Nicola Groth ist es gewohnt, Fragen gestellt zu bekommen. Das gehört zu ihrem Alltag in der Carl-Legien-Schule. Die, ob wir ihr mal aufs Dach steigen dürfen, war der Schulleiterin aber neu und irritierte sie für einen Moment. Es gebe doch auf der Schule diese Aussichtsplattform,
die würden wir gerne erklimmen, um Ein- drücke für unsere Serie „Neuköllner Absichten“ zu sammeln, erklären wir der Rektorin. Sie willigt sofort ein; bis ein Termin gefunden ist, der in ihren und unsere Kalender passt, dauert es aber noch eine Weile.
Der Himmel über Neukölln zeigt sich an diesem Vor- mittag in unfreundlichem Grau. Nicola Groth will es sich nicht nehmen lassen, den Weg aufs Dach, der sonst nicht der Öffentlichkeit zugänglich ist, selber freizuschließen. „Ich war auch schon sehr lange nicht mehr da oben“, sagt sie. „Vor Jahren haben wir uns mal mit einer Veranstaltung am Kulturfestival 48 Stunden Neukölln beteiligt, einschließlich der Möglichkeit zur Dachbesichtigung.“ Das sei auch so gut angekommen, dass man es eigentlich mal wieder machen
müsste, doch der Aufwand wäre einfach zeitlich und personell nicht zu bewältigen. Deshalb ist es jetzt höchstens mal der Hausmeister
, der sich über die 4. Etage hinaus be- wegt.
Ein abschließba- res Gittertor trennt den Bereich vom Rest der Schule ab, über eine Treppe geht es zu einer Stahltür. Wer sie öffnet, dem schlägt ein Schwall warmer Luft aus dem riesigen Heizungsraum entgegen. Nur noch die stählerne Wendeltreppe, dann ist das Dach erreicht. „Achtung, Stufe!“, warnt Nicola Groth und öffnet die Tür.
Der erste Blick schweift über den alten St. Thomas- und den Jerusalem-Friedhof hinweg in Richtung Südosten. Die Aus- maße der grünen Lungen Neuköllns entlang der Hermann- straße beeindrucken; die Lichtmasten, die einst
Piloten den Weg zur Landebahn des Flughafens Tempelhof wiesen, überragen die Wipfel der Bäume
nur noch knapp. Schaut man in nordöstliche Rich- tung, gibt ein Häusermeer mit rotbraunen Dachziegeln und voller teils bedrückend enger Innenhöfe den Ton an. „Man müsste viel öfter hier hoch kommen“, findet Nicola Groth, vorzugsweise bei blauem Himmel, besserer Fernsicht und angenehmeren Temperaturen.
Weshalb das Gebäude, das vom Rixdorfer Baustadtrat Reinhold Kiehl entworfen und 1914 – ein Jahr nach Kiehls überraschendem Tod – als Königlich Preußische Baugewerkschule eingeweiht wurde, die gut 80 Quadrat-
meter große Aussichtsplattform bekam, weiß die Schulleiterin nicht. Der freie Blick aufs Tempelhofer Feld, das damals noch militärisch genutzt wurde, könnte eine Rolle gespielt haben, vermutet Groth. Dass sie völlig unmotiviert auf das Dach gesetzt wurde, ist unwahrscheinlich, denn auch bei der Ausgestaltung des Inneren des Schulgebäudes legte Kiehl seinen Fokus auf dessen spätere Nutzung: Es ist eine beeindruckende Galerie architektonischer Stilmittel und Demonstrations- fläche für die Verwendung unterschiedlichster Bau- materialien.
1971 wurde die Schule Teil der Technischen Fach- hochschule Berlin, doch schon fünf Jahre später war diese Ära wieder vorbei: Die Nähe zum Flughafen Tempelhof und das Lärmen der Flieger schränkte den Unterricht zu stark ein. Dazu kam, dass die Studentenzahlen stetig stiegen und die Kapazitäten des Gebäudes sprengten. Es folgten eine umfassende Renovierung der Schule in der Leinestraße und 1984 ihre Wiedereröffnung als Berufsfachschule, in der Jugendliche ihren Schulabschluss absolvieren und sich zugleich praktische Fertigkeiten in den Bereichen Er- nährung und Hauswirtschaft, Textiltechnik und Beklei- dung, Agrarwirtschaft sowie Metall-, Elektro- und Holz-
technik aneignen können.
Man spürt die Freude an ihrer Tätigkeit und ihr Enga- gement, wenn die Rektorin der Carl-Legien-Schule vom schulischen Alltag anno 2013 berichtet. Wiewohl – und hier ist ein Seufzer zu hören – so manches Mal der erwünschte Erfolg ausbleibt, weil ein nicht kleiner Teil der Schülerinnen und Schüler plötzlich ganz andere Prio- ritäten im Leben setzt und den Besuch dieser renom- mierten Einrichtung abbricht. Nicola Groth und ihrem Lehrerkollegium wäre es zweifelsohne lieber, wenn alle hoch hinaus wollten.
In unserer neuen Serie „Neuköllner Absichten“ sehen wir von Gebäuden, an denen täglich viele vorbeikommt, die sich durch den Bezirk bewegen. Manche sind für die Öffentlichkeit unzugänglich, andere wiederum ermög- lichem jedem ganz persönliche Neuköllner Absichten.
Für den nächsten Teil der „Neuköllner Absichten“, der am kommenden Sonntag erscheint, waren wir – bei bester Fernsicht – in einem Kirchturm.
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