„Wenn’s zu heftig wird, geh ich!“, warnt die junge Frau ihre Freundin vor. Die beiden stehen zusammen mit vielen anderen im Foyer des Cineplex Neukölln. Popcorn-Duft liegt in der Luft, aber kaum jemand glaubt, dass Popcorn zu dem Film passt, der gleich beginnt. „Demnächst geschehen Wunder“ heißt er nicht, und es ist auch kein Horrorstreifen oder Hard- core-Psychothriller, wie die Stimmung vermuten ließe: Gezeigt wird der Dokumentarfilm „The Cut“, in Anwe- senheit von Regisseurin Beryl Magoko und Produzent Andreas Frowein.
Nach der Vorführung beantworten sie gerne Fragen aus dem Publikum, kündigen sie an, bevor der Film beginnt, der 2010 als Abschlussarbeit für die Kampa- la University in Magokos Heimatdorf im Distrikt Kuria in Kenia entstand und das Thema Genitalverstümmelung behandelt. Bei 17 internationalen Festivals in Afrika, Europa und den USA ist „The Cut“ inzwischen gelaufen; sieben Auszeichnungen erhielt die Regisseurin bisher für ihren Film, der insbesondere für die sensible Herangehensweise und cineastische Umsetzung der schwierigen Thematik gelobt wird und durch das komplexe Bild beeindruckt, das Beryl Magoko von der Praxis zeichnet. Statt zu (ver)urteilen, lässt sie ihre Protagonisten erzählen: Mädchen, die schon beschnitten sind oder es noch vor sich haben, ebenso wie alte, von dem bru-
talen Ritual traumatisierte Frauen, Beschneiderinnen ebenso wie Gegner der Jahr- tausende alten Tradition, die weder religiöse Wurzeln hat, noch lediglich Frauen in Afrika betrifft, wie Andreas Frowein betont. „Das Europäische Parlament“, teilt Terre des Femmes mit, „schätzt die Zahl der betroffenen Frauen, die innerhalb der EU leben, auf circa 500.000. Mädchen, die in einem EU-Land leben und deren Familien aus einem Herkunftsland stammt, in dem weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation = FGM) weit verbreitet ist, sind potentiell in Gefahr, verstümmelt zu werden. Die Anzahl der direkt gefährdeten Mädchen in der EU kann schwer ermittelt werden, wird aber auf bis zu 30.000 in Großbritannien und 4.000 in Deutschland im Rahmen von nationalen Erhebungen angegeben.“
Die Interviews, die Beryl Magokos Film „The Cut“ zeigt, machen fassungslos. Der soziale Druck, dem noch unbeschnittene Mädchen innerhalb des Dorfes ausgesetzt sind, die empathiefreien Statements von Männern, das Beharren auf die Fortfüh- rung der Tradition in den Familien – die Regisseurin erspart dem Publikum nichts bzw. nicht viel. Sequenzen der Beschneidungen an sich lässt sie zwar außen vor,
doch man sieht in schmerzverzerrte Gesichter von Mädchen, denen Blut über die zitternden Beine rinnt, und weiß, was man nicht mit ansehen muss.
„Dass zwischenzeitlich in Kenia ein Gesetz gegen die weibliche Genitalverstüm- melung verabschiedet wurde, ändert erstmal gar nichts“, sagt Filmproduzent Andreas Frowein. Das hindere ethnische Volksgruppen wie die Kuria kaum daran, am tradierten Ritual der Beschneidung festzuhalten, das aus Mädchen Frauen macht. Einerseits müsse man bedenken, dass bei einer Einhaltung des Verbots für die Beschneiderinnen der Verdienst wegbrechen würde, „andererseits sagen viele Män- ner trotzdem weiterhin, dass sie keine unbeschnittene Frau heiraten würden.“ Solche Unterdrückungsmechanismen, meint er, seien der Hauptgrund dafür, dass es Be- schneidungen gab, gibt und weiterhin geben wird.
Einen Monat danach, erklärt die Off-Stimme in „The Cut“, werden die gefeiert, die die Reise zum Erwachsenenleben überstanden haben. Auch Beryl Magoko gehört zu denen. „Ich weiß es nicht, es gibt keine Sta- tistik darüber“, muss sie auf die Frage antworten, wie viele Mädchen die Prozedur nicht überle- ben, die auf freiem Feld unter alles andere als sterilen Bedingungen durchgeführt wird. Was sie jedoch weiß, ist, dass FGM-Todesopfer in Kuria nicht wie andere Tote in der Nähe von Häusern beerdigt werden: „Sie werden traditionell außerhalb der Dörfer im Gebüsch abgelegt und von wilden Tieren gerissen.“
„Ist das krass!“, raunt eine Frauenstimme. „Wie kann man solche Schmerzen aushalten? Ich würde sterben“, vermutet eine andere. Wie die Situation in Deutsch- land aussieht, fragen sich wohl alle im Publikum. „Seit Juni 2013 ist Female Genital Mutilation ein eigener Straf- tatbestand“, informiert Diana Craciun (2. v. r.) vom Familienplanungszentrum Balance. Wenn in Deutschland lebende Mädchen beschnitten werden, dann geschehe das in der Regel während der Ferienreisen in die Heimatdörfer ihrer Familien: „Meistens haben wir es hier also mit den Ängsten vor FGM und den Folgen eines solchen Eingriffs zu tun.“ Ein großer Fortschritt, so Craciun, sei in dem Zusammenhang, dass die Rekonstruktion ver- stümmelter weiblicher Geschlechtsorgane nun in den ICD-Schlüssel der Kranken- kassen aufgenommen wurde und somit nicht mehr als Schönheitsoperation gelte,
die aus eigener Tasche gezahlt wer- den muss.
Auch für Sylvia Edler (l.), die Neuköll- ner Gleichstellungsbeauftragte, ist die Konfrontation mit dem Thema Female Genital Mutilation lange nichts Außer- gewöhnliches mehr. „Ich erfahre di- rekt von Mädchen, aber auch von Sozialarbeiterinnen oder Lehrerinnen davon“, sagt sie. Entsprechend wichtig sei es, für das Ritual und das Erkennen möglicher Betroffener zu sensibilisieren. „Aufklärung“, wird sie von Andreas Frowein bestätigt, „ist das Sinnvollste, aber auch schwierig, weil viele Mädchen und Frauen stark in Traditionen verwurzelt sind, die wir mit unserer europäischen Sicht und weißen Denkweise nicht verstehen können.“
Mit Beryl Magokos Film „The Cut“ wird das Verstehen zwar nicht leichter, doch es gelingt ihm, die Tür zu einem Tabuthema zu öffnen. „Unser Wunsch ist es, ihn bald auch in Kuria zeigen zu können“, sagt die Regisseurin.
Am 12. Februar lädt Neuköllns Gleichstellungsbeauftragte Sylvia Edler zu einer Fachveranstaltung und Podiumsdiskussion mit dem Titel „Genital-verstümmelung – eine globale, eine deutsche, eine Neuköllner Thema- tik?“ ein. Im Wetzlar-Zimmer des Rathauses informieren und diskutieren von 14 bis 17 Uhr Fatou Mandiang Diatta (Sister Fa-Aktivistin gegen FGM), Elif Schneider (Mama Afrika e. V.) und Christiane Otto (Teamleiterin im Jugendamt Neukölln). Moderiert wird die Veranstaltung von Sybill Schulz (Geschäftsführerin des Familienplanungszentrums Balance).
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