Kazim Erdogan war 20, als er sein im tiefsten Zentralanatolien gelegenes Heimat- dorf Gökçeharman verließ und nach dreitägiger Busfahrt via Istanbul und München in Berlin am Bahnhof Zoo an- kam. Es war im Februar 1974. Gökçeharman hatte damals weder eine Schule noch Strom; die rund 360 Einwohner bestritten ihren Lebensunterhalt vorwie- gend durch Landwirtschaft und Viehzucht. Erdogans Vater gehörte zu den we- nigen, die eine Stelle als Bahnarbeiter bei der etwa 5 Kilometer entfernten Eisenbahnlinie gefunden hatten. Ein Glücksfall, der dem Jungen den Besuch eines Internats in Erzurum ermöglichte: Am Ende der Schul- ausbildung hatte Kazim Erdogan als erster Gökçeharmaner überhaupt das Abitur in der Tasche. Die Aufnahmeprüfung an der Universität von Ankara schaffte er problem-
los, das Studium dort an- zutreten scheiterte an den finanziellen Möglichkeiten.
In Berlin Psychologie und Soziologie studieren und dann wieder zurück in die Heimat, um den Lands- leuten zu helfen, das war der Plan, mit dem der Sohn an-alphabetischer Eltern nach Deutschland gekommen war. 1979, als Kazim Erdogan sein Studium absolviert hatte, verhinderte die Regierungsbildung durch Nationalisten die Rückkehr in die Türkei. Später lernte er seine Frau kennen, bekam mit ihr zwei Töchter und schlug nicht nur familiäre, sondern auch berufliche Wurzeln in Berlin. Eine Erfolgsgeschichte, die seit 2003 insbesondere in Neukölln geschrieben wird.
Eine gänzlich andere Entwicklung nahm jedoch Erdogans Heimatort Gökçeharman, das derzeit mit einer sehenswerten Ausstellung im Neuköllner Leuchtturm eine sehr persönliche Würdigung er- fährt. „Wir waren ja erst wirklich skeptisch, als Kazim uns fragte, ob er Fotos, die er vor 30 Jahren in seinem Dorf gemacht hat, bei uns ausstellen kann“, erinnert sich Karen-Kristina Bloch-Thieß, die – zu- sammen mit ihrem Mann – das Creativ-Centrum im Körnerkiez vor knapp sechs Jahren ein- richtete. Als sie dann die Bilder sahen, war nicht nur die Skepsis dahin, sondern auch die Gewissheit da, dass das Fotografieren ebenfalls zu Kazim Erdogans Talenten gehört.
Es sind fast 70 eindrucksvolle Fotos, die Gökçeharman und die Landschaft Zentralanatoliens porträtieren und von den Menschen erzählen, die dort in einfachsten Verhältnissen lebten. Etwa 80 Häuser standen damals in dem Dorf, das erst Mitte der 1970er Jahre zu einer Grundschule kam und zehn weitere Jahre auf die Anbindung ans Elektritizitätsnetz warten musste. Viele der Einwohner hatten Gökçeharman seinerzeit bereits ob der unzumutbaren Lebensbedingungen verlas-
sen und sich eine neue Existenz in türkischen Städten oder anderen Ländern und Kontinenten aufgebaut. Von der gesamten Ansiedlung sind heute nur noch zwei Häuser übrig.
Kazim Erdogan wird demnächst erneut in sein weitgehend verwaistes Heimatdorf aufbrechen. Mit einem Plan im Gepäck, den andere höchstwahrscheinlich nicht mal zu äußern wagen würden – aus Angst, für verrückt erklärt zu werden: Der 58-jährige Neuköllner will Gökçeharman wieder auf- bauen und zu neuem Le- ben erwecken, am ersten Haus werde schon ge- werkelt. Wer den umtriebi- gen Initiator der Sprach- woche Neukölln, von Ge- sprächsgruppen für türki- sche Männer und diversen anderen Projekten auch nur ein wenig kennt, ahnt, dass es mehr als eine fixe Idee ist, sondern dass er viel dafür tun wird, sie zu realisieren.
Die Fotoausstellung „Kazim Erdogan und sein Dorf Gökçeharman“ ist noch bis zum 28. Oktober im Creativ-Centrum Neuköllner Leuchtturm in der Emser Straße 117 zu sehen. Geöffnet ist von mittwochs bis freitags zwischen 14 und 19 Uhr.
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