gemeinde in Neukölln widmet sich in diesem Jahr einem sehr ambitionierten Projekt: einer Geschichtswerkstatt zum 1. Weltkrieg. Es sollen Antworten gefunden werden auf Fragen wie: Was prägte das Zusammenleben der Gemeinde, als ein Viertel der männ- lichen Bevölkerung in den Krieg ziehen musste? Wie haben die Menschen die unbeschreibliche Notlage, für die der Kohl- rübenwinter als Synonym steht, überlebt? Wie spielte sich der Alltag in den unvor- stellbaren Wohnverhältnissen der Mietska- sernen ab, mit hoher Kinder- und Jugendsterblichkeit und wo die Lungentuberkulose Volkskrankheit Nr. 1 war? Welche Auswirkungen auf das soziale Leben hatten die Botschaften: Ehemann, Vater, Sohn, Bruder gefallen? Was taten die damaligen Seel- sorger, um die traumatischen Erlebnisse verarbeiten zu helfen? Kurz: Wie haben die Menschen vor hundert Jahren in diesem Kirchenbezirk gelebt und wie war ihre Haltung zu den weltpolitischen Geschehnissen?
Sich diesem Themenkreis zu nähern, hatten die Gemeindepfarrer Anja Siebert-Bright und Alexander Pabst zu einem ersten Treffen eingeladen. Die Kreisarchivarin des Ev. Kirchenkreises Neukölln, Ursula Bach (l.), die
das Gesamtpro- jekt leitet, stellte zusammen mit dem Historiker Peter Hu- dek (r.) die Hauptthemenbe- reiche und auch schon erste Rechercheergebnisse vor.
So lagen u. a. aus dem Kirchlichen Gemeindeblatt für Neukölln, das anfangs noch wöchentlich aus allen fünf Kirchenbezirken (Magdalenen, Genezareth, Martin Luther, Nikodemus und Philipp Melanchthon) berichtete, Kopien der Ehrentafeln mit den Namen und Adressen der
Gefallenen und Verwundeten vor.
Peter Hudek hatte den eigenen Familienschatz in Form eines Albums mit Fotos, Ansichtskar- ten und Feldpostkor- respondenz dabei, das lebhaftes Interesse bei den Anwe- senden erzeugte.
Die Protagonisten der Geschichtswerkstatt sind sich schon klar darüber, dass es keine direkten Zeitzeugen mehr gibt, dass auch die Kinder und Kindes- kinder zumeist nicht im Kiez geblieben sind bzw. die Älteren, die jetzt hier leben, aus anderen Regionen stammen. Dennoch sollen neben In- stitutionen wie dem Museum Neukölln, Stadt- und Zeitungsarchiven auch Privatpersonen be- fragt und bei ihnen nach Erinnerungsstücken gesucht werden. Das Resultat soll im Novem- ber in einer Broschüre seinen Niederschlag finden.
Aber es gibt noch andere Ideen, sich dem Thema zu nähern. So ist eine Exkursion auf die Garnisonsfriedhöfe denkbar. Oder das Feiern eines Gottesdienstes mit Predigt und Liturgie wie vor hundert Jahren. Darüber hinaus ist im Sommer eine Reise zu den englischen Partnergemeinden St. Andrew’s Church, Enfield und St. Martin in the Fields geplant. Hier werden natürlich auch die Sichtweisen auf den Great War, der im Vereinigten Königreich bis heute einen ganz anderen Stellenwert als bei uns hat, im Mittelpunkt der Begegnungen stehen. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu wissen, dass sowohl die englischen als auch die deutsche Gemeinde dasselbe Bibelwort für sich in Anspruch nahmen, nämlich Johannes 15,13: Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.
Das erste Treffen der Geschichtswerkstatt endete mit der Bitte, Ausschau zu halten nach Menschen, die mittun möchten, beim Kramen in Gedächtnissen, Familienalben und anderen Zeitzeugnissen.
Wer in die Welt von damals eintauchen und sich an der Geschichts- werkstatt beteiligen möchte, melde sich bitte bei Ursula Bach (Tel. 030 – 611 96 11 / ursula-e-bach[at]gmx.de) oder Pfarrerin Anja Siebert-Bright (Tel. 030 – 609 77 49 22 oder -24 / anja.siebert[at]martin-luther-neukoelln.de).
Die bis dahin hoffentlich stark angewachsene Gruppe trifft sich das nächste Mal am 20. März um 18.30 Uhr im Martin-Luther-Gemeindehaus in der Ful- dastraße 48-50.
=kiezkieker=
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