Der Begegnung zweier Frauen ist es zu verdanken, dass letzten Freitag in Neukölln ein rundes Jubiläum gefeiert
werden konnte: Eine der beiden war An-Alphabetin und zur Meisterin des Ver- tuschens geworden – bis sie das Leiden unter ihrem Defizit nicht mehr aushielt und sich das Leben nahm. Die andere heißt Marie-Luise Oswald, studierte damals, in den 1970er Jahren, Päda- gogik und kam durch die Verzweiflungstat der anderen Frau zu einer Lebensaufgabe: Die, Menschen zu helfen, die nicht lesen und schreiben können.
1980 erstellte Oswald als Co-Autorin für das Bundesmi- nisterium für Bildung und Wissenschaft eine der ersten Studien zur Alphabetisie- rung in Deutschland. 1983 gründete sie zusammen mit anderen in Neukölln den Verein Lesen und Schreiben (LuS e. V.), der sich seitdem dafür einsetzt, funktiona- len An-Alphabeten das Tor zur Welt der Schriftsprache zu öffnen – und eben Freitag sein 30-jähriges Bestehen feierte.
Auch Sandra Scheeres (l.), Berlins Senatorin für Bil- dung, Jugend und Wissenschaft, nahm an dem Fest teil. Der LuS habe durch seine Arbeit in den vergan- genen drei Jahrzehnten Signale gesetzt, die über die Grenzen Neuköllns und Berlins hinaus gegangen sind, lobte sie und versprach, sich dafür einzusetzen, dass in der Gesellschaft mehr Verständnis für Men- schen mit defizitärer Alphabetisierung und Grund- bildung eingefordert wird. In Berlin, wo etwa 300.000 Betroffene leben, habe man nicht nur einen runden Tisch installiert, der das Thema in alle gesell- schaftlichen Bereiche transportieren soll, sondern werde man auch zusätzliche Gel- der zur Verfügung stellen: „Wir streben an, in Berlin ein Grundbildungszentrum einzurichten, das durch mobile Teams unterstützt wird.“ Darüber hinaus wolle man eine Gesamtstrategie für alle Verwaltungsbereiche entwickeln, um auch Mitarbeiter von JobCentern, Bürgerämtern und ähnlichen Ein- richtungen für die Probleme funktionaler An-Alpha- beten zu sensibilisieren.
Elfriede Haller (r.), Vorsitzende des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung (BVAG), ging noch weiter. „Es muss bei den JobCentern einen glas- klaren Paragraphen für die Förderung von An-Alphabe- ten geben“, forderte sie. Zudem müsse endlich eine arbeitsplatzbezogene Grundbildung in Unternehmen stattfinden und die Weiterbildung für Erwachsene bundesweit unterstützt werden. Die Folgen von funktionalem An-Alphabetismus für die etwa 7,5 Mil- lionen Betroffenen in Deutschland wie auch die Volkswirtschaft des Landes seien schließlich schon lange bekannt. Getan wurde jedoch vergleichsweise wenig. „Ich hoffe“, so Haller, „dass die Ergebnisse der jüngst von der OECD veröffentlichten Pisa-Studie für Erwachsene Aufwind geben, endlich gemeinsam tätig zu werden.“ Es dürfe nicht sein, dass Institutionen wie der Lesen und Schreiben e. V. ständig um
die Kontinuität ihrer Arbeit bangen und das so wichtige gesellschaftliche Problem mit einem Minimum an Hauptamtlichen und viel Ehrenamt bewältigen müssen. Zudem müssten die Lerner, sprich: die ehemaligen funktionalen An-Alphabeten, viel stärker als „Experten von innen heraus“ im Bereich der Prä- vention eingesetzt werden und beispielsweise Pädagogen unterstützen: „Von ihnen können Lehrer aus erster Hand erfahren, wie lernen schieflaufen kann.“ Schließlich sei auch die Erkenntnis keine neue, dass der Zug in Richtung Bildung für die meisten abgefahren ist, die mit Beginn der 3. Klasse nicht „Sinn entnehmend lesen“ können.
Viele der Lerner des LuS scheinen förmlich darauf zu warten, stärker in die Expertenrolle schlüpfen zu können. Im Juli gründeten sie mit ABC Berlin die erste Selbsthilfegruppe für An-Alphabeten. Sie wollen helfen, das Thema öffentlich zu machen und so auch andere Betroffene dazu animieren, in der Kindheit Versäumtes als Erwachsene nachzuholen. Doch es gehe ihnen auch darum, so Kay (r.), immer wieder daran zu erinnern, dass „wir viel Zeit und Unterstützung brauchen, um uns wieder etwas zuzutrauen.“ Sich zu trauen, an die Tafel zu gehen und Fehler zu machen, ergänzte Marion (2. v. r.), gehöre ebenfalls dazu. Überhaupt müsse man ja erstmal lernen, dass das Lernen auch Spaß ma- chen kann.
Welche wichtige Rolle dabei der Lesen und Schreiben e. V. mit seiner individuellen Ler- ner-Förderung durch Ganztagslehrgänge spielt, die Unterricht mit beruflicher Pra- xis kombinieren, hat Neuköllns Bildungs-stadträtin Dr. Franziska Giffey (l.) schon bei ihrer vorherigen Tätigkeit als Europabeauftragte des Bezirks erkannt. Durch die Gründung des Alpha-Bündnis Neukölln, dessen Schirmherrin Giffey ist, wurde das Ziel der Vereinsarbeit, Menschen beim Weg in Bildung zu unterstützen, zusätzlich verfestigt. „Bundesweit gibt es keine vergleichbare Einrichtung“, betonte die Stadträtin, bevor sie Ingan Küstermann (r.), Urda Thiessen (2. v. r.) und Gabriele Sta- nek-Schlicht vom LuS die Ehrenurkunde des Bezirks für „30-jährige gemeinnützige Arbeit zum Wohle der Neuköllner Bevölkerung und zur För- derung der Alphabetisierung und Grundbildung“
überreichte. Marie-Lui- se Oswald war nicht bei der Feierstunde, nicht mal erwähnt wur- de sie..
„Unsere Gesellschaft lebt durch solche Vorbilder“ steht auf der von Franziska Giffey und Neuköllns Bezirksbür- germeister Heinz Buschkowsky unterzeichneten Urkunde. Letzterer hatte Oswald im Februar 2007 im Schloss Britz für herausragendes Engagement die Neuköllner Ehrennadel verliehen; ein Jahr später wurde sie vom BVAG zur Bot- schafterin für Alphabetisierung 2008 ernannt. Mit dem Lesen und Schreiben e. V. hat Marie-Luise Oswald heute nichts mehr zu tun, mit ihrer Lebensaufgabe aber durch- aus. „Um die“, sagt sie, „kümmere ich mich jetzt im kleineren Kreis.“ Der Kreis der Betroffenen in Neukölln ist nach wie vor groß: Etwa 28.000 funktionale An-Alphabeten leben im Bezirk.
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