Neuköllner Treibgut

Schwäne und Enten, Ausflugsdampfer, in der Strömung dümpelnde Müllsäcke, Men- schen  in  Schlauch- oder  Paddelbooten – das  gehört für  alle, die mit  Sicht auf  den

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Neuköllner Schiffahrtskanal wohnen, zum alltäglichen Anblick. Jemanden beobachten zu können, der auf einem Surfboard stehend in Richtung Landwehrkanal treibt, gehört definitv (noch?) nicht  dazu.

Bilder, die unter die Haut gehen

Eine Wand haben Sara Tricoli und Domenico Richichi extra frei und weiß gelassen, um in ihrem Eiscafé auch wechselnde Kunstausstellungen zeigen zu können. Bei 5_dermacakes_ale senso_erste sahne neuköllnder, die aktuell dort zu sehen ist, waren sie aber zunächst zögerlich, ob sich die Bilder wirklich mit italienischem Eis der Spitzen-klasse, feins- erste sahne otivm_neuköllnten Patisse- rie-Produkten und dem Ge- schmack der Kunden ver- tragen würden. „In den ersten Tagen war es sehr aufregend“, gesteht Sara Tricoli. Würden einem Kind oder Erwachsenen beim Blick auf die Werke die Gesichtszüge entgleisen und die Lust auf Süßes schlagartig vergehen? Inzwischen, knapp vier Wochen nach der Vernissage und zwei Wochen vor der Finissage, geht sie ganz entspannt mit dem Risiko um.

Ein knappes Dutzend eher kleinformatiger Bilder der Künstlerin Ale Senso hängt an der Wand. Ein filigranes Netz aus roten 4_dermacakes_ale senso_erste sahne neuköllnund blauen Fäden verbindet sie. Das sei eine Anspielung auf die farbliche Darstel- lung von Venen und Arterien in Bio- logie-Büchern, erläutert die Italienerin.

Die Bilder, die in der Ausstellung mit dem Titel „Dermacakes“ gezeigt werden, belassen es nicht bei An- spielungen.  Sie demonstrieren sehr konkret, wie Ale Senso ihre Leiden- schaften für medizinische Bücher und fürs Kochen künstlerisch ver- 2_dermacakes_ale senso_erste sahne neuköllneint. Beide wurden der 35-Jährigen quasi in die Wiege gelegt: Ihre Mutter ist eine begnadete Köchin, zwei Familienmitglieder sind Ärzte.

Auf den ersten Blick glaubt man sich in der Ausstellung bunten Grafiken gegenüber, die mit organischen und geometrischen Formen spielen. Wer sich jedoch jemals im Biologie-Unterricht mit dem beschäftigt hat, was unter der Haut im menschlichen Körper steckt, erkennt rasch Be- kanntes: Organe, die Struktur eines Auges, das Gehirn, einen Querschnitt der Haut mit Subcutis, Dermis, Epi- dermis, Schweiß- und Talgdrüsen, Haarwurzeln und Blutgefäßen. Schon die von Ale Senso durch Farben künstlerisch verfremdete Darstellung, die Konkretes zu Abstraktem macht, ist sehenswert. Aber die Italienerin, die in der Nähe des Eiscafés 1_dermacakes_ale senso_erste sahne neuköllnwohnt und Domenico Richichi beim Deutsch- Kurs kennen lernte, setzt noch einen drauf, indem sie die kulinarischen Fertigkeiten ihrer Mutter gepaart mit eigener Phantasie und mehr als einer Prise Ironie zum Zug kommen lässt: Durch Verzierungen und die Darstellung in bäckereiüblichen Portionen wirken die anatomi- schen Detailzeichnungen wie Kuchenstücke.

3_dermacakes_ale senso_erste sahne neuköllnSogar ein Backbuch mit den Rezepturen aller ausgestellten Werke wurde von Ale Senso angefertigt. Bezeichnenderweise hat sie dafür den Schelmenroman vom Simplicissimus re- cycelt. Eben diese Kombination von Kunst und Humor ist es, vermutet Sara Tricoli, die es schafft, dass niemand an den Dermacakes Anstoß nimmt, sondern sie als Beigabe zu den angebotenen Kaffee- und Eisspezialitäten, Des- serts und Kuchen gern gesehen sind.

Ale Sensos „Dermacakes“-Ausstellung ist noch bis zum 10. März im Eiscafé Erste Sahne zu sehen; Öffnungszeiten: Fr. – So. 13 – 20 Uhr.

=ensa=

Mütze, Lätzchen, Rauchmelder und vieles mehr: Geschenke für alle neugeborenen Neuköllner

karla bareiss+beate dittrich+falko liecke_kjgd-begrüßungspaket neuköllnHoher Besuch für Charlotte. Neuköllns Ge- sundheitsstadtrat Falko Liecke (r.) kam ges- tern höchstselbst vorbei, um der Mutter des sieben Wochen alten Mädchens das Begrü-ßungspaket für Neugeborene zu überreichen.

Künftig werden das Beate Dittrich (M.) und ihre Kolleginnen vom Kinder- und Jugendgesund-heitsdienst (KJGD) des Bezirks tun. „Acht bis 10 Hausbesuche mache ich schon pro Woche“, erzählt die Sozialarbeiterin. Mit leeren Händen stand sie bei denen auch bisher nicht vor der kjgd-begrüßungspaket neuköllnTür. Neu ist, dass die umfangreichen Informationsbroschüren für junge Eltern nun in einem Stoffbeutel übergeben werden und der außer Waren- proben auch kleine Willkommenspräsen- te des Bezirks beinhaltet: ein Lätzchen, eine Mütze und einen Rauchmelder.

„Sehr sinnvoll“, findet Karla Bareiss, Charlottes Mutter, als sie den Rauchmel- der aus der Tasche gezogen hat: „Daran haben wir bisher noch gar nicht gedacht.“ Aber schließlich könne ja auch in einem Nichtraucherhaushalt passieren, was sich niemand vorstellen mag. Ob die Mütze noch über Charlottes Kopf passt, muss später probiert werden, denn das Kind will sich durch den Pressetermin nicht in seinem Mittagsschlaf stören lassen. „Dafür ist sie schon morgens um 5 munter“, sagt die 32-jährige Erstgebärende, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin für eine Europa-Abgeordnete tätig ist und den Eltern- charlotte_kjgd-begrüßungspaket neuköllnzeit-Staffelstab im Sommer an Charlottes Vater, einen Landschaftsplaner, weitergeben will.

Baby statt Beruf, das sei wirklich ein völlig neues und äußerst spannendes Erlebnis. Routine wie im Job gebe es nicht: „Gerade beim ersten Kind ist man ja noch sehr unsicher und hat eigentlich ständig Fragen.“ Vor allem die Broschüren mit lokalen Informationen und Beratungsgespräche mit Mitarbeitern vom Bezirk seien da ausgesprochen hilfreich. Sollte für Charlotte wirklich schon jetzt ein Kita-Platz gesucht werden? Wo wird Rückbildungsgymnastik angeboten? Welche Kinderärzte in der Nähe sind beate dittrich+karla bareiss_kjgd-begrüßungspaket neuköllnempfehlenswert?

Beate Dittrich erkundigt sich nach dem Ergebnis der U3, erfährt, dass alles bestens sei und erklärt, dass der KJGD beim Versäumen einer Vorsorgeuntersuchung sofort infor- miert werde und die Eltern kon- taktiere. Der Erstbesuch mit der Übergabe des Begrüßungspakets gehöre zur Neuköllner Präventions-strategie und sei vor allem als Tür- öffner gedacht, um auch die jungen Mütter und Väter über bestehende Unter- stützungsmöglichkeiten beraten zu können, die sonst nicht erreicht würden.

Rund 5.000 Euro, so Falko Liecke, habe der Bezirk investiert, um Baumwolltaschen, Mützen und Lätzchen anschaffen und bedrucken zu lassen, Rauchmelder zu kaufen und die Aktion „Begrüßungspakete für Neugeborene“ als akzeptanzsteigernde Maßnahme für die Arbeit des KJGD starten zu können. Die Warenproben steuerten Sponsoren bei. Etwa 3.500 neugeborene Neuköllner verzeichnete der Bezirk durchschnittlich in den letzten Jahren. „Die Kurve war leicht abflachend, dürfte aber durch die vielen Zuzüge nun wieder ansteigen“, ist Liecke optimistisch. Dass junge Eltern bei den ersten Schritten unterstützt werden, ist ihm ein wichtiges Anliegen – nicht nur qua Amt, sondern auch weil er selber Vater von zwei kleinen Kindern ist.

=ensa=

Auf Eis gelegt

sonnenuntergang on the rocks_neukölln

Ob mit goldig wie die Oscars schimmernden Sonnenstrahlen klappt, was bei Fischen als probates Mittel zur temporären Frischhaltung taugt? Auf dem Tempelhofer Feld gibt  es gleich mehrere solcher  Versuchsstrecken – noch.

Premiere innerhalb des S-Bahn-Rings

gropiusstadt-ausstellung_neukölln arcadenSo weit im Norden war sie noch nie: Nach drei Stationen im Süden des Bezirks ist die Ausstellung „Mieter, Planer, Architekten. Wer schrieb die Ge- schichte der Gropiusstadt?“ nun zum Finale in den Neukölln Arcaden angekommen. Auf der Sonderfläche im Erdgeschoss nahe dem Haupteingang, wo sonst meist Taschen, Remittenden oder Saisonartikel ver- andrea klahold+julia dilger_neukölln arcadenkauft werden, kann man jetzt in Bezirkshistorie und -kultur stöbern und sie – in Form eines Le- porellos – sogar gratis mitnehmen.

15 bebilderte Texttafeln skizzieren die Entwicklung des Neuköllner Ortsteils Gropiusstadt, der seit einem halben Jahrhundert als Hochhaussiedlung bekannt und Zuhause von rund 36.000 Bewohnern ist. Natürlich geht es in der Ausstellung auch um Architektur, „aber im Mittelpunkt stehen Menschen, die die Vergangenheit der Siedlung geprägt haben, die Gegenwart prägen und die Zukunft gestalten wollen“, sagt Julia Dilger (r.) vom Mobilen Museum Neukölln, das die Ausstellung anlässlich der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen der Siedlung gestaltete.

Sie dorthin zu bringen, wo Kulturelles nicht erwartet wird und so auch Nicht-Museumsgänger zu erreichen, ist das zentrale Anliegen der mobilen Einrichtung. „In Einkaufszentren hat man wirklich ein ganz anderes, viel breiteres Publikum als in Galerien und Museen“, bestätigt Andrea Klahold (l.), die Centermanagerin der Neukölln Arcaden. „Deshalb ist die Bündelung von Einkauf von Ausstellungsraum, die durch  die Angebote des Mobilen  Museums möglich  ist,  auch für uns  eine  sehr

mobiles museum neukölln_gropiusstadt-ausstellung_neukölln arcadengropiusstadt-ausstellung_mobiles museum neukölln_neukölln arcaden

attraktive Sache.“ Schon beim Aufbau der Schautafeln, hat sie beobachtet, seien viele Menschen stehengeblieben, um sich die Exponate anzusehen.

Über 100 Besucher hat das Mobile Museum Neukölln täglich gezählt, als die Gro- piusstadt-Ausstellung zuletzt im Wutzky-Center in Rudow gastierte: „Echte Besucher. Also keine, die sich nur im Vorbeigehen die Fotos angeguckt haben.“ Das dürfte nun am nördlichsten Standort locker zu toppen sein.

„Mieter, Planer, Architekten. Wer schrieb die Geschichte der Gropiusstadt?“ ist noch bis zum 2. März in den Neukölln Arcaden (Öffnungszeiten: Mo. – Sa. 6.45 – 23 Uhr, So. 12 – 20 Uhr) zu sehen. Von dienstags bis freitags zwischen 10 und 18 Uhr ist ein Mitarbeiter des Mobilen Museums Neukölln vor Ort, um Fragen zur Ausstellung zu beantworten.

=ensa=

Großer Auftritt für eine kleine Neuköllner Fußgängerbrücke

Gestern am Neuköllner Schiffahrtskanal: Ein roter Teppich, der bei genauem Hin- sehen eine  viele Meter lange Stoffbahn ist, liegt auf dem  Elsensteg. Überall Blumen,

1_hochzeit_elsensteg neukölln2_hochzeit_elsensteg neukölln

Bänder, Schleifen und aufgeregte, festlich gekleidete Kinder. Wann kommen sie denn endlich? Bei sommerlichen Temperaturen lässt es sich angenehmer warten als in eisiger Februarluft. Jemand spielt mit  klammen Fingern Ziehharmonika. Dann … Alle

3_hochzeit_elsensteg neukölln4_hochzeit_elsensteg neukölln

gehen auf ihre Positionen, ein Limousinen-Korso rollt aus östlicher Richtung auf die Fußgängerbrücke zu. Viel Zeit nehmen sich das Brautpaar und die Hochzeits- gesellschaft für den Elsensteg, der nun Liebessteg ist, nicht. Die Kälte, schnell ins kroatische Lokal am anderen Ufer. „Zigeuner, nix Deutsche“ würden dort nun feiern, erklärt einer der beiden Männer, die den roten Teppich wieder zusammenrollen; heute liegt dort ein weißer.

„Das Buch vom Böhmischen Dorf“: Neukölln-Geschichte von Kindern für Kinder

Das Buch vom Böhmischen Dorf+Parthas VerlagGestern wurde am Richardplatz im Salon der Kreativen Gesellschaft Berlin das neu erschienene Buch „Das Buch vom Böhmischen Dorf“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Raum war schnell gefüllt – und nicht nur von Erwachsenen, sondern auch von Kindern, die an dem Buch maßgeblich mitgearbeitet haben.

Die Idee eines Stadtführers von Kindern für Kinder, der sich schwerpunktmäßig mit der Ge- schichte der böhmischen Exulanten beschäftigt, ging von Dr. Dorothea Kolland, der langjährigen Leiterin des Kulturamts Neukölln, aus. Eigentlich hätte das Buch schon im letzten Jahr zum 275-jährigen Bestehen des Böhmischen Dorfes fertiggestellt werden sollen, erzählt sie, aber dann verzögerte es S.12+13_Das Buch vom Böhmischen Dorf_Parthas Verlagsich doch.

Kolland konnte für ihre Idee zunächst Marita Stolt, die Rektorin der Richard-Grundschule, begeistern: Ihre Schüle-rinnen und Schüler der Klassen 5a und 6a erkundeten in einer Projekt- woche den Richardplatz, zeichneten markante Orte am und um den Richardplatz wie das Denkmal Fried- rich Wilhelm I. oder die Bethlehems- kirche und fertigten mit Bleistift einen Straßenplan des Richardkiezes an. Diese beate klompmaker+anna faroqhi_buchpräsentation_kgb44 neuköllnZeichnungen sind nun neben vielen anderen im Buch wiederzufinden.

Als Autoren konnte die Ex-Chefin des Kultur- amts Anna Faroqhi (r.) und Haim Peretz ge- winnen, die schon den Neukölln-Comic „Welt- reiche erblühten und fielen“ erarbeitet hatten. Später kam noch Beate Klompmaker (l.) hinzu, die selbst am Richardplatz wohnt. Von ihr wurde im vergangenen Jahr das Buch „Das Böh- mische Dorf in Berlin – ein Rundgang“ ver- öffentlicht.

Der Projektfonds Kulturelle Bildung des Landes Berlins war es schließlich, der die Finanzierung des Buches ermöglichte. Auch Arnold Bischinger nahm als Vertreter des Projektfonds bei der Buchpremiere neben dorothea kolland+arnold bischinger+richard-grundschule_buchpräsentation kgb44 neuköllnDoro- thea Kolland sowie Jaanu Rajendran und Angelika Michonska von der Richard-Grundschule auf dem Podium Platz. Er gab dem Buch gar eine berlin- weite Bedeutung, indem er es in eine Reihe mit der „Route der Integration“ (2011) sowie „Stadt der Vielfalt“ (2012) des Berliner Senats stellte.

Diese kulturelle Vielfalt findet sich auch in dem Stadtführer wieder, der nicht allein auf die böhmische Geschichte oder Traditionsbetriebe am Richardplatz beschränkt bleibt. So schreiben die Kinder handschriftlich im Buch, was die Wörter „Stern“ und S.32+33_Das Buch vom Böhmischen Dorf_Parthas Verlag„Kelch“ in der Heimatsprache ihrer Eltern oder Großeltern heißen, und sie verglei- chen Migrationsgeschichten aus der fernen Vergangenheit mit denen ihrer eigenen Familien.

„Das Buch vom Böhmischen Dorf“ ver- mittelt aber nicht nur Wissenswertes in lebendiger und verständlicher Form, es enthält auch zahlreiche Einladungen, sel- ber kreativ zu werden: So dürfen Kinder ein Foto von sich ins Buch kleben, in ihm malen und sogar auf der letzten Seite das Bild der Bethlehemskirche ausschneiden, um es zu falten und damit ein S.55_Das Buch vom Böhmischen Dorf_Parthas Verlagdrei- dimensionales Modell von der Kirche zu erhalten. Ratespiele regen weiterhin dazu an, sich aktiv mit dem Buch und der Geschichte des Böhmischen Dorfes zu beschäftigen – und dies nicht zuhause, sondern draußen, direkt an den Orten und Gebäuden, die vorgestellt werden.

Durch Dorothea Kollands Initiative und das Mitwirken aller Beteiligten gibt es nun eine wunderbare Möglichkeit, Neuköllner Kin- der an die Geschichte ihres Wohnorts heranzuführen. Angesichts des dörflichen Ambientes rund um den Richardplatz wäre aber Dorfführer fast ein passenderer Begriff als Stadtführer gewesen.

Das Buch ist im Parthas Verlag erschienen, hat 55 Seiten und kostet 9,80 €. Es ist bei der Kreativen Gesellschaft Berlin, direkt beim Verlag und im Buchhandel erhältlich.

=Reinhold Steinle=

Yes, indeed!

Seit einer gefühlten Ewigkeit liegt eine hell- bis dunkelgraue Wolkendecke über Ber- lin. Da kommt  das optische Pendant, das sich  in Sichtweite der  Neuköllner  Bezirks-

kunst am zaun_tempelhofer feld_berlin

grenze am Zaun um das Tempelhofer Feld präsentiert, gerade recht: Aus bunten, miteinander verschlungenen Bändern entstand am Columbiadamm ein StreetArt- Werk, das Labsal für Augen und Seele ist und gern öfter beweisen darf, dass es auch perfekt vor eine himmelblaue Kulisse passt.

„Gewalt ist kein ethnisches Problem“: Gedenken am Tatort

kundgebung_flughafenstraße neuköllnMontag, am späten Nachmittag: Die Polizei hat die Zufahrt von der Hermann- in die Flughafenstraße  gesperrt, weil vor dem Haus mit der Nummer 35, wo vor einem Monat zwei Frauen erschossen wurden, eine Anti-Gewalt-Kundgebung stattfindet.

Aufgerufen zu ihr hat der Aufbruch Neukölln e. V., der sich mit seiner türkischen Väter- kundgebung_aufbruch neukölln_flughafenstraßesowie der Mütter- und Frauengruppe und verschiedenen anderen Projekten gegen Gewalt ein- setzt. Rund 80 Menschen, unter ihnen auch doppelmord_flughafenstraße neuköllndie Neuköllner Gleichstellungsbeauftragte Sylvia Edler, sind gekommen, um zu demonstrieren, dass sie Gewalt ächten, und am Tatort mit einer Schweigeminute der ermordeten Frauen zu gedenken.

„Gewalt ist kein ethnisches Problem“, sagt Kazim Erdogan, der Vorsitzende des rührigen Vereins. Richtig, es sei ein Män- ner-Problem, findet eine Mutter, die zu gern wüsste, wie sie ihrem Sohn die Faszination an Ballerspielen nehmen kann. Natürlich ist ihr klar, dass nicht jeder, der als Kind oder Jugendlicher virtuell wild um sich schießt, später zum realen Gewalttäter wird. Aber sie kann sich auch nicht vorstellen, dass einschlägige PC-Spiele keine Spuren hinterlassen. Mit den Kids in Kontakt bleiben, offene Ohren für das haben, was sie bewegt, und reden, reden, reden – das sei das Wichtigste, was Eltern tun können. Oder müssen. Nicht nur die von Söhnen.

Unter dem Motto „Keine Angst vor Hilfe“ lädt die Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG e. V.) am 27. Februar um 19.30 Uhr zu einem parti- zipativen Theaterabend im Heimathafen Neukölln ein.

=ensa=

Abfahrt mit Hindernissen

9_vfw614_deutsches technikmuseum berlinIhr letzter Flug liegt mehr als ein Jahrzehnt zurück. „Bis 1999 gehörte die VFW 614 zur Flotte der Flugbereitschaft der Bundesregierung“, er- zählt Heiko Triesch. „Die komplette VIP-Ausstat- tung ist auch noch drin.“ Luxuriös dürfe man sich die aber nicht vorstellen – obwohl reichlich Polit-Prominenz in dem 44-Sitzer Platz nahm, verrät der stellvertretende Leiter des Deutschen Technikmuseums Berlin, das seit 2007 Besitzer des 8_vfw614_deutsches technikmuseum berlinausgemus-terten Fliegers ist. Während der im Neuzustand die Bundesregierung noch 12,5 Millio- nen DM gekostet hatte, war nun nur noch das zu investieren, was „für einen vollausgestatteten Golf“ zu zahlen ist. Der ideelle Wert liege zweifellos weitaus höher, sagt Heiko Triesch.

Bis gestern stand die Maschine im Hangar des ehemaligen Flughafens Tempelhof, was nicht nur dem Material, sondern auch den Kosten ziemlich zusetzte: „Jedes Mal, 6_vfw614_deutsches technikmuseum berlinwenn das 12 Tonnen schwere Flugzeug bewegt werden musste, weil es sonst bei 11_vfw614_deutsches technikmuseum berlinPartys oder an- deren Veran- staltungen im Hangar im Weg gestan- den hätte, mussten wir den Transport aufs Vorfeld aufwändig organisieren.“ Seit der Flughafen keiner mehr ist, sei eben auch die Infrastruktur nicht mehr vorhanden. Zwar ist auch die VFW 614 dann und wann als Kulisse eingesetzt worden, beispielsweise für den Spielfilm „Hilde“, aber längst nicht so häufig wie der Rosinenbomber, der nun als letztes und einziges Flugzeug in Tempelhof steht bzw. stehen sollte. Denn so glatt wie geplant, verlief der Abtransport 12_vfw614_deutsches technikmuseum berlindes weiß-blauen Düsenflugzeugs dann doch leider nicht. Der 20 Meter lange Rumpf, der gestern von einem Kran auf einen LKW geladen wurde, steht nun wieder auf Euro- paletten-Stapeln im Hangar. „Die Gesamt- höhe lag einige Zentimeter über der Ab- messung, die polizeilich genehmigt war“, berichtet Trieschs Mitarbeiter Dietmar Rup- pert. „Jetzt bemühen wir uns, so schnell wie möglich einen neuen Termin für den Trans- port des Rumpfes nach Werneuchen zu 1_vfw614_deutsches technikmuseum berlinkriegen.“ In dieser Wo- che werde der jedoch auf keinen Fall zu realisieren sein.

Dass der Rumpf zeitnah dort deponiert werden kann, wo gestern bereits die beiden Tragflächen ankamen, ist sehr im Interesse des Deutschen Technikmuseums. Anders als im zugigen Tem- pelhofer Hangar seien die Bedingungen in der 5_vfw614_deutsches technikmuseum berlin„staubtrockenen Halle“ auf dem ehemaligen Militär- flughafen der russischen Armee perfekt. „Wenn wir noch ein paar Wochen warten“, so Heiko Triesch, „könnten wir das Problem bekommen, dass sich Vögel Brutplätze in dem alten Flugzeug gesucht haben und der Transport aus Naturschutzgründen nicht stattfinden darf.“ Schmunzelnd ergänzt er: „Wir machen das also nicht jetzt im Winter, weil wir beim Arbeiten so gerne kalte Hände und Füße haben.“

Zwei Wochen lang war ein halbes Dutzend Monteure der Firma 7_vfw614_deutsches technikmuseum berlinHerrmann & Wittrock damit be- schäftigt, die VFW 614 fach- männisch zu zerlegen, die 3_vfw614_deutsches technikmuseum berlinLeit- werke und die beiden 11 Meter langen Trag- flächen vom Rumpf zu trennen, Unmengen 2_vfw614_deutsches technikmuseum berlinvon Kabeln abzuklem- men und Schrauben in Plastikbeutel zu ver- packen. Dass die Maschine nie wieder ihre Flugtauglichkeit beweisen wird, spielte dabei keine Rolle. Auch nicht, dass sie in Werneuchen in Einzelteilen geparkt wird – so wie etwa 30 andere Flugzeuge, die das Deutsche Technikmuseum in 4_vfw614_deutsches technikmuseum berlinHallen eingelagert hat.

„Natürlich würden wir unsere Schätze wie die VFW 614, von der 19 gebaut wurden und nur noch sechs existieren, gerne fürs Publikum zugänglich machen“, 10_vfw614_deutsches technikmuseum berlinsagt Heiko Triesch. Aber dafür müsse man eben auch den Platz haben. „Für Museen wie unseres ist es jedenfalls normal, dass man mehr hat, als man zeigen kann.“ Immerhin ließen sich für demontierte Flugzeuge Hallen zum Einlagern finden, das sei mit Schiffen doch schon wesentlich schwieriger.

=ensa=

Zu Lande statt in der Luft

Wenn sich Flugzeuge über öffentliche Straßen bewegen, noch dazu mitten in Millionenstädten wie Berlin, bedeutet das meist nichts Gutes. Das wird heute Abend anders sein – abgesehen von unvermeidbaren Verkehrsbehinderungen: Zwischen 19 und 20 Uhr verlässt eine VFW 614, das erste in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte und in Serie gebaute Düsenverkehrsflugzeug, den ehemaligen Flughafen

1_vfw614_flugh berlin-tempelhofabtransport vfw614_flugh berlin-tempelhof

Tempelhof mit dem Ziel Werneuchen. Momentan wird die in sechs große Einzelteile zerlegte Maschine noch im Hangar 3 auf vier LKWs verladen. „Auf einen kommen die Höhen- und Seitenleitwerke, auf zwei je eine Tragfläche und auf einen der 20 Meter lange Rumpf“, erklärt Dietmar Ruppert, Depotleiter des Deutschen Technikmuseums,

5_vfw614_flugh berlin-tempelhof3_vfw614_flugh berlin-tempelhof

4_vfw614_flugh berlin-tempelhof2_vfw614_flugh berlin-tempelhof

das Besitzer des Flugzeugs ist. Wenn alles verladen und festgezurrt ist, geht es mit Polizeikonvoi über den Tempelhofer Damm, die Stadtautobahn in Richtung Tegel, die A111 und schließlich auf der A10 bis zur Ausfahrt Blumberg. Läuft alles planmäßig, soll die etwa 12 Tonnen schwere Fracht um 23 Uhr am Ziel sein.

Mehr über die Demontage und die Vergangenheit und Zukunft des Flug- zeugs morgen.

=ensa=

Roter Teppich für die Hermannstraße

Heute geht die diesjährige Berlinale zu Ende, gestern wurden die Bären verliehen, berlinale goes kiez_neues off_neuköllnund schon vorgestern endete die Reihe „Berlinale goes Kiez“ im Neues Off in der Neuköllner Hermannstraße.

Die Vorbereitung für die Kiez-Berlinale hat bereits im November begonnen, erzählt mir Projektleiterin Johanna Muth. Pro- grammkino, die Interesse und genug Kapazitäten haben, wurden gesucht und ausgewählt. Auf das Neues Off, das 1919 als Varieté eröffnet wurde, jahrelang ein Schmuddelkino namens Eros Cine Center war und seit 1979 zur Yorck-Kinogruppe gehört, fiel die Auswahl bereits zum zweiten Mal seit Bestehen der Veranstaltungsreihe. Dass es Besucher, die das erste Mal hier berlinale goes kiez-team_neues off neuköllnsind, nach dem Passieren des kleinen Foyers gern mit seinem sehr schönen und vor allem großen Kinosaal überrascht, war einer der Pluspunkte.

Für mich hatte es gestern eine andere Überraschung parat: Zu meiner großen Trauer ist der Kiezkino-Pate Hans-Christian Schmid, Regisseur von „Nach fünf im Ur- wald“, „Am Ende kommen Touristen“ und „Was bleibt“, kurzfristig erkrankt und so konn- te ich nicht fragen, was ihn denn mit Neu- kölln verbindet und wie er zur Patenschaft kam. Aber von hier aus: Gute Besserung!

Dass ich den Wettbewerbsfilm „Layla Fourie“ nicht sehen würde, wusste ich schon vorher. Leider war die Nachfrage größer als die Zahl der Kinosessel. Vor Beginn des Films erfahre ich aber noch aus einem kurzen Interview mit dem schüchternen, kleinen Hauptdarsteller Rapule layla fourie-team_neues off neuköllnHendricks (r.), dass ihm die Dreharbeiten so viel Spaß gemacht haben, dass er gern mehr in Filmen spielen möchte.

„Layla Fourie“ ist von der in Südafrika aufgewachsenen, seit Jahren in Ber- lin lebenden Regisseurin Pia Marais (2. v. l.) und erzählt von einer allein erziehenden Mutter, gespielt von Ray- na Campbell (l.), die sich und ihrem Sohn (Rapule Hendricks) durch Gele- genheitsjobs in Johannesburg über Wasser hält. Das Ganze entwickelt sich zu einem Politthriller, der den südafrikanischen Alltag und seine düsteren Hintergründe auf- layla fourie_neues off neuköllnzeigt. Da ich unter anderem gern wüsste, welche Szene mit einem Telefon Rapule verängstigt hat, obwohl er viel stärker war, werde ich mir den Film ein anderes Mal ansehen.

Ganz am Ende sei aber unbedingt noch gesagt, dass so ein roter Teppich der etwas düsteren Hermannstraße ausge-sprochen gut steht!

=Anna Sinnlos=

Mitnehmen unerwünscht

Normalerweise läuft es in Neukölln und anderen Berliner Bezirken so: Man braucht irgendwas nicht mehr, entsorgt das für die Mülltonne zu große Teil vor der Haustür sperrmüll mit funktion_neuköllnund früher oder später kommt die Berliner Stadt-reinigung (BSR), um das Indiz für die Vermüllung der Hauptstadt abzutranspor- tieren. Den, dem es einst gehörte, freut’s, weil er sich die Fahrt zum Wert- stoffhof gespart hat – und alle bezahlen dafür.

Entschieden anders ist die Sachlage vor einer Haus- tür in Neuköllns Donau- straße. Dort ist man nun dazu übergegangen, eine ausgediente weiße Schranktür – sprich: vermeintlichen Sperrmüll – als Wand zu deklarieren und diese unmissverständlich formuliert gegen die grassierende To Go-Mentalität zu verteidigen.

„Werkstatt Stadtkultur“: Dorothea Kolland öffnet ihre Schatztruhe

Wer Dorothea Kollands Nachfolge an der Spitze des Neuköllner Kulturamts antritt, steht noch nicht fest. Bis der oder die Neue gefunden ist und tätig wird, könne es durchaus noch bis zum Sommer dauern, meint Bettina Busse, Kollands ehemals engste Mitarbeiterin, die den Posten vorerst kommissarisch übernommen hat. „Nach 31 Jahren eine Arbeit aufzugeben, für die man brennt“, so die Neu-Rentnerin, „ist nicht einfach. Vor allem aber bin ich dankbar dafür, dass mir ein Aufgabenbereich anvertraut war, in dem ich sehr viele Gestaltungsmöglichkeiten hatte und in dem kolland_werkstatt stadtkulturEntwicklung möglich war.“

Ihre Erfahrungen hat Dorothea Kolland nun in dem Buch „Werkstatt Stadtkultur“ zusam-mengetragen. Nein, stellt die 65-Jährige gleich im Vorwort fest, das Werk sei „kein Buch über Neukölln oder dessen Kultur-arbeit“, „keine Gebrauchsanweisung für kulturpolitisches Agieren“, „keine theore- tisch-wissenschaftliche Analyse“ und es er- zähle auch „keine Geschichten“.

Was aber ist es dann? Zuallererst eine Schatztruhe voller Texte aus über 15 Jahren, die für Dorothea Kolland Grundlage von Vorträgen waren und in diversen Publika-tionen veröffentlicht wurden. Reflektierend und selbstevaluierend arbeitet sich die re- nommierte Kulturpraktikerin durch die Palette der Themen, die unter den Oberbegriffen Kunst, Kultur, Bezirksgeschichte und Stadtentwicklung ihre Amtszeit prägten und meist eng mit Aspekten des Inter- kulturellen verknüpft waren. Zugleich ist die kommentierte Aufsatzsammlung die (selbst)kritische Inspektion eines Arbeitslebens, dessen mannigfaltige Erfahrungs- schritte im Buch ebenso transparent werden wie Lern- und Umdenkprozesse, die vor dem Hintergrund eines sich ständig verändernden Bezirks notwendig wurden.

„Heute“, findet Dorothea Kolland, „ist er bunt, laut, widersprüchlich, arm – und zu- gleich unendlich reich an Menschen, die den neuen Spirit of Neukölln prägen.“ Weltbürger nennt sie sie, und die Kulturlandschaft Neuköllns eine „Melange der alten Unangepasstheit und der neuen Internationalität“.

Auch wenn „Werkstadt Stadtkultur“ kein Buch über Neukölln und dessen Kulturarbeit sein soll, ist es das doch – und sehr aufschlussreich. Zudem tun diejenigen, die in Kollands berufliche Fußstapfen treten wollen, gut daran, sich mit dem gedruckten belastbaren Erfahrungswissen der Vorgängerin zu beschäftigen. Patentrezepte für eine erfolgreiche Zukunft gibt sie ihnen nicht mit auf den Weg, wohl aber die Erkenntnis, dass die „große Herausforderung von Stadtkulturarbeit ist, dass sie immer vor neuen Aufgaben  steht und es  nie fertige Rezepte  gibt.“

=ensa=

Zeitlos herzig

Valentinstag: Hochkonjunktur für rote Rosen und alles, was in Herzform gepresst oder mit einem Herzen-Design versehen werden kann, von der Praline über den Flanell-Schlafanzug und  das Bierglas bis zur App. Bei Trampeltiers im  Tierpark Neu-

trampeltiere_tierpark neukölln

kölln  interessiert man sich für all diese kommerziellen Auswüchse nicht. Da werden die Köpfe zusammen geschoben und die Nasen aneinander gerieben, ohne vorher auf den Kalender zu gucken.

Filmreif

Die Geräuschkulisse erinnert an den Hitchcock-Thriller „The Birds“: Ein ohrenbe- täubendes Kreischen schallt durch den oberen Teil der  Rollbergstraße. Hunderte Vö-

rollbergstraße 67_neukölln

gel sitzen und flattern im wild berankten, meterhohen Gitter, das das BSR-Grund- stück gegenüber vom Mercure Hotel einzäunt, und machen den Straßenabschnitt zur Hölle für Ornithophobiker.

Ewiger als der Papst

Dass Benedikt XVI. nicht ewig Oberhaupt der katholischen Kirche sein würde, war absehbar. Schließlich war er schon seit drei Tagen 78 Jahre alt, als er 2005 zum ewiger papst-kalender_benedikt XVI_plakat-industrie neuköllnPapst gewählt wurde. Doch anders als bei fast allen seiner Vorgänger soll bei ihm nicht der Tod über das Ende der Amtszeit entscheiden: Ges- tern erklärte Benedikt XVI., der als Jo- seph Aloisius Ratzinger geboren wur- de, dass er sein Amt am 28. Februar aus gesundheitlichen Gründen nie- derlegen werde.

Nicht ausgeschlossen, dass nun ein Run auf die Ewigen Kalender des Heiligen Vaters einsetzt, die vom Neuköllner Tradi- tionsunternehmen Plakat-Industrie anlässlich des Papst-Besuchs in Berlin im Sep- tember 2011 als offizielle Merchandising-Artikel produziert wurden. Noch sind sie zum von 16,85 Euro  auf 9,95 Euro reduzierten Preis  zu haben und sofort lieferbar.

Neukölln holt auf

So richtig kann sich Dennis noch nicht für Neukölln erwärmen. Seit drei Wochen wohnt der Viereinhalbjährige mit seiner Mutter in der neuen Wohnung zwischen Sonnenallee und Neuköllner Schiffahrtskanal. Seitdem hat er ein kleineres Zimmer als vorher, geht in eine neue Kita und muss mit der U-Bahn fahren, um die Jungs zu treffen, mit denen er bisher gespielt hat. „Schöneberg ist schöner“, war noch bis vor fassadenbemalung_hertzbergstr. 1 neuköllnwenigen Tagen die trotzig-traurige Standardantwort, wenn jemand ihn fragte, wie es ihm in der neuen Umgebung gefällt.

Aber nun – seit Dennis die Entdeckung schlechthin gemacht hat – holt Neukölln in seiner Gunst auf. Grund dafür ist die auf Initiative der Kreativen Gesell- schaft Berlin dinosaurier_hertzbergstr. 1_neuköllnbunt bemalte Fassade des Hauses, das direkt am Richardplatz in der Hertzbergstraße steht. Sie zeige, wie es hier früher aus- gesehen hat, dass Neukölln mal ein Dorf war und wie die Menschen gelebt haben, hat seine Mutter ihm erklärt, während sie in Richtung Sonnenallee am Wandbild ent- lang spazierten.

Plötzlich, am Ende der bemalten Fassade, blieb der Jun- ge wie angewurzelt stehen. „Ein Sausier!“, staunte er, mit leuchtenden Augen auf das Urzeitviech starrend, und hakte begeistert nach, ob hier früher etwa Sausier gelebt hätten. Das „Sicherlich!“ der Mutter besiegelte, dass Dennis Neukölln nun ein ganzes Stück lieber mag.

Ye… was?

yezidentum_info-veranstaltung neuköllnWenn Cengizkhan Hasso über sie spricht, klingt es, als würde er über die australische Hardrock-Band AC/DC reden und dabei das letzte C verschlucken. Doch um Musik ging es bei der Infoveranstaltung mit Podiums- diskussion nicht, zu der die Neuköllner Gleichstellungs- beauftragte Sylvia Edler und der Migrationsbeauftragte Arnold Mengelkoch eingeladen hatten. Zentrales Thema waren die Yeziden, eine  kurdische Volksgruppe mit eige- yeziden_info-veranstaltung neuköllnner, hierzulande noch weitgehend unbekann- ter  Religion.

Um dem Zustand des Un- wissens und fatalen Nährbodens für Vorurteile durch fundierte Informationen zu begegnen, hatten Edler und Mengelkoch vier Experten ins Neuköllner Rat- haus eingeladen: Sukriye Dogan, die Iranistik und Erziehungswissenschaften studierte und heute Mit- arbeiterin im Jugendmigrationsdienst des Diakoni- schen Werk Neukölln ist, die Dolmetscherin und Schulsozialarbeiterin  Nurhan Kizilhan, den Sozialpädagogen Yilmaz Günay und den Psychologen  Cengizkhan Hasso, der – ebenso wie Kizilhan und Günay – den Yezi- den angehört und den Status des Geistlichen inne hat.

Wer sind also diese Yeziden? Was macht ihre Kultur und Religion aus, was unterscheidet sie von anderen? Weshalb muss man sich mit dem Yezidentum beschäftigen und wie viele Anhänger der Religion gibt es denn überhaupt? Die Kapazitäten des Köln-Zimmers im Neuköllner Rathaus stießen an ihre Grenzen, noch nach Beginn der Veranstaltung ebbte der Zustrom Informationshungriger nicht ab, ständig mussten weitere Stühle herbei geschafft werden. Knapp 100 Menschen waren es schließlich, die sich die immer dünner werdende Luft im Saal zu teilen hatten. „Etwa 1 Million Yeziden gibt es weltweit, die Zahl der  in Deutschland lebenden yeziden gebote_info-veranstaltung neuköllnwird aktuell auf 120.000 geschätzt und in Berlin wohnen gut 250 Fami- lien yezidischen Glaubens“, erklärte Sukriye Dogan. Die Tendenz sei stei- gend, da Yeziden in der Türkei verfolgt würden, viele in den Irak und nach Syrien geflüchtet waren, dort nun ebenfalls um ihr Leben fürchten müssten und nach Deutschland kom- men, um der Bedrohung zu entgehen: „Hier sind sie schon seit 1989 als verfolgte religiöse Gemeinschaft anerkannt und im Raum Hannover, Bielefeld und Oldenburg mit größeren Gemeinden vertreten.“ Dass das religiöse Leben der Yeziden unauffälliger als das von Christen oder Muslimen stattfindet, sei vor allem der Tatsache geschuldet, dass zur Ausübung der Religion keine Gotteshäuser ge- braucht werden. Sie haben lediglich die Tempelanlage im irakischen Lalisch als religiöses Zentrum. Was das Yezidentum außerdem von anderen Glaubensrich- yezidentum_info-veranstaltung_neuköllntungen unterscheidet, ist, dass es keine Buchreligion, sondern von der mündlichen Überlieferung geprägt ist, und dass man nicht konvertieren kann, sondern als Yezide geboren wird – in ein striktes Kastensystem hinein.

Insbesondere letzteres bereite nach Deutschland migrierten Yeziden der zweiten und dritten Generation größte Probleme, berichtete Nurhan Kizilhan, die seit 1986 in Berlin lebt und derzeit an einem Dokumentarfilm über yezidische Frauen arbeitet: „Die Religion schreibt ihnen vor, dass als Partner nur jemand infrage kommt, der ebenfalls Yezide ist und zur selben Kaste gehört. Aber wer erkundigt sich schon zunächst danach und verliebt sich erst dann?“ Dazu kommen Konflikte, die denen vieler anderer Migranten aus traditionsbeladenen Kulturen gleichen, wenn reaktionen auf yeziden_info-veranstaltung neuköllnstarre Sitten und Gebräuche des Herkunftslandes auf neue Möglich-keiten in der neuen Heimat treffen. Es seien enorme psychosoziale Belas-tungen, die sich aus dieser ambiva-lenten Haltung hinsichtlich des Le- benskonzepts ergäben, und das gel- te gleichermaßen für yezidische Frau- en und Männer.

Um ihnen zu helfen, wurde 2004 u. a. durch Yilmaz Günay in Neukölln der MIB e. V. gegründet. „Das Anliegen war“, der Sozialpädagoge, „eine Anlaufstelle für yezidische Gemeindemitglieder und Neuankömmlinge zu sein und ihnen Orien- tierung für das alltägliche Leben in Deutschland zu bieten.“ Schließlich dürfe man auch nicht außer Acht lassen, dass das Bildungsniveau in den Herkunftsländern sehr niedrig ist, es unter Yeziden viele An-Alphabeten gebe und die meisten erst in Europa mit Bildung und einer modernen Gesellschaft in Berührung kommen. Weil die Aus- stattung mit finanziellen Mitteln endete, musste der Verein seine Arbeit 2010 jedoch wieder einstellen. Der Ist-Zustand sei, dass die besondere Situation der  Yeziden bei yilmaz günay+cengizkhan hasso_info-veranstaltung yeziden_neuköllnallen staatlichen Integrationsmaßnah- men nicht berücksichtigt wird. „Und das ist ein Skandal!“, echauffierte sich Yilmaz Günay (l.).

Cengizkhan Hasso (r.), der zur Kaste der Sheikhs gehört, pflichtete ihm bei. Yezi- den seien seit Jahrzehnten Bestandteil der deutschen Gesellschaft, deshalb müsse Deutschland auch eine Infra- struktur schaffen und Aufklärungsar- beit finanzieren. „Aber stattdessen wer- den Angebote zum Nulltarif durch Ehren-amtliche erwartet“, warf er nicht nur Arnold Mengelkoch vor, der schweigend neben ihm saß. Mehr noch würde das Yezidentum schon dadurch, dass es häufig in einem Atemzug mit dem Islam erwähnt werde, gerne von einer Religion zum Politikum gemacht. „Tatsache ist aber, dass es zwischen Yeziden und Christen mehr Verbindungen als zu Muslimen gibt.“ Auch das mit den Kasten werde oft aus Unwissenheit oder rigiden Verhaftungen im Traditionellen instrumentalisiert. „Das Kastensystem“, so Hasso, „ist wesentlich durchlässiger als meist behauptet wird.“

Wie es denn mit Gewalt sei, fragte jemand aus dem Publikum und erinnerte an die Ermordung zweier yezidischer Mädchen durch Familienangehörige in 2011. „Gewalt ist in unserer Religion verboten, nur zur Selbstverteidigung nicht“, räumt der Geistliche ein. Wie stehen Yeziden zum Thema Beschneidung? Die sei keine religiöse Vorschrift, antwortete Cengizkhan Hasso. Ob es bei Yeziden, wie bei Mus- nachtaufnahme_neukölln rathausturmlimen, Bestimmungen beim Essen gebe? „Nein, bei uns ist weder Schweinefleisch noch Alkohol verboten.“ Überhaupt sei das Yezidentum eine äußerst tolerante Religion. Das klinge wirklich alles sehr fortschrittlich, bestätigte Sylvia Edler: „Leider erfahren wir aber in unseren Bera- tungsstellen oft genau das Gegenteil.“

Eine Mischung aus Verwirrung, gestilltem Wis- sensdurst und weiteren Fragen begleitete die meisten, die nach knapp drei Stunden das Rathaus verließen. In der Broschüre „Religionen in Neukölln“, deren überarbeitete Fassung am 21. März präsentiert wird, werden sie nichts Neues erfahren. „Obwohl die meisten yezidi- schen Familien, die nach Berlin kommen, in Neukölln leben, spielen die Yeziden in unserem Religionsführer keine Rolle“, musste Arnold Mengelkoch zugeben.

=ensa=

Zur Interpretation freigegeben

Wir bitten um Ihr Verständnis! Das hören oder lesen Bahnreisende, wenn wieder mal ein Zug Verspätung hat, Postkunden, die vor der wegen einer Betriebsversammlung geschlossenen Filiale stehen, und diverse andere Leidtragende. Auch in Neukölln bedient man sich gerne dieser häufig strapazierten Floskel – zum Beispiel am  Platz der Stadt Hof, der derzeit über die Ganghoferstraße hinweg  eingerüstet ist  und  um- gestaltet  wird. Über  das, was  dort passiert, klären  Baustelleninfos  auf, die  an  den

baustelleninfo 2-2013_pdsh neukölln

Sperrzäunen hängen. Natürlich wird auf ihnen auch um Verständnis gebeten. Wofür, das bleibt zuweilen im Nebulösen stecken und somit der Deutungshoheit des Lesers überlassen. Entschuldigt man sich hier also dafür, dass auch genannte Perso- nengruppen trotz der Bauarbeiten zum Ziel kommen? Oder wird gar um Verständnis dafür gebeten, dass man sich in finanziell angespannten Zeiten keine kostspieligen Barrieren leisten kann? (Zugegebenermaßen ist dieses Beispiel aus dem Zusam- menhang gerissen, aber dazu lädt der ungeschickt formulierte Passus „Einschrän- kungen und Beeinträchtigungen“ in der  aktuellen Baustelleninfo  förmlich ein.)