Das Hoffen auf den Alpha-Schock

Im Neuköllner Estrel Hotel, wo Übernach-tungs- und Tagungsgästen derzeit ob des güldenen, illuminierten Adventsschmucks noch mehr Lichter als sonst aufgehen, trafen sich gestern und heute über 250 Fachleute aus Politik, Wirtschaft und Bil- dungseinrichtungen anlässlich des Ab- schlusses der UN-Weltdekade zur Alpha- betisierung zum zweitägigen Symposium „Weiterbildung im Dialog“. Bei einer hoch- karätig besetzten Podiumsdiskussion zur Halbzeit ging es um die Fragen, zu wel- chem Status quo die 2003 begonnene Weltdekade in Deutschland geführt hat und wie der künftige Umgang mit den Themen Alphabetisierung und Grundbildung  ge- staltet werden muss, um hierzulande die gesamtgesellschaftliche Situation und die der  etwa 7,5 Millionen erwachsenen Betroffenen nachhaltig verbessern zu können.

tagung "weiterbildung im dialog", un-weltdekade zur alphabetisierung, estrel berlin-neukölln

v. l.: Peter Hubertus (Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung), Ulrich Aengenvoort (Deutscher Volkshochschul-Verband), Dr. Roland Bernecker (Deutsche UNESCO-Kommission), Dr. Simone C. Ehmig (Institut für Lese- und Medienforschung, Stiftung Lesen), Rudolf Hahn (Volkshochschule Trier), Achim Himmelrath (Moderator)

Schon hinsichtlich des bereits Erreichten ließen sich die Diskutanten nicht auf einen gemeinsamen Nenner brin- gen. „Wir haben erreicht, dass die Größe des Problems er- kannt wurde“, bilanzierte Dr. Roland Bernecker, der Gene- ralsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission. „Die UN-Dekade hat nicht ge- schafft, was wir erhofft hat- ten“, hielt Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisie- rung und Grundbildung dage- gen. Während es auf poli- tischer Ebene bei den Inte- grationskursen klare Zuständigkeiten gebe, hinke man dem mit der Alphabetisierung und Grundbildung noch ein ganzes Stück hinterher. „Da gilt es Lösungen zu finden und klare Ziele zu definieren“, forderte Hubertus. Grundlage dafür könne aber nur sein, dass in Deutschland ein Klima herrscht, das den Problemkomplex regie- tagung "weiterbildung im dialog", un-weltdekade zur alphabetisierung, estrel berlin-neuköllnrungsunabhängig als Langzeitaufgabe be- greift.“ Das sei aber insbesondere in der Politik auf Länderebene noch nicht ange- kommen.

Letzteres wollte Rudolf Hahn nicht bestä-tigen. Der Leiter der Volkshochschule Trier ist Initiator eines Alpha-Bündnisses in sei- ner Stadt, das – ebenso wie das Alpha-Bündnis Neukölln – auf die Vernetzung aller vom Kontakt mit funktionalen An-Alpha- beten tangierten Einrichtungen setzt: „Zu unseren Unterstützern zählen alle relevanten Parteien, und als Schirmherr konnten wir den Trierer Oberbürgermeister gewinnen.“ Das sei auch nötig, um das Thema dauerhaft in den lokalen Medien platzieren zu können. „Leider ist es uns nicht gelungen, das bundesweit zu schaffen“, bedauerte Ulrich Aengenvoort, der Direktor des Deutschen Volkshochschul-Verbands: „Warum hat es einen Pisa-Schock gegeben, aber keinen Alpha-Schock?“ Die dramatischen Zahlen seien schließlich hinlänglich bekannt. Ob die meist nur strohfeuerartige Be- tagung "weiterbildung im dialog", un-weltdekade zur alphabetisierung, estrel berlin-neuköllnrichterstattung der Tatsache geschul- det sei, dass für Alphabetisierungs- und Grundbildungsdefizite im Gegen- satz zu den Pisa-Ergebnissen kein eindeutiger Schuldiger dingfest ge- macht werden könne, frage er sich. Sind die Schulen und das Bildungs- system für die Misere verantwortlich? Ist es die Gesellschaft? Oder liegt die Schuld bei jedem Betroffenen selber?

Erwiesen ist, dass die hohe Zahl funktionaler An-Alphabeten, die folglich auch die Standards der Grundbildung nicht erreichen können, zu massiven Problemen führt. Auch in den volks- und privatwirtschaftlichen Bereich hinein. Mehr als die Hälfte der Betroffenen sind – trotz meist fehlender Berufsausbildung – nach einer Erhebung vom Alphabund erwerbstätig und verrichten einfache manuelle Tä- tigkeiten. Spezielle Weiterbildungen gebe es für sie jedoch kaum. „Was wir brauchen, sind passgenaue Angebote, die An-Alphabeten das Lernen in der eigenen Lebens- tagung "weiterbildung im dialog", un-weltdekade zur alphabetisierung, estrel berlin-neuköllnwelt ermöglicht“, appelliert denn auch Dr. Simone C. Ehmig, die das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen leitet. Dafür müssten Lerner in die Konzeptionen eingebun- den werden. Zudem, weiß Ehmig, spiele der Peer-Gedanke in der Grup- pe der Betroffenen eine große Rolle, will heißen: Ehemalige An-Alphabeten, die sich erst als Erwachsene das Lesen und Schreiben aneignen, sind als Vorbilder mit Motivationsfaktor nicht zu unterschätzen.

Davon, dass die Themen Alphabetisierung und Grundbildung als bewältigt ad acta gelegt werden können, ist Deutschland – so die einhellige Meinung der Diskutanten – noch weit entfernt. Nicht einig waren sich die Experten auf dem Podium aber darüber, ob es sinnvoll wäre, nun eine nationale an die globale Dekade zu hängen.

=ensa=

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