Im Morgengrauen

spremberger straße 1 neukölln, deportierte neuköllner: clara stern, 23. alterstransportEs wird kurz vor Sonnenaufgang gewesen sein, als Clara Stern  heute vor genau 70 Jahren  aus dem Wohnhaus in der Spremberger Straße 1 abgeholt wurde und zum letzten Mal durch die Haustür ging. Wahrscheinlich stand ein LKW in der kleinen Straße im Neuköllner Reuterkiez, und vermutlich hatte die 69-Jährige, die in Halle a. d. pflügerstraße 78 neukölln, deportierte neuköllner: louis lewinski, 23. alterstransportSaale geboren worden war, nicht mehr als einen Koffer dabei, als sie auf die Lade- fläche stieg.

Ähnliches wird sich wenig früher nur ein paar Minuten Fußweg entfernt in der Pflü- gerstraße 78 abgespielt ha- ben. Dort hatte der aus Westpreußen stammende, in- zwischen 85-jährige Louis Lewinski gewohnt.

Insgesamt 100 Berliner Juden, unter ihnen – neben Clara Stern und Louis Lewinski – auch Kurt Tucholskys Mutter Doris, wurden am 16. Juli 1942 zum Anhalter Bahnhof im Bezirk Kreuzberg gebracht. Um 6.07 Uhr startete  vom Gleis 1 der  23. Alterstransport. Ziel des regulären Reisezugs, an den zwei 3. Klasse-Personenwagen angehängt waren, war das KZ Theresienstadt, das bei der Wannsee-Konferenz als „Altersghetto für ausgesuchte deutsche Juden“ bestimmt  worden war. Wie man heute weiß, konnte diese propagandistische Verklausulierung mit „Transitlager auf dem Weg in den Tod“ übersetzt werden: Wer nicht in Theresienstadt starb, wurde in der Regel nach Auschwitz weiterdeportiert. Genau 116 Transporte mit über 9.600 Menschen verließen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs den Anhalter Bahnhof.

Clara Stern kam im Altersghetto um; der Todesort von Louis Lewinski wird mit Minsk angegeben. An beide Verschollenen erinnert heute nichts mehr.  Weder vor der Spremberger Straße 1, wo bis zu ihrer Deportation am 4. März 1943 auch Gerda Heymann lebte, noch vor dem Haus in der Pflügerstraße 78, aus dem schon Betty Lewinski am 27. November 1941 deportiert worden war, liegen Stolpersteine.

Aktuell sind es 123 Stolpersteine, die in Neukölln der Opfer des Nazi-Regimes gedenken. Im November wird  Gunter Demnig  wieder nach Neukölln kommen, um weitere Messingtafeln zu verlegen. Ab Donnerstag ist er eine Woche lang in anderen Berliner Bezirken unterwegs.

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