Je weiter südlich, desto schöner das Wetter – in diesem Fall traf es zu. Während die Aussicht vom Dach der Carl-Legien-Schule in grauen Wolken stecken blieb, zeigte sich der Himmel
über der einen knap- pen Kilometer ent- fernten Philipp-Me- lanchthon-Kirche in strahlendem Blau. Zugegeben: Es war nicht am selben Tag, und es war auch nicht der, den wir ursprünglich für das Erklimmen des Kirchturms eingeplant hatten. An dem war es nicht nur tiefgrau, sondern zudem regnerisch gewesen.
Haus- und Kirchenwart Martin Dudda empfängt uns im Gemeindebüro, um uns in die Spitze des höchsten Bauwerks des Neuköllner
Orts- teils Neubritz zu führen. „Wenn Sie ganz nach oben wollen, ha- ben wir Treppen aus Stein und Holz und Hühnerleitern vor uns“, kündigt er an, als es an Philipp Melanchthon, dem Na- mensgeber der Kirche, vorbei geht. „Der Gemeindekirchenrat von Neukölln hatte beschlossen, in der Kranoldstraße Ecke Hertastraße
eine Kirche zu bauen. Im Jahre 1909 wurde die Martin-Luther-Kirche in der Fuldastraße von dem Bau- meister Gottlob gebaut. So lag es nahe, der neuen Kirche, ebenfalls von dem Baumeister Gottlob erbaut, den Namen des Mannes zu geben, der ein Freund und Mitarbeiter des Reformators Martin Luther war. Es sollte damit auch die Zusammenarbeit der Kirchen untereinander betont werden.
So, wie es zwischen Martin Luther und Philipp Melanchthon der Fall war. Es erfolgte die Namensgebung bei der Grund-
steinlegung am 24.4.1914″, ist in
der Chronik der Kirche vermerkt.
Mit welcher Raffi- nesse damals gebaut wurde, ist hinter der ersten Tür zu besichtigen, die Martin Dudda für uns aufschließt: Hölzerne Stege führen durch den riesigen Raum, unzählige an einer Stahlkonstruktion festgezurrte Seile halten ein halbrundes Etwas. „Das ist die Kuppel der Kirche“, erklärt Dudda und weist auf die Seilwinde hin, mit der sich der im Kirchenschiff hängende Leuchter bewegen lässt, wenn er geputzt oder eine Glühbirne kaputt ist und ausgetauscht werden muss.
„Bei der Turmuhr verlassen wir uns inzwischen ganz auf moderne Tech- nik“, verrät der Haus- wart. Zwar ist das alte Uhrwerk noch komplett erhalten, angetrieben werden die Zeiger aber von einem kleinen, weißen Kas- ten. Und nicht nur die, sondern auch die drei mächtigen
Glocken. Martin Dudda sieht vorsichts- halber noch einmal auf seine Armbanduhr: „Wenn die läuten, möchte ich hier nicht
stehen.“
Die Dächer von Neubritz liegen weit unter uns, der Turm der katholischen St. Eduard-Kirche ragt aus ihnen hervor. Mit dem komfor- tablen Treppensteigen ist es nun vorbei, stattdessen ist Klettern angesagt. In gebührender Entfernung vorbei am Nistkasten der Turmfalken, in dem gerade Nachwuchs
aufgepäppelt werden könnte.
Gleißendes Sonnenlicht dringt durch die normalerweise verschlossenen Luken ins Innere des 68 Meter hohen Kirchturms, der – ebenso wie das gesamte Kirchengebäude – im 2. Weltkrieg schwere Be- schädigungen davon trug und erst 1951 neu einge- deckt wurde. Die Absicht fällt auf Menschen, Autos, Häuser und Straßenzüge, die nicht größer als Mo- delleisenbahn-Zubehör erscheinen, und auf Dachgär-
ten und -terrassen von idyllisch bis prächtig. „Solche Kleinode vermutet man nicht, wenn man die Häuser von der Straße aus sieht“, findet auch Martin Dudda.
Die Fernsicht ist grandios an diesem Tag. Bis zum Horizont reicht der Blick: Die Hochhäuser der Gro- piusstadt im südlichen Teil Neuköllns sind ebenso deutlich zu erkennen wie der Große Müggelberg, eine Windkraftanlage im Umland, die Reichstagskuppel, der Fernsehturm am Alexanderplatz, die Treptowers an der
Spree, das Frankfurter Tor und der Radarturm des ehemaligen Flughafens Tem- pelhof. Der bis zu 150 Meter hoch steigende Weltballon scheint kaum über Augen- höhe zu liegen.
Selbst nach stundenlangem Gucken würde man ständig bisher Unentdecktes erkennen. „Wir soll- ten uns langsam auf den Rückweg machen. Die Glocken …“, erinnert Martin Dudda.
Obwohl in der Philipp-Melanchthon-Kirche gerade jemand auf der Orgel spielt, sind sie deutlich zu hören. Der Grund dafür, dass keine öffentlichen Kirchturmfüh- rungen angeboten werden und das spektakuläre Pa- norama der Allgemeinheit vorenthalten bleibt, sind sie aber nicht. Der Sicherheitsaspekt, bedauert Dud- da, und außerdem wäre es kaum zu realisieren, weil auch in dieser Gemeinde gespart werden müsse – nicht nur beim Obdachlosen-Nachtlager, das regel- mäßig in den Wintermonaten geöffnet wird, sondern auch personell.
In unserer Serie “Neuköllner Absichten” sehen wir von Gebäuden, an denen täglich viele Menschen vorbeikommen, die sich durch den Bezirk bewegen. Manche sind für die Öffentlichkeit unzugänglich, andere wiederum ermöglichem jedem ganz persönliche Neuköllner Absichten.
Für den nächsten Teil der “Neuköllner Absichten”, der am kommenden
SonnSamstag erscheint, waren wir auf einem Bauwerk, das allen offensteht.
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Toller Bericht und Fotos! Danke! 🙂
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