Die Kirche als Institution spielt heute im Bewusstsein der meisten Neuköllner eine eher untergeordnete Rolle, und auch die Bauwerke werden kaum wahrgenommen. Im besonderen Maße gilt das für die Nikodemus-Kirche. Als typische Straßenkirche bildet sie in
der Nansenstraße mit den Nachbarhäusern eine Bauflucht. Teile des Zierrates – als sichtbare Unter- scheidungsmerkmale – sind darüber hinaus durch das Straßenbaumgrün verdeckt. Aber dann erkennt man sie doch: Überlebensgroße Figuren, Petrus
und Paulus darstellend, ein Christusbild und die Halbreliefs der vier Evangelistensymbole (Engel, Löwe, Stier und Adler).
Auf den Namensgeber weist nichts als Fahne mit der Aufschrift „100 Jahre Nikodemus-Kirche im Reuterkiez“ hin. Ursprünglich, geht aus der Chronik hervor, sollte auf dem benachbarten Reuter- platz eine große Kirche für die sich seinerzeit sprunghaft vergrö- ßernde Gemeinde errichtet werden. Einen Namen gab es auch schon: Peter und Paul. Beides wurde nicht realisiert. Der Bau fiel mangels Geldes deutlich bescheidener aus – der Name auch. Lediglich die Figuren Peter und Paul aus Rüdersdorfer Kalkstein erinnern an den ursprünglichen Plan, und dass es sie gibt, passt wiederum gut, da Nikodemus ja der Schutzpatron der Steinmetze ist.
Baumeister Fritz Gottlob, der als Backsteinpapst seiner Zeit bezeichnet werden kann und den protestantischen Kirchenbau in Neukölln wie kein anderer geprägt hat, hat ausgerechnet mit diesem Bau einen ganz neuen Weg beschritten: Naturstein und Putzflächen sind an die Stelle des Backsteins getreten und schmücken die Fassade mit Neorenaissance- und Jugendstilelementen. Im Krieg wurde der Sakralraum völlig zerstört, so dass heute bis auf Fassade und Turm nichts mehr von der ursprünglichen Nikodemus-Kir- che
kündet.
Aber auf den Turm kommt es ja an, wenn die Absicht besteht, von seiner Höhe Absichten zu haben. Da dieser nicht ohne weiteres zugänglich ist, bedarf es eines Menschen, der das ermöglicht: In diesem Fall ist es Jörg Kupsch, engagiertes Gemein-deglied mit dem Schwerpunkt Kirchdienst. Zurzeit führe er diese Tätigkeit im Rahmen einer dreimona- tigen JobCenter-Maßnahme durch, erzählt uns der 54-Jährige. Mit ihm gelangen wir durch das Treppenhaus, das sich bis auf wunderbar altmodische, in die Wand eingelassene Kästen mit Feuerwehrschlauch und Anschlussstücken in nichts von einem Mietshaus unterscheidet. Vorbei geht es an den Wohnungen des Pfarrers, des Kirchen- musikers und eines weiteren Mieters sowie einer Waschküche in den Turmraum
samt Glockenstube.
Stolz berichtet Jörg Kupsch, dass er „Herr über das Geläut“ sei. Zum Got- tesdienst würden die drei Gussstahl-Glocken von Hand ausgelöst werden: Eine halbe Stunde und kurz vor Gottes- dienstbeginn erklinge jeweils für 5 Minuten das volle Geläut. Wenn man dann im Turm sei, so Kupsch, spüre man, wie das ganze Gebälk vibriert. „So ähnlich stelle ich mir das vor, was die Passagiere beim Untergang der Titanic wahrgenommen haben“, sagt er. Das Läuten um 8, 12 und 18 Uhr erfolgt aber – wie auch der an die Turmuhr gekoppelte Stundenschlag – automatisch. Wenn also die Kirche optisch nur wenig auffällt, dann wird sie in der Umgebung doch deutlicht gehört.
Ins darüber liegende Stockwerk geht es über recht bequeme Holztreppen. Die ins- gesamt sechs Fensterpaare mit vergleichsweise kleinen Öffnungen aber tiefem Ge- wände gewähren leider nur einen entsprechend begrenzten Ausblick. Beeindruckend
ist er dennoch. Auffal- lend sind das dominan- te Rot der Ziegeldächer und die perspektivisch bedingte Freistellung ei- niger Bauwerke: Ein al- tes Fabrikgebäude in ei- nem Hinterhof der Pflü- gerstraße sticht ebenso aus der Umgebung hervor wie das Karstadt-Haus am Her-
mannplatz. Kupsch zieht einen Stadt- plan aus der Innen- tasche. „Wenn ich schon mal hier bin“, sagt er, „will ich doch auch wissen, was ich von hier oben sehe und wo das ist.“ Als Hartz IV-Bezieher könne man es sich schließlich nicht erlauben, dauernd in der Stadt herum zu fahren, um sich deren Sehenswürdigkeiten
anzugucken. Das aber müsse man ei- gentlich tun, wenn man in Berlin, wo sich ständig etwas verändert, auf dem Lau- fenden sein will. Auch das Neukölln, in das Jörg Kupsch vor fünf Jahren nach einiger Zeit in London zurück kam, hatte kaum noch etwas mit dem zu tun, das ihm vertraut gewesen ist.
Wer noch drei Leitern erklimmt, kommt auf das Podest, von dem aus das Gestänge und Getriebe der Turmuhr
gewartet wird. Die Öffnungen rund um die Zeiger sind mit – inzwischen ziemlich blin- den – Glasscheiben verse- hen. Aber wie die Erfahrung vorheriger Neuköllner Ab- sichten zeigt, bieten auch hier die paar Meter Höhen- gewinn nochmals ein deutlich anderes Bild: Der aus herkömmlichen Perspektiven
protzig wirkende Turm der benachbarten katholischen St. Christophorus-Kirche er- scheint niedriger, die Ziegeldächer noch roter und Skyline und Horizont ferner.
Nachdem die Absichten ausgiebig genos- sen werden konnten, lässt es sich Jörg Kupsch nicht nehmen, uns eine Führung durch den Kirchraum anzubieten. Wieder geht es durch das Treppenhaus, das Gali- leo Galilei für die Untersuchung der Fallgesetze begeistert hätte. Gottesdienst- besucher indes gelangen von der Straße aus durch das Café NikoDemus und einen Gruppenraum in den eigentlichen Kir- chenraum. Da sich die beiden ersten durch ihre gemütliche Atmosphäre auszeichnen, ist
es erstaunlich, dass sich viele der zwanzig bis dreißig Sonntags- gottesdienstbesucher nicht schon hier zum Verweilen niederlassen.
Der Sakralraum ist schlicht und hell. Er zeichne sich wegen seiner eingezogenen Holzdecke durch eine bemerkenswerte Akustik aus, merkt Jörg Kupsch stolz an. „Deshalb ist der Raum nicht nur für Konzerte sehr gefragt, sondern es kommen auch oft Anfragen von Musikern, die hier ihre CDs aufnehmen wollen.“
In den Genuss einer akustischen Kostprobe kamen wir nicht; auf das Erleben des Titanic-Feelings im Glockenturm haben wir gerne verzichtet.
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