Ein Hauch von Oranje in Neukölln

Es sind – abgesehen von der Britzer Mühle, einer vor fast 150 Jahren erbauten Hol- ländermühle – vornehmlich dezente Spuren, die in Neukölln auf niederländische Einflüsse hinweisen: Moghul Rikschas bezieht seine Lastenräder aus dem Land, in dem  heute König Willem-Alexander Königin Beatrix ablöst und  Troonswisseling  ge-

britzer mühle_neukölln

feiert wird. Vor dem Rathaus des Bezirks ist das Wappen der Neuköllner Partnerstadt Zaanstad zu finden, und der Künstler Marc van der Kemp, der das Sowieso Neukölln betreibt, stammt aus dem Land der Tulpen, Klompen, Grachten und Poffertjes, des Käses und Campingurlaubs. Sonderlich viele Landsleute sind es nicht, die sich ebenfalls in Neukölln niedergelassen haben: Gerade mal 487 ermittelte das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg zum letzten Jahreswechsel. 18 davon sind älter als 65; fast so viele Windmühlen – nämlich 16 – drehten sich einst in Neukölln.

Fernab von Exotisierung und Folklore

roma image studio_galerie im saalbau neuköllnRoma, das sind die, die … Danach reiht sich meist ein Klischee an das nächste. Gibt man noch das Stichwort Kultur dazu, wird wieder tief in die Stereotypen-Kiste gegriffen, um Folkloristi- sches hervor zu holen: Gipsy-Bands und Musi- roma image studio_galerie im saalbau_berlin-neuköllnkanten, die fie- delnd durch die Straßen ziehen. Zum Nachden- ken über solche und andere Vor- urteile will die sehenswerte Ausstellung „The Roma Image Stu- dio“ der gleichnamigen Künstlerplattform anregen, die aktuell in Neukölln zu sehen ist und im Rahmen des EU-Projekts „Romanistan. Crossing Spaces in Europe“  stattfindet.

Kulturelle Identität und Ent-Exotisierung von Roma-Kunst, das sind die Schlagwörter, die über der Ausstellung stehen. Auch der in Neukölln und Budapest lebende Kurator André Jenö Raatzsch gehört zur Volksgruppe derer, die weder Land noch Staat haben und „meist nur wegen ihrer ethnischen Herkunft willkommene Gäste in der europäi- herlambang bayu aji_roma image studio_galerie im saalbau_neuköllnschen Kunst- und Kulturszene“ sind.

Als was sie in erster Linie gesehen werden möchten, verdeutlicht schon die Installation von Herlambang Bayu Aji. Mit 28 Scherenschnitten im Ein- gangsbereich der Galerie lenkt der Künstler den Blick auf den global verbindenden größten gemeinsamen Nenner: „Wir sind alle Menschen“.

Neun Fotografen helfen in der Aus- stellung dabei, sich den Roma zu nähern, ihre Diversität fernab von Klischees zu entdecken und so das Schubladendenken zu hinterfragen, das roma image studio_galerie im saalbau_neuköllneinerseits das interkulturelle Miteinander verkompliziert, an- dererseits aber auch die Kreativen belastet, die der europäischen Minderheit angehören. Ihm sei es von Beginn an schwer gefallen, sich ausschließlich als Roma-Künstler zu positionieren, hält André Jenö Raatzsch in seinem „Interview mit mir selbst“ fest. Ein Status wie der, den Kulturschaffende ande- rer Länder Europas haben, und ein Wegfall der Reduzierung auf das Roma-Etikett, das ist es, was den Intellektuellen vorschwebt. „Das wird aber erst möglich sein, wenn andras kallai_roma image studio_galerie im saalbau_neuköllnsich der politische Status der Roma ändert und sie als Bürger der jeweiligen Länder anerkannt werden und damit auch ihre Heimat in Europa finden, die sie lieben und beleben können“, prognostiziert der Mitt- dreißiger, dessen Vater Deutscher und dessen Mutter eine ungarische Romni ist.

Hinsichtlich der Kunst- und Kulturszene hofft Raatzsch, norbert tihanics_roma image studio_galerie im saalbau_neuköllndass ihr perspek- tivisch das wider- fährt, was schon in den USA mit der Black Culture passierte: Dass sie anerkannt wird. Durch das Aufzeigen der Problematik der Roma- Darstellungen in der Gegenwart und das Initiieren von Ausstellun- gen, die nicht die gängige romantisierende und exotisierende Praxis bedienen, trägt er das Seine dazu bei. Und das ist erheblich vielfältiger und ambivalenter als die Klischees.

Morgen (30. April) um 18 Uhr laden die Künstlerin Diana Arce und Kurator André Jenö Raatzsch zu einem Vortrag mit anschließendem Publikums- gespräch in die Galerie im Saalbau ein. Thema ist die Ausstellung/Initiative „The Roma Image Studio“ im Bezug zum „Harlem Studio Museum“ (New York) und zu „The Arab Image Foundation“ (Beirut).

Die Ausstellung „The Roma Image Studio“ wird noch bis zum 2. Juni in der Galerie im Saalbau gezeigt; Öffnungszeiten: Di. – So. 10 – 20 Uhr.

=ensa=

Eine Insel für die Konrad-Agahd-Grundschule

konrad-agahd-grundschule_neuköllnIn der Konrad-Agahd-Grundschule im Neu- köllner Körnerkiez fand Freitagvormittag die Eröffnung von „Konrads Insel“ statt. Kon- rad Agahd (1867 – 1922), nach dem die Schule 1958 benannt wurde, war 23 Jahre Lehrer in Rixdorf/Neukölln. Bekannt wurde er für seinen Kampf gegen Kinderarbeit. Die Ergebnisse seiner Studien in meh- reren europäischen Staaten veröffentlichte er in Aufsätzen, Broschüren und Fach- büchern.

Die bisher leerstehende Hausmeisterwohnung der Schule konnte nach grund- legender Renovierung mit neu designten Räumen und neuer Funktion den Schülern,

konrads insel_konrad-agahd-grundschule_neukölln konrads insel_neukölln

Eltern und Lehrern übergeben werden. Die Kosten für Umbau und Renovierung in Höhe von 140.732 Euro trug der Bezirk Neukölln. Die Einrichtungskosten und Aufwendungen für den Betrieb der Schülerbibliothek und des Elterncafés von knapp 30.000 Euro wurden über Soziale Stadt-Mittel des Quartiersmanagements Körnerpark simone schützmann_eröffnung konrads insel_neuköllnfinanziert. Mit dem Anliegen, innerhalb der Schule eine Insel zu schaffen, entstanden in den wohnlich und zugleich zweckmäßig gestalteten Räumen eine Schülerbiblio- thek, ein Elterncafé und eine kleine Küche.

Bei der Einweihung wurden die Besucher von  Rektorin Simone Schützmann mit Ro- sen willkommen geheißen. Nach der Be- sichtigung der Räumlichkeiten und einem Auftritt des Kinderchores, der u. a. das sehr witzige Lied über die Stubenfliege zum Besten gab erfolgte die offizielle Eröffnung durch Heinz Buschkowsky und Dr. Franziska Giffey.

buschkowsky+giffey+schützmann_konrads insel_neuköllnDer Bezirksbürgermeister sprach da- bei vor allem die etwa 20 Kinder im Raum an. Er betonte, wie wichtig das Lesen ist. „Lesen“, sagte er, „ist für den Kopf wie Schokolade essen.“ Außerdem fragte er sie nach ihren späteren Berufswünschen. Die Be- zirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport hob in ihrer Rede hervor, dass anhand der eingehenden Anmeldungen festgestellt werden könne, dass die Konrad-Agahd-Grundschule mit zu den beliebtesten Grundschulen in Neukölln gehört.

Das neue Elterncafe soll dazu beitragen, die Zusammenarbeit mit den Eltern zu verstärken. An zwei Tagen in der Woche initiieren die Eltern ein Elternfrühstück. Dies soll die Vernetzung unter den Eltern verbessern und die Eltern näher an die Schule und ihre Projekte heranführen. Eines davon ist das kostenlose Frühstück von schülerbibliothek_konrad-agahd-grundschule_neuköllnbrotZeit, einer Initiative der Schauspielerin Uschi Glas. Jeden Morgen wird es von ehrenamtlichen Senioren für die Grundschüler zubereitet, die so nicht nur in den Genuss von regelmäßigem Frühstück kommen, sondern von den Ehrenamtlichen auch viel über eine gesunde Ernährung lernen können.

Futter für Kopf und Seele gibt es nun in der neuen Schülerbibliothek, die etwa zur Hälfte mit Buchspenden bestückt wurde. Da sich die Schülerinnen und Schüler über noch mehr Auswahl freuen würden, gilt: Wer gut erhaltene Kinderbücher zuhause hat, die er nicht mehr benötigt, darf sich gerne mit der Konrad-Agahd-Schule in Verbindung setzen, um sie zu spenden.

=Reinhold Steinle=

Unser Autor, der in Neukölln bereits Führungen durch den Reuter-, Schiller-, Rollberg- und Richardkiez anbietet, führt ab nächsten Monat auch durch den Körnerkiez: Die erste Tour ist am 18. Mai und startet um 15 Uhr an der leuchtstoff–Kaffeebar.

Umgarnt

Zwar wird auch bei Bäumen häufig von Menschenhand nachgeholfen, doch sie wür- den es durchaus alleine schaffen,  ihre Stämme mit immer neuen Mustern zu ver- zieren. Letzteres lässt sich von den Pfählen der Verkehrsschilder und Straßenlaternen oder von Ampelmasten nicht  behaupten. Legt  bei ihnen keiner Hand an, bleiben sie,

platane_körnerpark neukölln umhäkelter laternenpfahl_neukölln

wie sie erschaffen wurden. Meist sind es Aufkleber, die das verhindern. Mehr Mühe hat man sich mit einem abgerüsteten, zum Fahrradbügel umgewidmeten Pfahl in der Altenbraker Straße im Neuköllner Körnerkiez gemacht: Der wurde, kunstvoll umhäkelt, zum wahren Eyecatcher.

Abtauchen, abdrehen, abheben: Heute beginnen die 48. Neuköllner Maientage

Heute Nachmittag wird alles anders sein. Dann werden keine Schwertransporter und Kranwagen mehr die Gänge versperren, keine Scheinwerfer mehr am Boden liegen und  keine  überdimensionalen Deko-Fische  und  Rettungsringe  mehr  auf  den Sitz-

aufbau_neuköllner maientage aufbau magic_neuköllner maientage

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aufbau kirmes-leckereien_neuköllner maientage aufbau_tauchboot u-3000_neuköllner maientage

paulys action-team_neuköllner maientagebänken in einer U-Boot-Attrappe. Das Dach vom Autoscooter wird so hoch sein, dass sich auch Erwachsene aufrecht auf der Fläche bewegen können. Der Shaker wird bis 14 Uhr zusammengebaut und bereit zum Schütteln sein, und die Kirmes-Leckereien sind nicht mehr hinter Holzplatten verborgen. Denn dann begin- nen die 48. Neuköllner Maientage.

Schönes Wetter, das steht für die nächs- ten drei Wochen auf dem Wunschzettel von Thilo-Harry Wollenschlaeger (r.), der das Volksfest fürs Bezirksamt Neukölln organisiert, weit oben. Weil schönes Wetter thilo-harry wollenschlaeger_maientage neuköllnein Garant für viele Besucher ist. An den meteorologischen und somit ökonomi- schen Reinfall, den ihm und den Schau- stellern der letzte Neuköllner Rummel, die Britzer Baumblüte, bescherte, mag er gar nicht mehr denken.

Zu den Neuköllner Maientagen, Berlins größtem Parkfest, hat der 47-Jährige oh- nehin eine ganz besondere Beziehung: Am 14. Februar 1966, dem Tag, an dem er in die Schausteller-Dynastie Wollen- schlaeger hineingeboren wurde, unter- schrieb sein Vater den Vertrag für die Organisation der ersten Neuköllner Maientage. Dass die Geburt des Sohnes dadurch ein wenig in den Hintergrund rückte und der erste Besuch des Vaters in der Wöchnerinnenstation erst einen Tag später erfolgte, „das wäre wohl heute undenkbar“, sagt Thilo-Harry Wollenschlaeger: „Aber meine eingang neuköllner maientageMutter wusste ja, wen sie geheiratet hat.“

Nun ist der Sohn Hausherr des Rummels im Volkspark Hasenheide. „Hausmeister ist treffender“, findet er, da der Job als Organisator vor allem bei laufendem Be- trieb ständig neue Herausforderungen mit sich bringt und nicht mit der Vorbereitung abgeschlossen ist. Bei der hat Thilo-Harry Wollenschlaeger wieder auf das Zusam- menspiel von Altbewährtem und Neuem gesetzt: Über 70 Schausteller sind dabei, die Lebkuchenherzen, Zuckerwatte und Rostbratwürste ebenso anbieten wie Slush-Eis und Herzhaftes der Kategorie „halal„. walzerfahrt_neuköllner maientageBei den Fahrgeschäften haben die kleinen Besucher eine Auswahl von 15 Kinder- karussells. Jugendliche und Erwachsene können schon gleich am Eingang mit einer Walzerfahrt (r.) ins Rummelvergnügen starten, danach in zwei Autoscootern auf Kollisionskurs gehen, im Breakdance und Shaker die Belastbarkeit ihrer Mägen tes- ten, magische Momente im Magic erleben aufbau wildwasser-rafting-bahn_neuköllner maientageund sich in der Wildwasserbahn Atlantis Rafting (l.), die gestern noch aufgebaut wurde, erfrischen lassen. Wie schon im letzten Jahr lädt auch in diesem der Kettenflieger Around The aufbau kettenflieger_neuköllner maientageWorld (r.) wieder zum Abheben in 60 Meter Höhe und einem fan- tastischen Rund- blick über Berlin ein. Nicht mehr auf dem Gelände zu finden sind indes eine große Achterbahn und das Riesenrad.

Dafür konnte Thilo-Harry Wollenschlaeger zwei neue Attraktionen gewinnen: Im Hippie Trip lässt sich eine Reise in die Musik u-3000_neuköllner maientageund Farben der 1970er-Jahre erleben; das Tauchboot U-3000 suggeriert mit Action- filmen und elektronisch-hydraulischem An- trieb 3 1/2 Minuten lang mitreißende Aben- teuer unter Wasser. Ebenfalls neu sind, so Wollenschlaeger, die Feuerwerker, die bis zum 20. Mai an jedem Samstag den Himmel über der Hasenheide in ein spek- takuläres Lichtermeer verwandeln. Das macht jetzt die Firma Halter aus Spandau, die u. a. mit der Sprengung des Daches der Berliner Deutschlandhalle bewiesen hat, dass sich die dort arbeitenden Spezialisten auch auf anderes als pyrotechnische Effekte verstehen.

elif uncuoglu gewinnerplakat_neuköllner maientageTradition hat dagegen bei den Neu- köllner Maientagen längst, dass mitt- wochs beim Gros der Fahrgeschäfte und Buden nur der halbe Preis zu zahlen ist, der Eintritt zum Festge- lände frei und das Plakat für das Volksfest Resultat eines Malwettbe- werbs an Neuköllner Schulen ist: In diesem Jahr gewann den Elif Un- cuoglu aus der Klasse 10c der Her- mann-von-Helmholtz-Schule. Außer- dem gibt es auch bei der 48. Auflage der Neuköllner Maientage wieder Sonder- veranstaltungen für alte Leute und Kinder geben: Am 13. Mai lädt Wollenschlaeger etwa 200 Senioren zu Kaffee und Kuchen auf dem Festplatz vor der Bühne ein, am Folgetag Neuköllner Schülerlotsen zu kostenlosen Rummelspaß. Andere Attraktionen wie die Event-Euro genannte Schausteller-Währung, das Nonstop-Bühnenprogramm oder die Castingshow „Neukölln sucht das Multi-Kulti-Super-Talent“ sind noch auf aufbau_maientage neuköllndem Weg zur Tradition zu werden.

Heute um 17 Uhr wird Heinz Busch-kowsky das Volksfest offiziell mit dem Fassbieranstich eröffnen. Noch vorgestern bei der BVV-Sitzung rühr- te er dafür kräftig die Werbetrommel. Die Neuköllner Maientage würden zu den trivialen Dingen gehören, die sehr viel Spaß machen, erinnerte der Bezirksbürgermeister sein Plenum. Für Thilo-Harry Wollenschlaeger sind sie Spaß, Ernst und Leidenschaft zugleich. Mit rund 250.000 Euro beziffert er die Kosten für die gut dreiwöchige Veranstaltung – inklusive der Reparatur der nach der Abreise der Schausteller stark ramponierten Rasenfläche. Keinerlei Verständnis hat er dafür, dass vielerorts von der Politik vergessen wird, dass die Schausteller ein Fest fürs Volk machen, und immer weiter an der Preisspirale für die Standplatzmiete etc. drehen, statt das Anliegen wohlwollend zu unterstützen. „Was auch nicht bedacht wird, ist, dass viele Schausteller von weither anreisen müssen“, sagt Wollen- schlaeger, „weil die Berliner Schausteller allein gar nicht in der Lage wären, so ein Volksfest mit einer Vielzahl an Attraktionen auf den Weg zu bringen.“

Gewinnspiel:

Welche Neuköllner Schule besucht Elif Uncuoglu, die Gewinnerin des diesjährigen Neuköllner Maientage-Plakatwettbewerbs?

Wer diese Frage richtig beantwortet und die Lösung bis zum 27. April um 23.59 Uhr per Mail ans FACETTEN-Magazin schickt, nimmt an der Verlosung von drei Freikarten-Paketen im Wert von jeweils ca. 30 Euro teil, die von Wollenschlaeger und den Schaustellern zur Verfügung gestellt werden.

Die Neuköllner Maientage (Haupteingang am Columbiadamm) sind mon- tags, dienstags sowie donnerstags von 15 bis 23 Uhr und an allen anderen Tagen von 14 bis 23 Uhr geöffnet.

Update (28.4., 10:30 Uhr): Die Gewinner der drei Freikarten-Pakete wurden inzwischen von einem unabhängigen, nach dem Zufallsprinzip ausge- wählten Glücksfeeerich aus dem vollen Lostopf gezogen und sind be- nachrichtigt. Ihnen und allen, die nicht zu den Glücklichen gehören, wün- schen wir viel Spaß bei den 48. Neuköllner Maientagen.

=ensa=

Nicht des Blickes wert

Neulich in Neukölln: Zwei junge, mit  Wasserballkappen  behütete Leute machen ein Stück  Bürgersteig der Richardstraße zum Set  für eine Fotosession, knipsen sich ge-

wasserballkappen-fotosession_neukölln

genseitig in verschiedenen Posen, haben mächtig Spaß dabei – und kaum jeman- den interessiert’s. Eine ähnliche Szene, die sich am Alexanderplatz abspielte, hielten jüngst die Kollegen von der Berliner Zeitung im Bild fest. Was wieder einmal beweist: Neukölln steht Mitte beim Coolness-Faktor in nichts nach.

Kunst und Handwerk statt Knast

1_jugendwerkstatt statt knast_neuköllnSchon vor der Schwelle zum Ladenlokal in der Nogatstraße wird man begrüßt und auf originelle Art auf das hingewiesen, was sich hinter der Tür tut. Wer etwas hinter der Tür tut, macht das – abgesehen von Karin Fritz-Moreira und Alberto Cri- villes-Villanueva, den beiden sozialpäda- gogischen Betreuern – nicht ganz frei- willig: Es sind straffällig gewordene Ju- gendliche und Heranwachsende, die hier ihre richterlich verordneten Arbeitsstunden ableisten. Daraus macht auch der Name der Einrichtung kein Geheimnis: Statt Knast heißt das Projekt unter der Trägerschaft des  Nachbarschaftsheims Neukölln  bezeichnenderweise.

Seit über einem Vierteljahrhundert gibt es die Jugendwerkstatt, in der in drei Bereichen mit Delinquenten gearbeitet wird, um ihnen neue Handlungsoptionen und Tätigkeitsabläufe aufzuzeigen: In der Siebdruckwerkstatt werden Druckaufträge für Textilien oder Papier erledigt und in der Fahrradwerkstatt Drahtesel repariert. All- 2_jugendwerkstatt statt knast_neuköllngegenwärtig ist in dem Ladenlokal in der Nogatstraße 31 jedoch das, was in der Metall- werkstatt hergestellt wird.

3_jugendwerkstatt statt knast_neuköllnGleich nach dem Betreten des La- dens fällt die Gar- derobe ins Auge, einen Moment später die aus Fahrradteilen kreierte Wanduhr. Ist der Blick erst für das geschärft, was hier an dekorativen und so schmückenden wie praktischen Kunstwerken darauf wartet, entdeckt zu werden, nimmt das Staunen seinen Lauf. Die  Regalbretter wurden mit  Fahrradketten an der  Wand befestigt, ein

4_jugendwerkstatt statt knast_neukölln5_jugendwerkstatt statt knast_neukölln

Gewichtheber hindert eine Lexikon-Reihe am Umfallen, aus schwerem Metall ist ein Kerzenhalter mit filigraner Blüte entstanden, daneben eine Skulptur, deren Deutung dem Betrachter überlassen ist.

Zweifellos zeigt sich jedoch bei allen Statt Knast-Exponaten, welches Potenzial in vermeintlichem Schrott steckt und welche handwerklichen und kreativen Talente aus den Jugendlichen herausgekitzelt werden können.

=ensa=

Die Macht der Bilder: Shitstorm über dem Tempelhofer Feld

1_tempelhofer feld_berlinEmpörung, hitzige Diskussionen, Ver- unsicherung. Seit vor einigen Tagen der zwei Jahre alte Blogbeitrag „Das teure Foto“ zu einer Revival-Tournee durch das weltweite Netz und seine sozialen Netzwerke aufbrach, ist der Wirbel groß. Denn in Berlin ist das Tempelhofer Feld mittlerweile zum Reizthema geworden – und den Be- treibern von der Grün Berlin GmbH 3_tempelhofer feld_berlinals verlängertem Arm des Berliner Senats, traut mancher inzwischen vie- les zu.

Ob wir auch bezahlen müssen, wenn wir Fotos vom Feld veröffentlichen? Ob es denn noch erlaubt ist, Bilder bei Facebook zu teilen, ohne eine Rechnung befürchten zu müssen? Ob man eine Fotogenehmigung einholen müsse, bevor man zum ersten Mal auf den Auslöser drückt?  Zahlreiche besorgte Mails, Facebook-Nachrichten, Anrufe und Twitter-Messages erreichten uns in den letzten Tagen. Wer Fotos vom Tempel- hofer Feldes in sozialen Netzwerken einstellte, erhielt als Kommentar häufig die wohlmeinende Warnung, dass man gelesen habe, dass für solche Bilder bezahlt werden müsse. Der Aspekt, dass es sehr wohl zwischen privater und gewerblicher 2_tempelhofer feld_berlinFotografie zu unterscheiden gilt, wur- de vom Shitstorm mitgerissen.

Auch Grün Berlin blieb das Phäno- men nicht verborgen. Auf unsere An- frage, wie es sich in Sachen „Foto- grafieren auf dem Tempelhofer Feld“ hinsichtlich der Genehmigungs- und Kostenpflichtigkeit verhält, kam von Projektmanager André Ruppert per E-Mail folgende Erklärung: „In der Tat 4_tempelhofer feld_berlingibt es derzeit eine hitzige Diskussion im Netz, die zum Teil sehr emotional geführt wird. Wir freuen uns daher über Ihre Anfrage und möchten an dieser Stelle deutlich machen, dass die Grün Berlin GmbH die Freiheit der Berichterstattung besonders schätzt und achtet und daher in keiner Weise versuchen wird, zu privaten Zwe- cken gemachte Fotos, Filme etc. in irgendeiner Form zu verhindern und deren Veröffentlichung zu behindern. Im Gegenteil: wir freuen uns, dass so viele Menschen das Tempelhofer Feld genießen und ihre Freude beim Besuch der Fläche durch das Einstellen von digitalen Inhalten im Internet zum Ausdruck bringen.“

Gleichwohl machte Ruppert klar, dass für gewerbliches Fotografieren ein anderes Prozedere gilt: „Wie es auch in unseren anderen Parkanlagen der Fall ist, erheben wir für kommerzielle Produktionen (Film, Fernsehen, Foto, Musikvideos) auf dem Tempelhofer Feld eine Motivmiete. Dieses Geld fließt in die Bewirtschaftung der Fläche und senkt den Anteil an öffentlichen Steuermitteln, die vom Land Berlin für den Unterhalt der Fläche ausgegeben wird. Davon ausgenommen sind – wie bereits erwähnt – selbstverständlich Aufnahmen, die Privatbesucher für den eigenen Gebrauch hier machen. Journalisten erhalten im Rahmen der täglichen Bericht- erstattung ebenso wie studentische nichtkommerzielle Produktionen nach Anmel- dung eine kostenfreie Erlaubnis für Foto- und Filmaufnahmen.“

Ja, wo denn nun?

Wer in Neukölln die Braunschweiger Straße 51 gesucht und gefunden hat, nun vor dem Haus mit  den roten Balkonen steht und das kleine Schild mit der Aufschrift  Thü-

braunschweiger straße_thüringer straße_neukölln

ringer Str. 17 erblickt, könnte zu zweifeln beginnen, ob er wirklich da ist, wo er sein will. Dafür gibt es aber keinen Grund: In Frakturschrift wird dort lediglich daran erin- nert, dass die Braunschweiger Straße bis zum 31. Mai 1964 Thüringer Straße hieß und das heutige Haus mit der Nr. 51 damals die Nummer 17 hatte.

Alles für die Toleranz: Diskussionen, Speed Dating und rote Nasen in einer Neuköllner Kirche

salsabil_derwisch-tanz_lange nacht der toleranz_izg neukölln„Wie macht der das?“ Viele Fragen wurden an diesem Abend im Zeichen der Toleranz gestellt und beantwortet. Die, wie Cihangir Böge, der Derwisch-Tänzer des Ensembles Salsabil, es schafft, sich minutenlang mit wehendem Rock und wechselnden Posen um die derwisch_salsabil_lange nacht der toleranz_izg neuköllneigene Achse zu drehen, ohne dabei oder hinterher ins Taumeln zu kommen, blieb offen. Er könne sich das auch nicht erklären, obwohl das Der- wischdrehen ja eine Tra- dition in dem Kulturkreis sei, aus dem er stamme, musste Moderator Kemal Hür der ebenfalls staunenden und ratlosen Pfarrerin Elisabeth Kruse gestehen. Bevor es für das Publikum in vier Gruppen mit gemächlicherem Kreisen beim Entdecken neuer Wege der Kommu-nikation weiterging.

Kugellager wird das spielerische Experiment vom Treffpunkt Religion und Gesell- schaft genannt, weil es nach eben diesem Prinzip funktioniert. In einem Innen- und einem Außenkreis saßen sich Gläubige jeglicher Couleur und Atheisten, Junge und Ältere, Frauen und Männer gegenüber, um sich nach dem Erklingen eines Gongs durch Fragen und Antworten ersten Eindrücke vom bis dato unbekannten Vis-à-Vis get together_lange nacht der toleranz_izg neuköllnverschaffen zu können. „Es war so span- nend wie ein  Speed Dating“, sagte eine junge Frau hinterher begeistert. Es sei ein großartiges System, um in kürzester Zeit Kontakt zu vielen Menschen zu be- kommen und sehr aufschlussreich, wenn man nicht nur die richtigen Fragen stellt, sondern auch aufmerksam zuhören kann, fand ein Mann.  Dass Moderator Kemal Hür anschließend mehrmals darum bitten musste, die Gruppenräume zu verlassen und zur Podiumsdiskussion zu kommen, spricht für den Erfolg der Methode und das Kommunikationsbedürfnis.

v. l.: Nilgün Hascelik (TDZ Türkisch-Deutsches Zentrum), Pfarrer Dr. Eckhard Zemmrich, Kemal Hür, Falko Liecke (CDU Neukölln), Pinar Cetin (DITIB)

v. l.: Nilgün Hascelik (TDZ Türkisch-Deutsches Zentrum), Pfarrer Dr. Eckhard Zemmrich, Kemal Hür, Falko Liecke (CDU Neukölln), Pinar Cetin (DITIB)

Die Gesprächsrunde auf dem Podium sollte nun wieder den Fokus auf das Kernthema Toleranz lenken und es aus verschiedenen religiösen und gesellschaftlichen Per- spektiven beleuchten. Schon bei Falko Lieckes Statement wurde dabei deutlich, welcher Graben zwischen Theorie und Praxis liegt bzw. wie unter-schiedlich dieser wahrgenommen und überwunden wird. Er halte es mit dem Alten Fritz und dessen Grundsatz, dass jeder nach seiner Fasson selig werden solle, meinte der Neuköllner Jugend- und Gesundheitsstadtrat. Wichtig sei eben zu beachten, dass die eigene Freiheit dort aufhört, wo die des anderen beginnt. Diese Grenze müsse in einer funktionierenden Gesellschaft anerkannt und ihr Übertreten sanktioniert werden. Er leite Toleranz von seinem Gottesverständnis ab, erklärte Pfarrer Dr. Eckhard Zemmrich: „Ich muss mich damit abfinden, dass Muslime Jesus anders sehen. Entscheidend ist dabei, dass wir einander zeigen, dass wir miteinander zu tun haben wollen.“ Als einen wahren GAU bezeichnete der theo- logische Grundsatzreferent es, „die eigene Religion mit den schlechten Beispielen der anderen Religion zu vergleichen.“ genezareth-kirche_neuköllnToleranz sei für ihn ein aktives Dulden, das bestenfalls auf Gegenseitigkeit beruht, oft aber nur einseitig ist.

„Bei der politschen Definition von Toleranz gibt es also Sanktionen, bei der theolo-gischen aber nicht“, stellte Kemal Hür fest.

Pinar Cetin verwies in ihrem Statement zunächst auf die Übersetzungen des Wor- tes Toleranz in die arabische und türkische Sprache. Im Arabischen sei vom Tragen einer Last, vom Aushalten und Annehmen die Rede, im Türkischen davon, mit positiven Gedanken auf etwas zu blicken. „Vielleicht“, vermutete sie, „ist die sprachliche Herkunft für das entscheidend, was wir unter Toleranz verstehen.“ Praktisch machte die stellvertretende Vorsitzende der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) e. V.  ihre begriffliche Definition an einem aktuellen Bei- spiel fest: Vor einigen Wochen hatten Aktivistinnen der Femen-Bewegung mit freien Oberkörpern vor einer Moschee gegen das Kopftuch von Musliminnen protestiert. Da sei für sie die Grenze des Tolerierbaren erreicht, sagte Pinar Cetin und empfahl, „dass die Femen-Frauen lernen sollten, dass Freiheit nicht immer das ist, was sie sich vorstellen.“ Für Nilgün Hascelik, die als Letzte an der Reihe war, blieb nicht mehr viel mehr übrig als eine Kritik an der Lesart des Wortes Toleranz. Es sei sehr negativ behaftet, weil es Passivität projiziert. „Besser gefällt es mir, wenn jemand liecke+cetin+eva-maria rastlos_lange nacht der toleranz_izg neuköllnoder etwas akzeptiert oder respektiert wird“, hielt sie fest.

Um all das, in gescheiterter Form oder Vollendung praktiziert, ging es auch beim humoristisch auf- bereiteten Punkt, den Eva-Maria Rastlos zwischen Diskussion und Büffet setzte. Die Komödiantin, die bürgerlich Dorothee Schaper heißt und Pfarrerin an der Melanchthon Akademie ist, sezierte in kölscher Mundart rastlos+zehden+kruse+cetin_lange nacht der toleranz_izg neuköllndie Vielzahl an kommunikativen und kulturellen Fallstricken, die zwischen Neukölln und Köln, zwischen Gläubigen der Weltreligionen und auf dem Weg zu Toleranz, Akzeptanz und Respekt lauern. Mit ihrem Rezept, miteinander zu streiten und zu lachen, kommt man schon einen Schritt weiter. Wie es um das fürs alltägliche Mitein- ander ebenfalls vorteilhafte Talent bestellt ist, über sich selber lachen zu können, testete sie sogleich mit karnevalesken Accessoires an den völlig überrumpelten Vertretern dreier Religionen: Ender Cetin von der Sehitlik-Moschee, Elisabeth Kruse von der Genezareth-Gemeinde und Maya Zehden vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus schlugen sich achtbar.

Wer sein Talent beim Derwisch-Drehen testen will, kann das jeden Sonntag ab 15 Uhr und mittwochs ab 18.30 Uhr im Sufi-Zentrum Berlin tun.

=ensa= 

… runter wie Öl

werbung olivenöl-eis_erste sahne neuköllnUm es vorweg zu nehmen: Es geht um Eis, genauer um Speiseeis, und um die Zahl 3. Denn seit 1843 kann Speiseeis in Eis- maschinen produziert und seit 1873 mit Apparaten, in denen Ammoniak verflüssigt wird, dauerhaft kalt und somit haltbar gehalten werden. Tja, und 2013, genauer ab heute, gibt es in Neukölln das ver- mutlich erste Eis aus Olivenöl, das ganz ohne Milch, Sahne und tierische Produkte entsteht. So schlüssig es scheint, aus Speiseöl Speiseeis zu machen, so ungewöhnlich ist es doch auch. Carpaccio mit Olivenöl: unabdingbar. sara tricoli_erste sahne neuköllnAber Gelato?

Wieder spielt die 3 eine Rolle, denn es waren drei Dinge, die Sara Tricoli und Domenico Richichi, die beiden Inhaber des Eiscafés Erste Sahne, bewegten, sich daran zu versuchen: Zum einen produziert Domenicos Vater in Kalabrien von eigenen Olivenbäumen hochwertige Öle, die zum Einsatz kommen sollten. Zum anderen war das Wissen um Kunden, die bisher auf Sorbets zurückgreifen mussten, weil sie Veganer sind oder wegen einer Laktose-Intoleranz nur wenig Freude am sara+domenico_erste sahne neuköllnherkömm- lichen Eis haben. Und außerdem haben die beiden Jungunternehmer den Wunsch, nicht nur kommerziell, sondern auch kreativ tätig zu sein und im Eislabor zu experimentieren.

olivenöl-eis_erste sahne neuköllnDas Schoko-Olivenöl-Eis hat einen tie- fen Dunkelbraunton, ist intensiv schokoladig und so cremig wie das Erste Sahne-Sahneeis. „Wir verkaufen Eis und keine Luft“, sagt Domenico Richichi schmunzelnd. Wer nicht weiß, dass hier Öl ver- arbeitet wurde, käme nicht auf die Idee. Das ist bei der Geschmacksrichtung Pistazie anders. Schon die Farbe hat nichts mit gewöhnlichem Pistazieneis gemein, weil keine Farbstoffe zugesetzt sind. Auf der Zunge macht sich eine leichte Olivenöl-Nuance be- merkbar, die das Pistazien-Aroma harmonisch abrun- sara tricoli_erste sahne_neuköllndet. Außerdem gibt es das außergewöhnli- che milch- und sahnefreie Eis mit Haselnüssen und Pinienkernen.

Sara Tricoli (r.) strahlt, als sie von den neuen Eis- Kreationen erzählt, die ihre Cremigkeit durch eine ausgeklügelte Mixtur aus Olivenöl und biointegralem Sojamehl erhalten und fortan die Sorbets mit Hasel- nuss und Kakao ersetzen. Neu im Sortiment der kleinen Eisdiele in der Kienitzer Straße 116 ist auch eine Joghurt-Linie, die von Eis und Eistorten otivm erste sahne neuköllnbis zu Semifreddi reicht und ebenfalls für Lakto- se-Intolerante geeig- net ist.

Die von den Erste Sahne-Machern ausgesprochene, selbstironische Warnung „Es macht sehr schnell abhängig: Fangen Sie gar nicht erst an!“ behält somit auch in dieser Eissaison ihre Gültigkeit.

=kiezkieker=

„Sprich mit mir!“: Keine lange Nacht, aber ein unterhaltsamer Abend im Zeichen der Toleranz in Neukölln

Weshalb sind nur manche Dinge so schwierig? Die Sache mit der Toleranz zum Beispiel. Schon an diesem Auftakt des zwischenmenschlichen Triathlons, BMFSFJ_FuerDemokratie_Visual_Bild_ohneBreg_RGB_RZder sich über Akzeptanz zur Königsdisziplin Respekt steigert, scheitern viele. Am vergangenen Dienstag konnte bei der Aktion Tag und Nacht für Toleranz und ihren über 800 bun- desweiten Events Toleranz geübt werden. 15 Trainingscamps gab es in Berlin, eines davon, von Kemal Hür moderiert, in Neukölln – und das wurde bestens besucht.

Unter dem Motto „Sprich mit mir! zusammenkommen, auseinandersetzen, gemeinsam weitergehen“ hatte der DITIB Landesverband Berlin zusammen mit dem orhan senel_lange nacht der toleranz_izg neuköllnTreffpunkt Religion und Gesellschaft e. V. (TRG) ins Interkulturelle Zentrum Genezareth (IZG) zu einem doppeldeutig unterhaltsamen Abend eingeladen. Denn nach der Ouvertüre durch den Kanun-Spieler Orhan Şenel standen nicht nur Unterhaltung, sondern auch Unter-haltungen auf dem Programm. „Wie gestaltet sich in Berlin das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen?“, das war die Frage, die im Zentrum der Veranstaltung stand.

elisabeth kruse_lange nacht der toleranz_izg neuköllnDer von Institutio- nen verschiedener Glaubensrichtungen gegründete TRG fasst sie noch ein Stück weiter. Er habe das Ziel, Begegnungen und Gespräche zwischen Menschen aller Religionen wie auch Nicht-Religiösen zu initiieren, erklärte Vorstandsmitglied Elisabeth Kruse. Toleranz wer- de hier im Sinne von Anerkennung der Gleichberech- tigung verstanden, so die Pfarrerin der Genezaender cetin_lange nacht der toleranz_izg neuköllnreth-Gemeinde: „Ein solcher de- mokratischer Prozess funk- tioniert nur übers Reden.“

Dieses Reden sei eine tägliche Herausforderung in der Sehitlik-Moschee, sagte deren Vorstandsvorsitzender Ender Cetin. Häufig würden die Moscheeführer „mit sehr harten Fragen“ zu allerlei Vorurteilen konfrontiert und müssten – um Geduld bemüht – Aufklärungsarbeit dahin- gehend betreiben, dass der Islam z. B. nicht gewalttätig ist, sondern der Koran zu Toleranz und Miteinander aufrufe. maya zehden_lange nacht der toleranz_izg neukölln„Brückenbauer wie der TRG“, meinte Cetin, „kön- nen einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Verstän- digung leisten.“

Das erhofft sich auch Maya Zehden vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA), das ebenfalls Gründungsmitglied des Treffpunkt Religion und Gesellschaft e. V. ist. Religion, sagte sie, müsse als positive Kraft wahrgenommen werden und Fremdes den Status des Gleichberechtigten bekommen. ehrhart körting_lange nacht der toleranz_izg neuköllnDas vom TRG geplante lokal verwurzelte, aber berlinweit aktive interreligiöse Zent- rum mit überregionaler Strahlkraft auf der Tempelhofer Freiheit könne ein Ort werden, wo die Toleranz zwischen Mehrheiten und Minderheiten gelebt wird.

Nicht in der Rolle des Senators a. D., sondern als institutionell unabhängiges TRG-Gründungsmitglied trat schließlich Ehrhart Körting hinter das Pult. „Religiöse Strömungen“, bemerkte er, „stellen doch in Berlin Min- derheiten dar.“ Wichtig sei, dass (Glaubens-)Wahr- heiten, die andere für sich finden, gleichberechtigt sind und die Diskussionen darüber auf Augenhöhe geführt werden.  Dass überhaupt salsabil_lange nacht der toleranz_izg neuköllnmiteinander geredet wird, dafür wolle er werben.

Nach dem Auftritt der Gruppe Salsabil könne das Miteinanderreden ausgie- big praktiziert werden, kündigte Kemal Hür den reichlich in die Genezareth-Kirche geströmten Besuchern an. „Danach“, versprach er, „erwartet Sie eine nicht sehr klassische Podiums-diskussion, bei der über die Bedeutung von Toleranz aus verschiedenen religiösen und gesellschaftlichen Perspektiven gesprochen wird.“ Und abschließend gebe es dann noch eine interreligiöse Comedy-Show mit der Pfarrerin Dorothee Schaper in ihrer Rolle als Eva-Maria Rastlos. (Fortsetzung: übermorgen)

=ensa=

Große und kleine Wünsche

Wenn sich die Natur noch etwas Zeit lässt und die Zukunft partout dort bleiben will, wo sie hingehört, dann greift das pfiffige Kind zur Kreide und malt mitten in Neukölln auf einen asphaltierten  Weg, was es sich wünscht. Dann treffen Street Art und Urban

blumenweg_neukölln

Gardening aufeinander und führen plakativ zum Revival der Sehnsucht, mit der einst eine Bausparkasse warb: „Wenn ich groß bin, will ich auch mal Spießer werden.“

Verschleppt. Getreten. Beschimpft. Bedroht.

kreuzAnlässlich des Berliner Themenjahrs „Zerstörte Vielfalt“ ist die Konfron-tation mit den immer wieder unfass- baren Gräueltaten innerhalb der Dutzend Jahre braunen Terrors groß. Dass sogar die Evangelische Kirche daran beteiligt war, indem sie ver- steckt im hinteren Teil des Fried- hofs der Jerusalems- und neuen Kir- che V an der Neuköllner Netzestraße von 1942 bis 1945 ein Zwangsarbeiterlager betrieb, ist kaum zu glauben. Über 40 christliche Gemeinden (38 evangelische und 3 katholische) waren daran beteiligt und ließen auf säulenrest_ns-zwangsarbeiter_neuköllnihren Friedhöfen über hundert aus der besetzten Sowjetunion verschlepp- te männliche Zivilisten als Totengräber schuften.

Bis vor zwei Wochen erinnerten eine Infor-mationssäule und ein Gedenkstein nahe dem Eingang dieses Friedhofs daran. Heute ist dieser Platz verwaist und nur noch der Sockel und ein Kranz aus Kieseln weist darauf hin, dass hier mehr gewesen sein muss.

Begibt man sich allerdings in den Teil, in dem die Wohn- und Wirtschaftsbaracken gestanden haben, trifft man auf eine etwas schief stehende Tafel, auf der u. a. zu lesen ist: „Hier standen von August 1942 bis April 1945 die Baracken eines hinweistafel_gedenkort zwangsarbeiterlager_neuköllnkirchlichen Zwangsarbeiter- lagers. (…) Wegen mangel- hafter Ernährung litten sie unter Hunger und Krankhei- ten. Kranken wurde in eini- gen Fällen Arbeitsverweige- rung unterstellt. Das bedeu- tete Einweisung in ein »Ar- beitserziehungslager« oder KZ. (…) Bei den häufigen Bombardements des an- grenzenden Flughafens durften die Insassen des Lagers als besonders gekenn- zeichnete »Ostarbeiter« keine Luftschutzkeller benutzen. (…) Das Lager wurde drei Mal von Bomben getroffen und brannte am 29. April 1944 nieder. Auch wenn es bei diesem Angriff, da er tagsüber erfolgte, keine Todesopfer gab, wuchs die Angst. Das Lager wurde 1944 nach der Zerstörung hinweistafel_ausstellung ns-zwangsarbeit_neuköllnnotdürftig wiederaufgebaut. Die Befreiung er- folgte am 24. April 1945 durch die Rote Armee.“

Dann ein weiteres Schild. Und wer am letzten Sonntagnachmittag diesem Hinweis folgte, traf nicht nur auf den Ausstellungspavillon, sondern auch auf Gerlind Lachenicht und eine kleine Gruppe weiterer Menschen, die der Einladung von Cross Roads gefolgt waren und ns-zwangsarbeiter-pavillon_neukölln„Berlin mit anderen Augen“ sehen wollten. Das nämlich verspricht dieses Stadtspa-ziergangsprogramm, das sich insgesamt 19 verschiedenen Themen widmet und so auch dem, der diesem Beitrag die Über- schrift gab.

Gerlind Lachenicht ist hauptamtliche Mitar-beiterin des Landeskirchlichen Archivs und dort für das Forum für Erinnerungskultur der EKBO (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) tätig. An diesem Tag war sie zusätzlich fürsorgliche Gastgeberin im Ausstellungspavillon auf dem St. Thomas-Friedhof und in jeder Hinsicht kompetente Spaziergangs-führerin gerlind lachenicht_crossroads_neuköllnmit großem Engagement, das nicht zuletzt daran festzumachen war, das sie die vorgesehen 1 ½ Stunden schlicht- weg verdoppelte.

Anhand der Ausstellungstafeln zeichnete sie das Schicksal derjenigen Insassen nach, die sie ausfindig gemacht und zu denen sie Kontakt herstellen konnte. Von ihr ist auch zu erfahren, dass erst im Jahr 2000 klar wurde, welche Rolle die Kirchengemeinden in diesem Zusammenhang gespielt haben, und welchen Schock das in Kirchenkreisen auslöste. Eine weitere erschreckende Erkenntnis war die, dass die Zwangsarbeiter selbst nicht wussten, dass sie für kirchliche Einrichtungen arbeiteten, was wiederum deutlich macht, dass sie keinerlei seelsorgerische Begleitung durch die Pfarrerschaft erfuhren. Es war allerdings auch das einzige Lager, das von der Kirche geplant, aufgebaut und über Jahre verantwortet wurde.

Was die Zwangsarbeiter durchmachen mussten, ist unter Anlegung heutiger Maß- stäbe unvorstellbar. Am Schlimmsten muss der Hunger gewesen sein. Und wer denkt, dass die Überlebenden durch die Rote Armee „befreit“ wurden, irrt. Denn zurück in der Heimat, wurden sie als Kollaborateure geschmäht, weil sie für Deutsche gearbeitet und nicht gegen diese die Waffe erhoben hatten. Dass dennoch die einzelnen Lebenswege ganz unterschiedlich verliefen, lässt Gerlind Lachenicht crossroads-gruppe_neuköllndurch ihre ergreifenden Schilderungen deutlich werden.

Beim anschließenden Gang über den Friedhof finden sich auch Gedenkstein und Infosäule wieder, die bewusst in die Nähe Ausstellungsraumes gebracht wurden, weil die geschäftige Hermannstraße ein zu stark trennendes Element gewesen sei. Und nun werden auch die Gestaltung und Funktion dieses Findlings erläutert:

Nachdem die oberste Ebene mit dem Sinnbild des Deckelhebens abgenommen worden war, ging es darum, einen geeigneten Sinnspruch zu finden. Man einigte sich gedenkstein_ns-zwangsarbeiter_neuköllnauf: „Der Gott, der Sklaven befreit, sei uns gnädig.“ Aus dieser zweiten Ebene ist dann für jede der beteiligten Gemeinden ein Stein mit ihrem Namen geschnitten worden, die die meisten von ihnen an einem würdigen Ort – z. B. dem Altar – aufbewahren. Jährlich am Volks-trauertrag findet eine Gedenkfeier statt, zu der Vertreter der jeweiligen Gemeinde mit ihrem Stein zusammenkommen, um ihn auf seinem Platzhalter auf der dritten Ebene zu crossroads-führung_gerlind lachenichtplatzieren. Diese Feier wird jeweils von Ange- hörigen der Evangelischen Schule Neukölln gestaltet.

Ein Schüler dieser Schule war es auch, der 2008 beim Besuch des ehemaligen Zwangs-arbeiters Wassili Miljutin, in dessen Dorf in der Ost-Ukraine einen Film mit dem Titel „Eine Reise durch die Ukraine“ gedreht hat. Dieser Film kann in der Ausstellung ange- sehen werden.

Broschüre_Erinnerungsorte gestalten_kirchliche Zwangsarbeiter NeuköllnDer NS-Zwangsarbeiter-Pavillon auf dem St. Thomas- Kirchhof in der Hermannstraße ist bis Mitte Oktober mittwochs und sonnabends zwischen 15 und 18 Uhr geöffnet. In dieser Zeit stehen Ehrenamtliche für weitere Auskünfte zur Verfügung. Dort ist auch die Broschüre „Geschichte erforschen – Menschen finden – Erinnerungsorte gestalten“ für 3 Euro zu erwerben.

Wer Authentisches zum Thema von Gerlind Lache- nicht lesen möchte, dem sei ihr Vortrag zum Tag des offenen Denkmals am 10.9. 2005  empfohlen.

=kiezkieker=

Drive in and chill out

tempolimits_neuköllnFür Autofahrer, die es besonders eilig haben, könnte es heute auf den Straßen Berlins etwas länger dauern. Etwa 200 Radar- und Laserkon-trollgeräte sowie zusätzliche 21 Videofahrzeuge setzt die Berliner Polizei bei ihrer ganztägigen Aktion zur Verkehrsunfallbekämpfung an rund 800 wechselnden Orten ein: an Hauptstraßen und als Raserstrecken berüchtigten Routen in Wohn- gebieten. Wer zu schnell in die Drive-In-Falle tappt, soll sofort angehalten und zum „verkehrsaufkläre- rischen Gespräch“ gebeten werden.

In Neukölln sind die Kontrollpunkte am Colum-biadamm, an der Gerlinger Straße, Groß-Ziethe- ner-Chaussee, Harzer Straße, Hermannstraße, Karl-Marx-Straße, am Kiehlufer, Mariendorfer Weg, Neudecker Weg, an der Neuköllner Straße, am Petunienweg, an der Schiller-promenade, Sonnenallee, Stubenrauchstraße, Thiemannstraße, Treptower Straße und Waltersdorfer Chaussee.

Der Anfang ist gemacht: Frisches Grün fürs Tempelhofer Feld

gaebler+schmidt_pk 1.baumpflanzung_tempelhofer feld_berlinEs hätte schlimmer kommen können, aber auch besser. Noch Freitagmorgen hatten Christian Gaebler (l.), Staatssekretär für Stadt-entwicklung beim Berliner Senat, und Grün Berlin-Geschäftsführer Christoph Schmidt (r.) damit gerechnet, im strömenden Regen die ersten neuen Bäume auf dem Tempelhofer pk 1.baumpflanzung_tempelhofer feldFeld pflanzen zu müssen. Doch dann war es am frühen Nachmittag nur noch herbstlich kalt und stürmisch. „Beste gärtnerische Bedingungen also“, fand Schmidt, „um die Bäume gut und nachhaltig in den Boden zu bringen.“

26 Gleditschien sind es, die nun im Bereich des Alten Hafens zu Vorreitern der „Qua- lifizierung der Parklandlandschaft anknüpfend an den Nutzerwünschen“ werden, wie Christian Gaebler es nannte. Denn Befragungungen hätten ergeben, dass das Bedürfnis der Besucher nach schattigen Aufenthaltsplätzen groß ist. Das sahen und sehen natürlich die Aktivisten der Bürgerinitiative 100 % Tempelhofer Feld gänzlich anders: Die Pflanzaktion sei eine „Auftaktveranstaltung der gegen den eindeutigen gaebler+schmidt_bi thf100_tempelhofer feldBürgerwillen geplanten Zerstörung des Feldes“, echauffierten sie sich nicht nur per Pressemitteilung, son- dern auch vor Ort. Gleditschien seien zudem „nicht standortgerecht“, hielten sie Gaebler und Schmidt vor, die wiederum das völlig anders sahen und sehen und darauf verwiesen, dass die Baumart selbstverständlich im Vorfeld mit dem Berliner Natur-schutzbeauftragten abgestimmt wur- de. Gleditschien seien Bäume, die mit Wind, Trockenheit, hohen Temperaturen, einem verdichteten Boden und somit mit den spezifischen Bedingungen des ehemaligen Flugfelds gut zurechtkommen, refe- rierte Gaebler. Dazu kämen die optischen Vorzüge der Gleditschie, die sich mit ihrer 1.baumpflanzung tempehofer feld_gaebler+schmidtSilhouette perfekt in das Gesamtbild des Parks einfüge.

Im Herbst, kündigte der Staatssekretär an, werden weitere 116, ebenfalls sorgfältig ausgesuchte Bäu- me auf dem Areal gepflanzt. Und nicht nur das: Außerdem werde dann begonnen, mit der Aus- hebung eines 3 Hektar großen Wasserbeckens den Wunsch vieler Besucher nach Wasserflächen zu realisieren. Das Resultat würden jedoch nicht nur attraktive Aufenthaltsbereiche in den Uferregionen sein, sondern auch ein „ökologisch und ökono- misch vernünftiges Regenwasser-Management“. Etwa 300.000 Euro fielen derzeit als Kosten für die Wasserbecken Übersicht_Copyright Gross MaxAbleitung des Regenwassers von der Tempelhofer Freiheit in den Landwehrkanal an. Geld, das man für das Gelände sinnvoller ein- setzen könne.

Des Weiteren werde in absehbarer Zeit die Neuordnung der Sportfelder am Columbiadamm gestartet, um die dringend benö- tigten Flächen für die Erweiterung des muslimischen Friedhofs schaffen zu können.

Die Umsetzung anderer Pläne liegt noch in fernerer Zukunft. Bis 2016 reicht das Zeitfenster, das Christian Gaebler für Projekte wie das Anlegen eines Nord-Süd-Radwegs, die Verbesserung der Infrastruktur in puncto Toiletten und Gastronomie, die Schaffung quartiersnaher Spiel- und Sportplätze, das Ausweiten von Urban bi thf100_1.baumpflanzung_tempelhofer feldGardening-Flächen und die Kennzeich- nung und Ausstellung historischer Spuren auf dem ehemaligen Flughafen nannte.

Die Visionen vom künftigen Sound des Tempelhofer Felds hatten die Aktiven der Bürgerinitiative gegen die Bebauung gleich dabei. Baulärm vom Band begleitete die Spatenstiche von Christian Gaebler und Christoph Schmidt. Die Aufgabe, die der Staatssekretär ihnen auftrug, dürfte schwieriger zu bewältigen sein: „Dann zeigen Sie mir doch die 85 Prozent der Berliner, die etwas gegen mehr Bäume hier haben!“ lautet sie.

=ensa=

Klar wie Kloßbrühe

Normalerweise  sind  Neuköllner für  ihre unmissverständliche   Ausdrucksweise  be-

pupser kindermode_neukölln

kannt. Das spiegelt sich außer beim Zwischenmenschlichen auch oft bei der Namensgebung für ihre Läden wider. Umso auffälliger ist  es, wenn  jemand  von die-

öffnungszeiten_neukölln

sem Gebaren abweicht und mit vielen Wörtern etwas ausdrückt, was letztlich doch nur weitere Fragen statt Klarheit ergibt.

„Kein marginales, sondern ein tiefgreifendes Thema für die Gesellschaft“

unbelehrbar-plakat_eingang sputnik-kino kreuzberg„Der Film ist wirklich optimal“, findet Sigi, und er muss es wissen. Nicht weil er ein renommierter Filmkritiker ist, sondern weil in der Geschichte, die der Film „Unbelehrbar“ erzählt, sehr viel von sei- ner eigenen steckt. Vorgestern saß Sigi zusam- aussicht_sputnik-kino kreuzbergmen mit vielen anderen über den Dächern Kreuz- bergs im Sputnik-Kino, dem höchsten Kino Berlins, um sich die Leinwand-Version seiner Vergangenheit anzu- sehen. Und plötzlich schien der bittere Cocktail aus Unsicherheit, einem deso- laten Selbstwertgefühl, Verzweiflung und läh- mender Hilflosigkeit  wieder zum Greifen nah. Dass eine weite Etappe von Sigis Vita von einer Frau gespielt wird, macht keinen Unterschied. Die Emotionen, die Ellen in Anke Hentschels Film „Unbelehrbar“  durchlebt, kennen keine Geschlechtergrenzen. Nicht oder kaum lesen und schreiben zu können, ist für alle Betroffenen belastend – für etwa 7,5 Millionen Volljährige in Deutschland, also 14 Prozent aller Erwachsenen.

Die Schauspielerin Lenore Steller gibt ihnen mit ihrer Verkörperung der Ellen ein brillantes, zu Empathie animierendes Gesicht: Wie das Gros der funktionalen An- UNBELEHRBAR_Standfoto_CMYKAlphabeten mogelte sie sich irgend- wie durch ihre schulische Laufbahn. Als sie im Alter von 40 Jahren von ihrer Vorgesetzten dazu gedrängt wird, durch eine Weiterbildung ihre beruf- lichen Möglichkeiten zu verbessern, reagiert die Küchenhilfe zunächst trotzig: „Ich brauch keine Möglich- keiten!“ Aber dann reift in ihr doch zwischen Zweifeln und Ängsten ein Jetzt-oder-nie-Gefühl heran, und sie beschließt, den Ehemann und die beiden Kinder im Teenager-Alter in der bran- denburgischen Kleinstadt zurück zu lassen, um in Berlin einen Alphabetisierungs-Lehrgang zu machen. Völlig auf sich allein gestellt, wird aus der anfangs ver- unsicherten, zögerlichen, schüchternen Ellen eine mutige, optimische Frau, die bereit ist, die überall aufgestellten Hürden in der fremden Umgebung zu nehmen und die anke hentschel_unbelehrbar-regisseurin_sputnik-kino kreuzbergWelt der Schriftsprache zu erkunden.

Auch für Regisseurin Anke Hentschel (l.) war die filmische Umsetzung des Themas An-Alphabetismus eine Heraus-forderung. „Es war ein Zeitungsartikel darüber, der mich sehr bewegt und mir den Impuls gegeben hat, es probieren zu wollen“, erzählte sie nach dem Ende des Films bei einer Gesprächsrunde, an der mit Marion und Peter auch zwei ehemalige funktionale An-Alphabeten vom Neuköllner Verein Lesen und Schreiben sowie Dr. Ulrich Raiser (l.) von der Berliner Senatsverwaltung für Bildung teilnahmen. Mit dem Film „Unbelehrbar“, sagte sie, sei eine Metapher für Orientierungslosigkeit unbelehrbar-expertengespräch_sputnik-kino kreuzbergentstanden. Durch die exzellente Besetzung und insbesondere die her- ausragende Leistung von Lenore Stel- ler funktioniert die perfekt. Um sich die Rolle zu erarbeiten, die so schwierig sei wie die, eine Blinde zu spielen, nahm die Hauptdarstellerin – wie schon die Regisseurin – im Vorfeld Kontakt zu Betroffenen auf.

Mit dem Ergebnis, dass auch Peter und Marion, bewegt vom Film bestä- tigten, sich in vielen Situationen wie- dererkannt zu haben. „Noch heute“, gestand der 53-Jährige, „hab ich ein mulmiges Gefühl, wenn ich einen Formular oder einen Bewerbungsbogen ausfüllen muss.“ Denn sich als Erwachsener das anzueignen, was man als Kind verpasst hat, sei ein langer, anstrengender Weg. Für Marion begann der, als sie selber Kinder hatte: „Da hab ich begriffen, dass ich jetzt endlich den Arsch hoch kriegen und lesen und schreiben lernen muss.“ Das Problem sei allerdings, unterstrichen beide, dass es filmrollen_sputnik-kino_berlin-kreuzbergviel zu wenige Hilfsangebote und Kurse gebe.

Dem konnte Dr. Ulrich Raiser nur zustimmen: „Man müsste viel mehr Geld für die Bereiche Alphabetisierung und Grundbildung in die Hand nehmen, aber es ist doch leider nicht so leicht, das zu kriegen.“ Der Film, sagte er, sei sehr wichtig, um zu auf breiter Ebene zu verdeutlichen, dass es sich um kein mar- ginales, sondern um ein tiefgreifendes Thema für die Gesellschaft handelt. Durch das Ansehen von „Unbelehrbar“ habe nun jeder die Chance nachzuvollziehen, worum es eigentlich geht, wenn von An-Alphabetismus die Rede ist.

„Unbelehrbar“ läuft zurzeit im hackesche höfe kino, im Lichtblick-Kino und im Sputnik-Kino; ab 18.4. ist er im filmkunst 66 und im Film Cafe zu sehen.

Heute steht die Regisseurin Anke Hentschel nach der 20 Uhr-Vorführung für Gespräche bereit, morgen nach der 18 Uhr-Vorführung (beide im Licht- blick-Kino) ist die Autorin Katharina Schlender ebenfalls dabei. Am 20. April gibt es eine Sondervorführung mit Anke Hentschel und der Hauptdarstellerin Lenore Stelle im filmkunst 66 (Uhrzeit erfragen).

=ensa=

Augenblick Neukölln

So heißt das Thema des diesjährigen Fotowettbewerbs der Bürgerstiftung Neukölln, an  dem man sich noch  bis zum 16. Juni  mit  maximal drei Bildern  beteiligen  kann.

augenblick neukölln

Die Gewinner werden dann am 5. Juli bei der Eröffnung der Ausstellung aller ein- gesandten  Bilder  im  Neuköllner  Leuchtturm  bekanntgegeben.

Auf in den Kampf: Berliner Rittergilde bringt das Mittelalter aufs Tempelhofer Feld

berliner rittergilde_training schaukampfgruppe_tempelhofer feldMan hört sie schon, bevor man sie sieht. Der Maschendrahtzaun, der das Tempelhofer Feld umgibt, kann ihre Schreie und den Sound des Aufeinandertreffens von Metall und Metall nicht aufhalten. Männer in blauen Kitteln, mit Ket- handschuh_berliner rittergildetenhauben und Helmen duellieren sich, Schwerter kreisen erst durch die Luft und landen dann krachend auf anderen Klingen, Schil- den, Handschuhen, Schul- ter- oder Schienbeinschüt- zern. Es wirkt martialisch, doch Sorgen um die eige- ne Gesundheit oder die der Recken muss sich niemand machen: es ist die Schau- kampfgruppe der Berliner Rittergilde, die hier 14-täglich sonn- tags für ihre Auftritte thomas berliner_berliner rittergilde_tempelhofer feldtrainiert.

„Bitte nicht noch weiter ran!“, werden Schaulustige ermahnt, die sich dem Spektakel nähern wollen. Thomas Berliner (r.), der zu den Gründern der Gilde gehört, und ein Kollege achten genau darauf, dass der Mindestabstand von 10 Metern zwischen kämp- fenden Rittern und Publikum nicht unterschritten wird. So ist es vertraglich vereinbart und so wird es auch ein- gehalten. „Dafür bräuchten wir nicht mal einen Vertrag“, sagt Berliner. Auf ein Ritterehrenwort könne man sich auch ohne den verlassen. Zuverlässigkeit und ritterliche Tugenden wie Pflichtbewusstsein und Aufrichtigkeit seien bei ihnen das A und O: schilde_berliner rittergildeWeil wir Ritter sind und nicht nur Ritter spielen.“

Wer meint, der Berliner Rittergilde für einen monat- lichen Mitgliedsbeitrag von 11 Euro beizutreten, um dann kostümiert im Kampf seinen Aggressionen freien Lauf lassen zu können, ist eindeutig auf schwert_berliner rittergildedem falschen Dampfer. „Mit Leuten, die Schaum vor ‚m Mund haben, können wir absolut nichts anfangen“, stellt Thomas Berliner fest. Denn ritterliches Verhalten bedeute auch, sich selber und sein Leben unter Kontrolle zu haben.

Über 30 Kilogramm Ausrüstung versetzen Angestellte, Stu- denten und Selbstständige etwa 800 Jahre zurück und machen aus ihnen Ritter der askanischen Herrscher der Mark Branden- burg. Allein drei Kilogramm wiegt das Schwert, dessen Spitze stumpf und dessen Klinge mindestens 3 Millimeter dick zu sein hat. So ist es vorgeschrieben, auch aus sehr jetztzeitlichen ver- sicherungsrechtlichen Gründen. Praktische Argumente führen schaukampfgruppe_berliner rittergilde_tempelhofer feldindes dazu, dass die Authentizität nicht bis ins letzte Detail stimmt. „Unten drunter tragen wir etwas anderes als unsere Vorfahren“, verrät Thomas Berliner grinsend. „Und die Schilde sind nicht wie früher aus Holz, sondern aus Aluminium.“ Einerseits seien sie so um einiges haltbarer und ande- rerseits müsse man eben auch an das Publikum denken, das es bei Ritterkämpfen laut und krachend haben will. Dem zuliebe gelte auch bei Schaukämpfen die eherne Regel „Wer getroffen wurde, fällt um!“. Die Leute kämen schließlich „nicht, um ein Mikado-Spiel zu erleben, wo hinter- her die Punkte gezählt werden.“ Was sie indes vielleicht gerne erleben würden, aber nicht sehen werden, sind Ritterinnen, die mit Schwert und Schild bewaffnet training schaukampfgruppe_berliner rittergilde_tempelhofer feldin den Schaukampf ziehen. „Doch“, versi- chert Thomas Berliner, „wir haben auch Frauen im Verein und die dürfen durchaus mittrainieren.“ Aber Frauen bei Schaukämpfen, das würde doch zu sehr von der Authentizität abwei- chen.

Das Interesse an der Trainingseinheit der Ritter auf dem Tempelhofer Feld ist groß. Erwachsene zücken die Fotoapparate, Jungs und Jungmänner sehen dem Treiben fasziniert zu. „Trotzdem haben wir ein Nachwuchsproblem“, bedauert Berliner. „Von der Schwierigkeit, auch Menschen aus anderen Kulturkreisen zu gewinnen, ganz zu schweigen.“ Insofern sind die Nachmittage auf dem Neuköllner Teil des ehemaligen Flughafens auch Übungs- stunden in Sachen Ritterakquise. Ob man das alles kaufen muss, was man zum Kämpfen braucht, will ein kleiner Junge wissen. Seine Augen leuchten, als er erfährt, dass man als Mitglied „ein blaues Hemd, eine Kettenhaube und was zum Pieken“ gestellt kriegt. Er werde mit seinen Eltern wiederkommen, kündigt er an.

Das nächste Training der Schaukampfgruppe der Berliner Rittergilde ist am 14. April von 12 bis 16 Uhr auf dem Tempelhofer Feld (Eingang: Herrfurth-/ Oderstraße).

=ensa=