Was wird aus der Mitte? Was wird aus den ehemaligen Arbeiterquartieren, was aus den ehemaligen Stadtbrachen? – Mit diesen Aspekten beschäftigte sich die Initiative Think Berl!n bei ihrer Strategietagung, zu der mit der provokativen Frage „Ist Stadt- entwicklung nach der Wahl egal?“ eingeladen wurde. Nun erschien anlässlich der Tagung die Publikation „Berlin hat mehr verdient!“, in der auch der folgende Text von Dr. Cordelia Polinna erschien:
Die Herausforderungen, vor denen innerstädtische benachteiligte Stadtquartiere wie Nord-Neukölln, Kreuzberg, Moabit oder Wedding stehen, werden von verschiedenen Ressorts der Politik umfangreich diskutiert.
Die Probleme sind mehrdimensional, bestehen u. a. in den Bereichen Bildung, Arbeitslosigkeit, Integration, Wirtschaftskraft, Wohnungs- und Mietenpolitik und haben Auswirkungen, die sich in der städte- baulichen Struktur der Gebiete widerspiegeln, etwa durch Segre- gation, überforderte Einrichtungen der sozialen und kulturellen Infra- struktur, verwahrloste öffentliche Räume aber auch wirtschaftlich geschwächte und nicht funktionie- rende Stadtteilzentren. Gleichzeitig ist zumindest in einigen dieser Gebiete ein wachsender Entwick- lungsdruck unverkennbar – etwa durch die Zunahme von Touristen und den vermehrten Zuzug von Studenten und „Kreativen“. Diese Entwicklung ist prinzipiell sinnvoll und gewollt, denn die Quartiere zeichnen sich durch eine attraktive Bausubstanz aus, sind gut erschlossen und eignen sich als Wohn- und Arbeitsquartiere für alle gesellschaftlichen Schichten. Sie löst jedoch bei Teilen der Bevölkerung Ängste aus – vor Gentrifizierung und vor Touristifizierung. Diese Ängste müssen Ernst genommen werden. Es müssen Ideen entwickelt werden, wie in den „alternativen Szenekiezen“ mit den negativen Auswirkungen des Zuzugs von Besserverdienenden oder mit den wachsenden Touristenströmen, etwa Lärm-
belästigung oder die Umwand- lung von Wohnungen in Ferien- wohnungen, umgegangen wer- den kann.
Gleichzeitig bieten sich durch das wachsende Interesse an diesen Quartieren auch viele Chancen für die polyzentrale Stadt – die Stärkung der lokalen Ökonomie und des dezentralen Tourismus in den Bezirken oder die Qualifizierung der inner- städtischen Wohnquartiere im Sinne der klimagerechten, kompakten Stadt mit Mischnutzung und kurzen Wegen.
In den vergangenen Jahren sind umfangreiche Fördergelder in die benachteiligten Quartiere geflossen, in Form der Programme Quartiersmanagement bzw. soziale Stadt, Aktive Stadtzentren, Stadtumbau West und Aktionsräume plus; durch Vorzeigeprojekte wie den Campus Rütli sowie zuletzt im Rahmen der Festsetzung neuer Sanierungsgebiete, die zu einem großen Teil in den benachteiligten Innenstadtquartieren liegen. Mit Hilfe dieses wichtigen stadtplanerischen Instruments werden in den nächsten 15 Jahren rund 216 Millionen Euro vorrangig für die Verbesserung von Schulen, Kitas, Straßen und Grünflächen investiert. In den benachteiligten Stadtquartieren überlagern sich also mehrere Förderkulissen. Welche Erfolge mit den bisherigen Maß- nahmen erzielt wurden, wird jedoch nicht wirklich deutlich, im Gegenteil, das „Monitoring soziale Stadt“ doku- mentiert seit Jahren einen immer weiter voranschreitenden Negativtrend.
Vor allem mangelt es an innovativen Konzepten für die Gebiete. Das im Rahmen des Programms Aktive Stadtzentren entwickelte Motto “[Aktion! Karl-Marx-Straße] – jung, bunt, erfolgreich” klingt recht banal und austauschbar. Was die „Aktionsräume plus“ leisten und ob sie nicht in erster Linie Ressourcen binden, wird ebenfalls nicht deutlich, auch hier sind die bislang vorgestellten Konzepte schwammig und erschreckend visionslos.
Als zentrales Vorzeigeprojekt im nördlichen Neukölln ist der Campus Rütli geplant, die Aufwertung einer „Problemschule“. Der städtebauliche Entwurf für den Campus konnte jedoch nicht überzeugend darstellen, wie sich der Campus öffnen und das mittlerweile sehr lebendige Quartier einbeziehen wird. Im Gegenteil, hier ist immer noch eine Abschottung nach Außen geplant. Kann sich das Projekt mit dem vorhandenen Nutzungs- und Gestaltungs- konzept wirklich zu einem lebendigen, attraktiven Anziehungspunkt des Stadtteils entwickeln?
Und grundsätzlich: Welche neuen Funktionen müssen Einrichtungen der sozialen und kulturellen Infrastruktur in den benachteiligten Stadtquartieren übernehmen, um mit den Herausforderungen der Gebiete umgehen zu können? Und welche Rolle sollte die Gestaltung spielen, wenn eine Erneuerung oder der Neubau von Infrastruktureinrichtungen geplant werden?
Mit den neu ausgewiesenen Sanierungsgebieten fließt viel Geld in die benachteiligten Stadtquartiere und die öffentliche Hand hat mit der Ausweisung eine große Chance bekommen, städtebauliche Impulse zu setzen. Wie mit diesen zusätzlichen Geldern die Probleme gelöst werden sollen, bleibt jedoch unklar. Gibt es für diese „Sanierung“ überhaupt schon eine Leitidee, die über Allgemeinplätze hinausgeht? Muss nicht, bevor jetzt umfangreiche Maßnahmen in den Sanie-rungsgebieten geplant werden, erst mal eine völlig neue Definition von Sanierung und Aufwertung entwickelt und diskutiert werden, die den heutigen Anforderungen an die Gebiete gerecht wird? Können wir mit den Instrumenten der Sanierung von vor 30, 20, 10 Jahren den neuen Fragestellungen überhaupt noch begegnen? Müssen hier nicht neue Ansätze entwickelt werden, die auf Fragestellungen wie das Thema der multiethnischen Stadt oder die Angst vor der Verdrängung, den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel eingehen? Und sind die Bezirke und vor allem die lokalen Planungsämter dieser Chance, aber gleichzeitig auch dieser neuen Herausforderung überhaupt gewachsen?
Was für neue Instrumente müssen entwickelt werden, um „Sanierung“ durch- zuführen? Die Konsequenz aus der Befürchtung, durch städtebauliche Maßnahmen immobilienwirtschaftliche Aufwertungsprozesse auszulösen, kann ja nicht lauten, in diesen Quartieren auf städtebauliche Projekte zu verzichten. Wie muss also der Begriff der Aufwertung neu definiert werden? Wie kann die private Wirt- schaft stärker in diese Prozesse eingebunden werden?
Mit anderen Worten: Es wurde versäumt, vor der Ausweisung der neuen Sanierungsgebiete eine breite gesellschaftliche Diskussion anzu- stoßen, was denn überhaupt die Merkmale einer neuen Generation von Sanierungsgebieten sein sollen. Welche Rolle soll in diesen Gebieten das Thema der Baukultur, der städtebaulichen Qualität spielen. Muss nicht die städtebauliche und architektonische Gestaltung der Projekte stärker ins Blickfeld rücken – weg von „so billig wie möglich“ zu Projekten, auf die die Bewohner der Gebiete stolz sein und mit denen sie sich identifizieren können?
Doch der Blick auf die innerstädtischen Sanierungsgebiete reicht nicht aus. Wenn Menschen verdrängt werden, dann oft an den Stadtrand, in die Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus. Um diese Siedlungen kümmern sich nur wenige Spezialisten. Diese Siedlungen rücken nur dann ins Blickfeld von Politikern, wenn dort radikale Parteien große Zuwächse bei Wahlen verbuchen. Das aber ist zu wenig. Wenn wir nicht aufpassen, ballen sich dort die Probleme von morgen.
Cordelia Polinna wurde in Neukölln geboren, wuchs im Böhmischen Dorf im Richardkiez auf und lebt auch heute wieder – nach Stationen in Edinburgh, London und New York – in Neukölln. Sie studierte Stadt- und Regio- nalplanung und promovierte vor vier Jahren an der TU Berlin.
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