Vor jeder Absicht steht eine Absicht: Eines schönen Freitags hatten wir die, um 16 Uhr eine „Janz weit oben“- Tour mit dem Stadtleben e. V. zu machen und vom Rat- haus-Turm auf den Bezirk zu blicken. Das Dumme war nur, dass Vincent Kelbel nicht die Absicht hatte, pünktlich zum Start der ersten von drei Führungen am Treffpunkt zu erscheinen. Mit fast einer halben Stunde Verspätung kam der Wirtschaftsinformatik-Student angeschlurft. Er sei nur so was wie der Aushilfsführer, meinte er, bevor er im nächsten Moment mit – für eine Aushilfe – erstaunlichen Kenntnissen überraschte: „Freitags um 4 kommt selten jemand.“ Die Nachfrage, wie er das denn wissen wolle,
wenn er selber nicht da sei, beantwortete er mit Schweigen. Nein, die Mail, mit der wir uns beim Verein angemeldet hatten, sei ihm nicht weitergeleitet worden, versicherte er, nachdem die neun Stufen der Freitreppe genommen waren und bevor er im Foyer des Rathauses mit der Erklärung des Bezirkswappens begann. Das könne er sich
sparen, weil wir alles wüssten und wirklich nur wegen der Absicht gekommen seien, ließen wir Vincent Kelbel wissen.
Nach 77 Stufen erreichen wir direkt unter dem Dach einen Ausstellungsraum, in dem über die Geschichte des zwischen 1909 und 1914 erbauten Rat- hauses informiert wird. Natürlich stammten die Pläne –
wie die diverser anderer öffentlicher Gebäude in Neu- kölln – vom damals amtie- renden Stadtbaurat Reinhold Kiehl. Um dessen Leben und Wirken geht es auch in den ersten beiden Stockwerken des Turms. Auf etlichen illus- trierten Texttafeln wird Kiehls Schaffen und dessen Ein- fluss auf die bauliche Entwicklung geschildert, die das frühere Rixdorf prägte und noch heute Bestand hat. Allein mit der Lektüre der Tafeln könnte man die halbe Stunde verbringen, die für eine komplette „Janz weit oben“- Führung veranschlagt ist. Das wird aber auch im dritten Jahr, in dem diese nunmehr
angeboten und als Ak- tionärsfonds-Projekt fi- nanziell von der [Aktion! Karl-Marx-Straße] ge- fördert werden, nicht berücksichtigt.
Die am Boden liegenden Figuren und Ornamente hätten früher die Fassade des Rathauses verziert, weiß Kelbel zu berichten. Und die Uhren an den vier
Seiten des Turms wür- den noch mechanisch angetrieben werden. Einer der acht Zeiger liegt am Boden; durch die Lücken, die die Lamellen vor den schmalen Fensteröffnungen lassen, ist der Verkaufs- stand an der Ecke Karl-Marx-/Boddinstraße zu sehen.
Etwa 45 Meter hoch seien wir wohl hier in der zweiten Etage des Turms, schätzt Vincent Kelbel: „Bis zur Spitze sind es 68 Meter.“ Höher als bis zur Aussichtsgalerie dürfe man allerdings nicht. Die Tür zu den Kiehler Sprossen, die näher an die Fortuna-Statue führen, bleibt verschlossen. Nach 154 Stufen durch den Turm wird dem Aufstieg ziemlich statt janz weit oben ein Ende gesetzt.
An der Balustrade der Galerie informieren Edelstahl-Tafeln darüber, was in welcher Entfernung bei günstigen Sichtver- hältnissen auszumachen ist: 6,52 Kilometer sind es bis zur Gropiusstadt, das Kanz- leramt liegt 300 Meter dichter am Neuköllner Rathaus, der Teufelsberg 13,33 Kilome-
ter entfernt. Der nächste Punkt, auf den hingewiesen wird, ist mit 0,27 Kilometern die Ernst-Abbe-Schule in der Sonnenallee. Eine Absicht aufs Nachbargebäude beweist: Die vor zwei Jahren durch einen Sturm ramponierte Doppelspitze auf dem Amts- gericht ist wieder komplett.
Wir versuchen zu ignorieren, dass der Stadtleben-Aushilfsführer die von ihm selber dezimierte Zeit wieder aufholen will, und suchen nach Stationen, die wir bei unseren Neuköllner Absichten bereits portraitiert haben: das Haus der Volksbildung, die Philipp-Melanchthon-Kirche, den Klunkerkranich und die Carl-Legien-Schule. Nur letztere ist von hier aus nicht zu se-
hen. Andere Absichtspunkte, die wir noch auf der Agenda oder bereits als erledigt abgehakt haben und in den nächsten Wochen vorstellen werden, ragen zwischen den umliegenden Gebäuden heraus.
Man werde „unter fachkundiger Führung“ nach janz weit oben geleitet, heißt es in der Ankündigung des Vereins. Naja, gibt Vincent Kelbel zu, tiefschürfende Fragen über Neukölln solle man ihm besser nicht stellen: „Was ich über den Bezirk weiß, hab ich mir in den letzten Wochen angelesen.“ Um kurz vor 5 haben wir die 240 Stufen wieder in umgekehrter Richtung hinter uns gebracht: Am Brunnen vor dem Rathaus steht niemand, der darauf wartet, Neukölln aus der wahrlich attraktiven Vogelperspektive gezeigt zu bekommen. Auch bei der Werbung für die Führungen könnte einiges verbessert werden.
Die „Janz weit oben“-Touren finden noch bis zum 30. November freitags um 16, 16.30 und 17 Uhr sowie samstags um 11, 11.30 und 12 Uhr statt. Treffpunkt ist der Brunnen vor dem Rathaus; um eine telefonische An- meldung wird gebeten: 030 – 76 68 95 75
Für die nächste Folge unserer Serie „Neuköllner Absichten“ wurden wir aufs Dach eines Gebäudes eingeladen, das auch im heutigen Beitrag zu sehen ist.
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