Vom Schlag getroffen

Die ärztliche Versorgung war perfekt gestern Nachmittag im Köln-Zimmer des Neuköllner Rathauses. „In diesem Raum kann Ihnen heute nichts passieren“, versicherte Gesundheitsstadtrat Falko Liecke. Ein Chefarzt und zwei Oberärzte des Vivantes Klinikums Neukölln saßen sechs Frauen und einem Mann gegenüber, die stroke unit vivantes klinikum neukölln, tag des schlaganfalls, bezirksinitiative gesundes neuköllnsich über das Thema Schlaganfall informieren wollten.

„Ein Ziel haben wir ja schon erreicht“, stellt Prof. Dr. med. Darius G. Nabavi schmunzelnd fest. „Es sind mehr Gäste als Dozenten hier.“ Unumwun- den gibt der Oberarzt des Schlag- anfall-Zentrums (Stroke Unit) im Neu- köllner Vivantes Klinikum zu, dass es gerne noch mehr hätten sein dürfen, weil wirklich jeder von einer Sekunde auf die andere mit dem Thema Schlaganfall konfrontiert werden könne – sei es als Patient, als Familienangehöriger oder als zufälliger Augenzeuge. „Jährlich werden bundesweit etwa 250.000 neue Schlaganfälle diagnostiziert“, sagt Nabavi. Und bei denen gehe es vor allem um eines: um  schnelles Erkennen und Handeln. Denn pro Minute gehen ohne therapeutische Maßnahmen 2 Millionen Nervenzellen zugrunde.

Um Panikmache geht es dem Mediziner wahrlich nicht: „Nicht jedes Schwindelgefühl ist ein Schlaganfall, also auf eine Minderversorgung des Gehirns zurückzuführen!“ Plötzlich  auftretende  Ausfälle von Kraft, Gefühl, Sehen, Sprache und Gleichge- wicht  seien hingegen dringende Verdachtsmomente. „Selbst wenn die nur Minuten oder Sekunden dauern“, ermahnt Nabavi, „sofort die 112 wählen! Denn solchen Warnschlägen folgen meist schwere Schlaganfälle.“ Die Sepp Herberger-Weisheit „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ lasse sich somit 1:1 auf den Schlaganfall über- tragen.

Auch Nabavis Mitarbeiter Dr. med. Olaf Crome, Facharzt für Neurologie, untermauert den Hinweis seines Chefs, unbedingt die Notrufnummer zu kontaktieren: „Nur über die wird die Schlaganfall-Rettungskette in Gang gesetzt und der Patient umgehend in eine Stroke Unit eingeliefert.“ Von denen gebe es 14 in Berlin, die im Vivantes Klinikum Neukölln sei eine der bundesweit größten. 36 Betten stünden dort für Schlaganfall-Patienten bereit, um die sich ein rund 40-köpfiges Team aus Ärzten und Pflegekräften kümmert, das eng vernetzt  alle Bereiche von Diagnostik über Akut- therapie bis zur Sekundär-Prophylaxe  abdeckt. „Damit“, so Crome, „bieten wir bestmögliche Bedingungen, dass alles gut ausgehen kann.“ Bedenklich sei allerdings, ergänzt Darius G. Nabavi, dass nur etwa 30 Prozent aller Schlaganfall-Patienten innerhalb von drei Stunden nach dem Auftreten der Symptome kämen. Trotz vermehrter Aufklärung hänge der Faktor in Deutschland seit Jahren in diesem Wert- bereich fest.

Doch wie lässt sich die Gefahr, einen oder einen weiteren Schlaganfall zu erleiden, reduzieren? Vor allem darüber referierte Dr. med. Boris Dimitrijeski, der als Funk- tionsoberarzt in der Stroke Unit Neukölln tagtäglich das alte Herberger-Bonmot zu durchbrechen versucht. Wohlwis- send, dass statistisch ein Drittel aller Schlaganfall-Patienten innerhalb von fünf Jahren den nächsten hat. Ge- schuldet sei das insbesondere der Tatsache, dass nicht jeder Genesene den Warnschuss als solchen ver- stehen will und ihn als Auftakt zu einem gesünderen Lebensabschnitt nimmt. „Natürlich“, sagt Dimitrijeski, „gibt es unveränderbare Risikofak- toren wie Geschlecht, Alter oder eine genetische Disposition.“ Aber es gebe eben auch die Kriterien, die jeder selber beeinflussen kann. Man müsse einfach auf optimale Blutdruck- und Blutfettwerte sowie eine gesunde Ernährung achten, Übergewicht verhindern, den Alkoholkonsum einschränken, aufs Rauchen verzichten und sich ausreichend Bewegung verordnen. „Die Motivation des Patienten ist bei der Schlaganfall-Reha de facto das A und O“, weiß der Mediziner. Das gelte auch für alle, die das Risiko eines Infarkts des Gehirns von vornherein minimieren möchten.

In Neukölln scheint das Bedürfnis, auf diese lebensbeeinträchtigende oder gar -bedrohende Erfahrung verzichten zu wollen, nicht wirklich stark ausgeprägt. „Wir stellen hier  erschreckend viele jüngere Schlaganfall-Patienten und eine deutlich höhere Schlaganfall-Häufigkeit fest“, konstatiert Chefarzt Darius G. Nabavi. Derzeit werde eine vom Vivantes Klinikum und der Berliner Charité erstellte Studie ausgewertet, die die Interaktion zwischen Migrationshintergrund und Schlaganfall-Frequenz untersucht hat. Mit dieser Neuköllner Schlaganfall-Studie (NESS) habe man totales Neuland betreten, da es bisher in Deutschland keinerlei spezifisches Datenmaterial gab. Längst erforscht war indes das höhere Schlaganfall-Risiko bei Lateinamerikanern und Afrikanern.

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