Auf keinem guten Weg

„So leer war es noch nie bei einem Parkgespräch“, konstatiert Heidi Göbel. Nicht mal die Hälfte der Stühle fürs Publikum ist vor der Pause besetzt, nach der Pause haben sich die Reihen noch wei- ter gelichtet. Göbel, die die Talkreihe im Körnerpark mit Martin Steffens mode- riert, vermutet, dass die Parallelität verschiedener anderer Veranstaltungen im Umkreis weniger Minuten Fußweg Ursache für den bescheidenen Zuspruch ist. Bei der Planung fürs nächste Jahr müssten sie darauf achten Termine zu finden, an denen nichts anderes los ist, sagt Heidi Göbel. Ihr Kollege Tasin Özcan, für die Technik und die Bewirtung des Publikums zuständig, äußerst Bedenken, ob es einen solchen Termin überhaupt geben wird. Außerdem: Vorherige Parkgespräche waren gut besucht, obwohl auch sie nicht bar jeglicher Konkurrenz über die Bühne gingen.

Gut möglich, dass das relative Desinteresse am Thema selbst oder daran lag, wie es auf Plakaten und Flyern angekündigt wurde: „Literatur in Neukölln“. War das doch ein zu nüchterner Titel für eine Materie, die ohnehin entweder interessiert oder eben nicht? Fehlte manchem potenziellen Besucher angesichts der Runde der Disku- parkgespräche neukölln, martin steffens, kazim erdogan, gunnar kunz, hanna baynetanten womöglich die Aussicht auf verbale Kontroversen?

Zweifellos, auf dem Podium saßen – flankiert von Martin Stef- fens (l.) und Heidi Göbel – drei, die sich im Bereich der Literatur, in Neukölln oder bei beidem auskennen: Hanna Bayne (r.) leitet das Sprach- und Lern- zentrum der Neuköllner Stadt- bibliothek, Gunnar Kunz (M.) ist Schriftsteller und wohnte von 1987 bis 1997 in Neukölln und   Kazim Erdogan (2. v. l.) rief das Erfolgsprojekt „Woche der Sprache und des Lesens“ ins Leben, arbeitet im Norden des Bezirks und wohnt im Süden Neuköllns. Die Literaturaffinität kann also durchaus als ihr gemeinsamer Nenner bezeichnet werden, die Werbung für das eigene Tun stellte sich als weiterer heraus.

Bei Hanna Bayne offenbarte es sich in einer so starken Ausprägung, dass sie bereits bei der Einstiegsfrage „Warum ist das Lesen wichtig?“ weitestgehend an der Frage vorbei antwortete. Kunz gab zu, schon als Kind Bücher verschlungen zu haben, und Erdogan erklärte Bücher zum Reichtum der Menschheit und wichtigsten Kommunikationsmittel. Dafür, dass die Runde sich wieder weit vom Thema Literatur entfernte, sorgte das von Karteikarten gegeißelte Moderatoren-Duo mit der Anschlussfrage. „Wie sieht Ihr Schreibtisch aus?“, wollte es erfahren – und mehr noch, ob auf dem auch ein PC stehe.

Danach durfte die Bibliothekarin (dienstlicher Schreibtisch „sehr organisiert“ und mit PC, häuslicher Schreibtisch „anders“) von ihrem Arbeitsalltag berichten, der vor allem aus der Vermittlung von Medien an Schüler der Jahrgangsstufen 7 bis 12 bestehe. Hauptsächlich gehe es dabei um Literatur für die Schule, privat werde von Jugendlichen „eindeutig zunehmend weniger“ gelesen, so Bayne. Die Bibliothek versuche den Trend jedoch auch durch ein belletristisches Angebot mit Büchern für Leseungewohnte zu bremsen, mit Büchern über brisante Themen in Großschrift. parkgespräche - talk im körnerpark, neukölln, kazim erdogan, gunnar kunz, hanna bayneKinder würden bereits ab dem Kita-Alter durch verschiedene Projekte und Aktionen an das Lesen herangeführt.

Um das Schaffen von Mög- lichkeiten zur Begegnung mit Literarischem geht es auch Ka- zim Erdogan (Büro-Schreibtisch „schlimm, obwohl ich eigentlich ein sehr ordentlicher Mensch bin“) mit seiner „Woche der Sprache und des Lesens“. 2006 fand sie erstmals in Neukölln statt und soll im nächsten Jahr auf ganz Berlin ausgeweitet werden. Das Besondere des Events sei, dass es von der Basis organisiert werde und ein Programm biete, das Menschen aller Altersgruppen und Herkunftsländer anspreche: Autoren mit Vorbildpotenzial lesen in Schulen oder auf öffentlichen Plätzen, Vorleser in Bussen, Wartezimmern und an anderen ungewöhnlichen Orten aus Werken verschiedenster literarischer Genres. Um eine Wertschätzung der Sprachenvielfalt in der Stadt gehe es dabei selbstverständlich auch. „Deutsch“, sagt Erdogan, „ist aber definitiv die Erstsprache.“ Wie überaus wichtig eine gemeinsame Sprache ist, das erlebe er ständig: „Und ich selber habe es sehr unmittelbar erfahren, als ich 1974 – ohne ein Wort Deutsch zu können – aus der Türkei nach Deutschland einreiste.“

Einer Frage an Gunnar Kunz (Schreibtisch im Arbeitszimmer „extrem aufgeräumt“) soll die Maschen um das Thema „Literatur in Neukölln“ wieder etwas enger ziehen. Die, wie denn die Vernetzung der Neuköllner Literaturszene in den 1980er- und 1990er-Jahren gewesen sei, taugt dafür nur bedingt. Er habe nicht viel mit der Szene zu tun gehabt, sagt Kunz. Auf die Frage nach seinem Alltag als Literat hat er mehr zu erzählen: Der sei sehr strukturiert und teile sich in die Kreativarbeit in der ersten und Recherchen sowie Organisatorisches in der zweiten Tageshälfte. „Für mich ist die Schriftstellerei der schönste Beruf der Welt“, sagt Gunnar Kunz – auch vor dem Hintergrund zu denen zu gehören, die davon leben kön- nen. Ob es von dem Krimi-Autor auch irgendwann ein lustiges Neukölln-Buch à la Uli Hanne- mann geben wird, will Martin Steffens noch wissen. „Nö“, er- klärt der 50-Jährige, „das inte- ressiert mich nicht.“

„Was wünschen Sie dem Nor- den Neuköllns literarisch?“ lau- tet die Frage, mit der die dritte Ausgabe der Parkgespräche in Richtung Pause trudelt. „Wir sind auf einem guten Weg“, findet Kunz und lobt die „total interessanten“ Fragen, die Jugendliche ihm oft bei Lesungen stellen. Hanna Baynes Wünsche zielen in erster Linie auf den Umgang der Neuköllner mit der Bibliothek: „Mehr Selbst- verständnis, sie zu benutzen, wäre schön.“ Kazim Erdogan wünscht sich Akzeptanz und Anerkennung, aber auch Beschämung, zum Beispiel angesichts der hohen Analphabeten-Quote. Das bringt ihm Applaus ein.

Nach der Pause verrät Erdogan noch, dass er momentan das Wowereit-Buch liest und demnächst selber unter die Autoren gehen wird. Er habe das Angebot eines Verlags angenommen, der ein Buch zum Thema Integration von ihm veröffentlichen möchte. Insofern schließt sich der Kreis um das Thema „Literatur in Neukölln“ dann doch wieder.  Hätten Schriftsteller, die aktuell in Neukölln leben, oder Inhaber kleiner Neuköllner Buchhandlungen auf dem Podium gesessen, hätte das Publikum dieses Erlebnis höchstwahrscheinlich öfter haben können. Moderatoren, die sich statt für das Oder für Fisch oder Fleisch entschieden hätten, wären auch von Vorteil gewesen.

=ensa=

Volkslauf auf dem Tempelhofer Feld

Morgen ist das Feld noch bis 19 Uhr geöffnet, im November wird es dann bereits um 18 Uhr geschlossen.

.

Draußen vor der Tür

„Die im November 2010 beschlossenen Gesetzesänderungen haben sich im ver- gangenen Winter erstmals positiv ausgewirkt. Die Schnee- und Eisräumung klappte bedeutend besser als im Winter 2009/2010″, befand Berlins Umwelt- senatorin Katrin Lompscher wohl zur Überraschung vieler Hauptstädter dieser Tage. Anlass war die ab 1. November gültige, im novellierten Straßenreinigungsgesetz verankerte Änderung in Sachen Winterdienst. Die legt fest, dass künftig Bürgersteige der Reini- gungsklassen 1 und 2 (Straßen-reinigungsverzeichnis; Neukölln: S. 48 – 55) auf einer Breite von 1,50 Metern von Eis und Schnee zu räumen sind. Damit werde, so Lompscher, den Fußgängern besser Rechnung getragen.

Voraussetzung für diesen Effekt wäre allerdings, dass der Win- terdienst wirkungsvoller agiert, als es  in der letzten Saison streckenweise häufig der Fall  war. Denn der Unterschied, ob 50 Zentimeter mehr oder weniger nicht geräumt sind und zum fröhlichen Schlittern oder schmerzhaften Stürzen einladen, ist marginal.

=ensa=

Tatort Blutwurstmanufaktur Neukölln

Seit gestern und noch bis morgen Abend hat das literarische Verbrechen in den Bezirken der Hauptstadt Hochkonjunktur. Schuld ist der  2. Berliner 2. berliner krimimarathon, blutwurstmanufaktur neuköllnKrimimarathon, der an diesem Wochenende 30 pas- sionierte Schreibtischtäterinnen und -täter zu 19 Tatorten  schickt.

Schon eine halbe Stunde bevor das Morden nach der Devise „Rache ist Blutwurst“ in der Produktionshalle der Blutwurstmanufaktur begann, trafen die ersten freiwilligen Zeugen in dem Neuköllner Hinterhof am Karl-Marx- Platz ein. Er sei zufällig mal wieder für einige Tage im Bezirk, sagt ein Mann, den es vor vielen Jahren nach Süd- deutschland verschlug. „Ich bin Ve- getarierin“, gesteht eine Frau, deren Stimme gewisse Bedenken erkennen lässt, wie sie das, was ihr bevorsteht, wohl durchhalten wird. Andere sind Krimi-Fans, die sich die Lesung in dieser doch sehr speziellen Location nicht entgehen lassen wollen, oder Stammkunden der Blutwurstmanufaktur, die bisher nur das Geschäft im 2. berliner krimimarathon, blutwurstmanufaktur neuköllnVorderhaus kannten.

Das gebe es bereits seit 1898, erzählt Geschäftsführer Mathias Helfert (l.), nachdem er zusätzlich Transportboxen als Sitzgelegenheiten gestapelt hat, weil die 30 Klappstühle 2. berliner krimimarathon, blutwurstmanufaktur neukölln, mathias helfert, peter godazgar, stephan hähnelnicht ausrei- chen.  Schon zum dritten Mal finde in der vor rund 40 Jahren er- richteten, weiß gekachelten Produk- tionshalle des Betriebs eine Krimi- lesung statt. „Wir sind hier so ver- ankert, dass wir den Leuten gerne was bieten“, erklärt Helfert das kulturelle Engagement: Diesmal sind es die Autoren Peter Godazgar (M.) und Stephan Hähnel, der zugleich Organisator des Berliner Krimimarathons ist.

Letzterer startet mit seiner Kurzgeschichte „Schweizer Krokodil“, in der ein pedan- tischer Modelleisenbahner seine zum Vegetarismus übergelaufene Ehefrau mit einer wertvollen Lok erschlägt. Die Geschichte habe einen wahren Kern, berichtet Hähnel 2. berliner krimimarathon, blutwurstmanufaktur neuköllnals der Applaus verstummt ist: Sein Schwager sei ein ebenso fanatischer Eisenbahner wie der Protagonist Henri Engelmann. „Zu Todesfällen ist es deshalb aber noch nicht gekommen“, versichert er.

Der Hallenser Peter Godazgar schließt sich mit einer Passage aus seinem Krimi „Unter schrägen Vö- geln“ an, dem dritten Band um den chaotischen Privatdetektiv Markus Waldo. Nicht nur die Geschichte sorgt für reichlich Lacher, sondern auch die Art und Weise, wie Godazgar sie vorträgt. Mit ihm und Stephan Hähnel sind eindeutig Krimi-Autoren am Werk, die nicht nur schreiben können.

Im Nebenraum springt ein Kühlaggregat an, das Brummen der Maschine untermalt den Beginn von Hähnels nächster Geschichte, die „Back dir einen Mann!“ heißt. Das Geräusch hätte perfekt zu Godazgars skurriler Shortstory namens „Latte Macchiato à la Knut“ gepasst, in der sich der Verfechter ordinären Filter- kaffees, der ein Caféhaus betreibt, an 184 Latte-Trinkern rächt. „Schade, dass es hier 2. berliner krimimarathon, blutwurstmanufaktur neuköllnnicht nach Kaffee riecht“, murmelt eine Frau. „Ja“, bestätigt die Freundin und wischt mit ihrem Ärmel einen Tau- wassertropfen weg, der sich von der Decke auf ihre Tasche fallen ließ, „der Geruch hier ist schon sehr eigenartig.“

Als Stephan Hähnel gerade zu seiner nächsten Geschichte ansetzen will, unter- bricht Mathias Helfert ihn. „Wir hatten doch gesagt, dass wir ’ne kurze Pause machen und unsere Gäste zu einem kleinen Imbiss einladen“, erinnert er.  Wenig später ist das Büffet mit Produkten aus der Blutwurstmanufaktur eröffnet, danach geht es literarisch blutig weiter.

Heute um 20 Uhr gehen zwei Ex-Neuköllner beim 2. Berliner Krimimarathon ins Rennen: Gunnar Kunz liest in Walthers Buchladen in Steglitz aus sei- nem historischen Krimi „Inflation“ und Elisabeth Herrmann im  Sony Store Berlin am Potsdamer Platz aus „Zeugin der Toten“. Der Eintritt ist frei!

=ensa=

Zwangsläufig unüberraschend

„Nee, wa? Dit gloob ick jetzt nich!“ Für einen, der die Sitzungen der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (BVV) häufig von der Besuchertribüne aus verfolgt, begann die gestrige konstituierende Sit- zung mit einer  echten Überraschung. Und das noch bevor die Zuschauerränge unter der düsteren Holzdecke des BVV- Saals bis auf den letzten Platz besetzt waren und die Sitzung um 17.11 Uhr an- geklingelt wurde: Der Mann hatte exakt den Stuhl direkt hinter der Brüstung zugeteilt bekommen, auf dem er auch Mitte Juli beim letzten BVV-Termin gesessen hatte. „Hier!“, ruft er einem Bekannten zu, der zwei Reihen weiter hinten sitzen muss, nimmt eine angebrochene Tabletten-Blister- packung von der Balustrade und winkt ihm damit zu. „Die hatte ich vor ’nem Vierteljahr vergessen. Da sieht man doch mal, wie hier geputzt wird.“

Danach hielten sich die Überraschungsmomente jedoch weitgehend in Grenzen: Der von der Piratenpartei, den Grünen und der Linken eingereichte Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung wurde durch die Gegenstimmen der 40-köpfigen SPD/CDU-Zählgemeinschaft  abgelehnt. Die Wiederwahl von Jürgen Koglin (SPD) zum Be- zirksverordnetenvorsteher wurde dagegen mit 51 Ja-Stimmen der insgesamt 55 Stimmberechtigten parteienübergreifend befürwortet.

Ein erheblich schwächeres Votum erhielt später Heinz Buschkowsky (SPD) für eine weitere Legislaturperiode als Bezirksbürgermeister von Neukölln: 40 Abge- ordnete stimmten für ihn, sieben dagegen und acht mit Enthaltung. Mit jeweils 39 Pro-Stimmen sicherten sich Thomas Blesing (SPD) und Falko Liecke (CDU) ihre Posten als Bezirksstadträte. Liecke bekam zusätzlich den als stellvertretender Bezirksbürgermeister, muss dabei jedoch auf das fachliche Vertretungsrecht verzichten, das die SPD für sich beansprucht. Mit 42 Ja-Stimmen, ergo: mindestens zwei Stimmen aus dem Lager der Oppositionsparteien, wurde Dr. Franziska Giffey als Bezirksstadträtin wiedergewählt.

Nach knapp dreistündiger Sitzung begann schließlich der mit Spannung erwartete Tagesordnungspunkt 9.5 „Wahl zur Bezirksstadträtin auf Vorschlag der Fraktion der Grünen“. Kurz zuvor hatte Gabriele Vonnekold (Grüne) vor der Bezirksverordne- tenversammlung zum offensichtlichen Missfallen der SPD/CDU-Zählgemeinschaft ihre Kandidatur erklärt. Die Quittung dafür erhielt sie nicht nur im ersten Wahlgang, sondern auch im anschließenden zweiten: Bis auf ein Mitglied des rot-schwarzen Pakts unterwarfen sich alle dem Koalitionszwang. So standen am Ende den 16 Ja-Stimmen für Gabriele Vonnekold 39 Gegenstimmen gegenüber; die Wahl- entscheidung wird bis zur nächsten BVV-Sitzung am 16. November vertagt.

Die Fraktion bedauere es zutiefst, erklärten die Grünen noch am gestrigen Abend, dass entgegen parlamentarischer Gepflogenheiten, das Vorschlagsrecht aller Parteien zu respektieren, Gabriele Vonnekold nicht gewählt wurde. „Viele Be- zirksverordnete“, so Fraktionschef Bernd Szczepanski, „haben noch vor der Wahl in privaten Gesprächen ihre Anerkennung und Sympathie gegenüber Gabriele Vonnekold ausgedrückt. Umso trauriger ist das Ergebnis dieser Wahl.“ Die Grünen würden nun  über das weitere Vorgehen beraten.

=ensa=

Umparken unerwünscht

Damit die Straßen der Hufeisensiedlung im Neuköllner Ortsteil Britz richtig schnieke sind, haben die Berliner Stadtreinigung (BSR) und das Bezirksamt Neukölln dort vor einem Jahr das Modellprojekt „Umparken für die Straßenreinigung“ eingeführt. In anderen  Vierteln gilt es (noch?) nicht, weshalb die  Müll- und  Laubkehrer gezwungen

sind, um diesen Vierbeiner drumrum zu fegen, der  seinen sonnigen Fleck am Stra- ßenrand partout nicht aufgeben wollen würde.

Außergewöhnliche Töne

Was haben der Sänger und Komponist Udo Jürgens und der Neuköllner Musiker Jürgen Heidemann gemeinsam? Zunächst sind es selbstverständlich die nament- lichen Übereinstimmungen, die ins Auge fallen. Aber die Künstler verbindet noch mehr: Beide sind nach ihren Konzerten oft klatschnass.

Bei Jürgen Heidemann ist es allerdings kein Schweiß, der sein Hemd durchtränkt. Er rackert sich nicht am Piano ab, singt nicht bis zur Erschöpfung oder tobt über die Bühne. Nein, es ist vor allem die Nähe zum Instrument und die Art und Weise, wie ihm Töne entlockt werden, die den 34-Jährigen nass macht. Denn Jürgen Heidemann gehört zu denen, die die alte Kunst des Musizierens mit Klangsteinen für sich entdeckt haben und meisterhaft beherrschen.

Ohne eine Schüssel mit Wasser geht bei den Instrumenten gar nichts. Heidemanns Hände müssen nass sein,  will er Granitsteine zum Klingen bringen, die ob ihrer Formen- und Farbenvielfalt auch als Deko- Elemente fürs Wohnzimmer geeignet wären oder als Skulpturen in Galerien durchgingen. Ihre akustischen Qualitäten werden erst durch einen wie Jürgen Heidemann offenbar. Streicht er sanft mit flachen Händen über die Steine, steigen imposante Klangwolken aus satten Basstönen, melodischen Mitten und intensiven hohen Tönen zwischen den La- mellen auf.

Noch eindrucksvoller und facet- tenreicher wird das Hörerlebnis, wenn der Klangsteinmusiker  Jürgen Heidemann zusammen mit seiner Partnerin, der Vio- linistin Hoshiko Yamane, auftritt: Am 3. Dezember sind die bei- den Künstler mit ihrem musika- lischen Dialog der Elemente Holz (=Ki) und Stein (=Seki) als Duo KiSeki im Museum Neukölln auf dem Gutshof Schloss Britz zu Gast.

Heidemann geht es jedoch längst nicht nur um Klangkunst und Konzertantes. 2009 gründete der examinierte Lehrer die private Musikschule Klangwolke, in der Kinder das Musizieren mit Steinen und verschiedenen anderen Instrument erlernen können. Sehr spezielle Kurse wird es dagegen im Vorfeld des KiSeki-Konzerts im Museum Neu- kölln geben: „Ende November starten dort Workshops zum Musizieren mit Kiesel- steinen“, kündigt Jürgen Heidemann an. Er demonstriert mit zwei Exemplaren, dass die bei gekonnter Handhabung nicht nur einen Takt anschlagen, sondern auch höchst unter- schiedliche Töne von sich geben können. In erster Linie seien die Workshops jedoch ein Projekt zur Gewaltprävention, bei dem Kinder erfahren, dass Steine zu mehr als zu Wurfgeschossen taugen.

=ensa=

Dufte: Neukölln hat einen Dorfbackofen

Dass das Geklapper von Hufen durch die Straßen im Neuköllner Richardkiez schallt, ist für alle, die dort leben oder sich häufig dort aufhalten, längst nichts mehr, was Aufsehen oder -hören erregt. Schließlich gehören die Pferdekutschen des Fuhr- unternehmens Schöne seit jeher zum Viertel rund ums Böhmische Dorf und tragen dorfbackofen, reformierte bethlehemsgemeinde neukölln, ganghoferkiezatmosphärisch maßgeblich zum be- sonderen Charakter des Kiezes bei.

Noch recht neu ist hingegen, dass nun zuweilen Rührschüsseln und Kuchen- formen durch die Straßen getragen werden und der Duft frischen Backwerks hinter dem Turm der Ev.-ref. Bethle- hemsgemeinde in der Richardstraße aufsteigt. Dort entstand nämlich im Sommer auf Initiative von Pfarrer Bernd Krebs, weiteren Gemeindemitgliedern und des benachbarten Alphabetisie- rungsvereins Lesen und Schreiben ein Dorfbackofen, der Ende September erstmals feierlich angeheizt wurde.

„Dass es ihn gibt und er  von den Men- schen im Kiez  zum Backen von Brot und Kuchen benutzt werden kann, muss sich natürlich erst rumsprechen“, sagt Pfarrer Krebs. Derzeit würden Flyer gedruckt, die an Kitas, Schulen und andere Einrichtungen sowie Anwohner verteilt werden sollen, um den Bekanntheitsgrad des vom Quartiersmanagement Ganghoferstraße über Soziale Stadt-Mittel finanzierten Gemeinschaftsofens zu steigern. Immer  mittwochs werde er angeheizt – wenn zuvor Anmeldungen bei der Gemeinde (Tel. 030 – 687 25 39) eingegangen sind. „Ob jemand im QM-Gebiet oder zwei Straßen außerhalb wohnt, das sehen wir aber nicht so eng“, räumt Krebs ein. Seine Vision ist, den Dorfbackofen im Garten hinter dem Kirchsaal  zum Ort der Begegnung im Kiez  zu machen.

=ensa=

Alles nur wegen des Katers

Sie habe absolut nichts gegen Neukölln, das möchte die Enddreißigerin unbedingt festgestellt wissen. „Aber“, sagt sie, „ich hab eben auch jahrelang keinen Grund gehabt, mich im Kiez rund ums Rathaus aufzuhalten.“ Auf dem Türkenmarkt am May- bachufer sei sie manchmal, ab und zu auch im Süden des Bezirks in den Gropius Passagen, doch ansonsten kenne sie  – abgesehen von der Medienberichterstattung – vor allem das Souter- rain von Neukölln. Ihre Wohnung nahe der Jannowitzbrücke im Bezirk Mitte liege nur einen Katzensprung von der Station der U8 entfernt. Auf dem Weg in die Gropiusstadt steige sie dann am Hermannplatz in die U7 um und rausche unter Neukölln hindurch.

Vorgestern wurde das Gesetz der Serie erstmals durchkreuzt – wegen des Katers einer Freundin, die kürzlich vom Wedding in die Boddinstraße gezogen war und am Vortag wegen eines Blinddarmdurchbruchs ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Dunja B. erklärte sich daraufhin spontan bereit, solange bei ihr einzuziehen, um das Sitten des Wohnungstigers zu übernehmen. An der Station Rathaus Neukölln aus der U-Bahn zu kommen und plötzlich vor den gläsernen Neukölln Arcaden zu stehen, das sei schon ein Schock gewesen: „Da wurde mir schlagartig klar, wie lange ich schon nicht mehr in dieser Ecke von Neukölln gewesen bin, obwohl ich nur ’ne Viertelstunde entfernt wohne. Als ich zuletzt hier war, stand noch das Turnschuh-Haus.“ 13 Jahre ist es inzwischen her, dass das Gebäude an der Ecke Karl-Marx-/Flughafenstraße, auf dessen Seitenwand Gert Neuhaus sein Fassadenbild mit dem offiziellen Namen „Verschnürung“ gemalt hatte, abgerissen wurde.

Sie werde künftig weniger U-Bahn fahren, um mehr von den Veränderungen in Berlin mitzukriegen und sie selber zu erleben, hat die Interims-Neuköllnerin beschlossen.

=ensa=

Getrennte Wege

Mit dem Wind ist das ja so ’ne Sache auf dem Tempelhofer Feld: Nirgendwo anders in Berlin hat er so viel Platz, sich ungehindert auszutoben und seine ganze Kraft zu ent- falten. Kaum etwas stellt sich ihm auf der etwa 400 Hektar großen Fläche in den Weg – wenn man mal von Spaziergängern, Rad- fahrern, Skatern und anderen Besuchern des Grüns zwischen Neukölln, Tempelhof und Kreuzberg absieht.

Besonders willkommen dürften dem Wind dabei alle Erwachsenen und Kinder sein, die ihm etwas zum Spielen mit aufs Tempelhofer Feld bringen: Drachen in allen möglichen Farben, Formen und Größen, die mal mehr und mal we- niger unter Kontrolle zu bringen sind. Denn wenn der Wind launische Böen übers Feld jagt, kommen vor allem Kitesurfer ins Schwitzen und Trudeln. Da kann’s dann schon leicht passie- ren, dass der Drachen und das Rollbrett getrennte Wege einschlagen und vor der Weiterfahrt erstmal die ein- zelnen Bestand- teile der Ausrüs- tung wieder ein- gesammelt und sortiert werden müssen. Meist bleibt es da nur bei wenigen Augenblicken der Trennung.

Auf alles andere als ein Miteinander verschiedener Interessen scheint es dagegen der Berliner Senat in Sachen Tempelhofer Feld abzusehen: Insbesondere auf der Neuköllner Seite entlang der Oderstraße sei die zu bebauende Fläche ausgeweitet worden, heißt es. Damit bekommen der Kommunikationswissenschaftler Dr. Lothar Köster und seine Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“ eine steife Brise Rü- ckenwind: Sie planen ein Volksbegehren gegen die Bebauung des Geländes.

=ensa=

Auf eigene Faust auf Route 8

Niemals, sagen sie, wären sie auf die Idee gekommen, sich per Shuttle-Bus durch die 1. Lange Nacht der Wohnungsbesichtigungen kutschieren zu lassen: „Wie idio- 1. lange nacht der wohnungsbesichtigungen in berlin, neuköllntisch wäre das denn, mit der U-Bahn von der Gro- piusstadt zum Alex zu fahren, um von da aus wieder zurück nach Neukölln zu gurken?“ Die Aussicht, sich dann womöglich mit einer kompletten Busladung Menschen durch Treppenhäuser und Wohnungen schieben zu müssen, habe außerdem dazu bei- getragen, das Unternehmen Wohnungssuche völlig individuell anzugehen. Der Mittfünfziger zieht eine Papierrolle aus seiner Jackentasche, seine Frau eine Taschenlampe aus ihrer. In der Toreinfahrt zum Objekt in der Hermannstraße 224 ist es alles andere als hell. Das Ehepaar hat sich die Beschreibungen und Besichtigungszeiten der fünf Neuköllner Woh- nungen, die sie interessieren, im Internet ange- schaut und ausgedruckt: „In der Treptower Straße 14 waren wir gerade.“ Dummerweise hätten sie übersehen, dass der modernisierte Altbau keinen Balkon hat. Der Neubau an der Ecke Flughafenstraße hat eine Loggia – und sogar einen Aufzug. Das sei wegen der alten Dackeldame günstig, die ebenfalls 1. lange nacht der wohnungsbesichtigungen in berlin, neuköllnzur Familie gehöre.

Zwei Mitarbeiter der Immobilienfirma, die das Haus verwaltet, empfangen das Paar aus der Gropiusstadt und führen es durch die 2-Zimmer-Wohnung. Die Einbauküche gehöre zum Inventar, die Loggia gehe in Richtung Westen. „Und das hier“, kündigt der Makler an und öffnet die Tür zu einem etwa 1 Qua- dratmeter großen Abstellraum, „wäre perfekt für einen kleinen begehbaren Kleiderschrank.“ Ihr aktueller Schrank sei 3 Meter lang, deckenhoch und würde gerade mal so reichen, erfährt er. Spätestens nach der Begehung der Loggia ist für das Ehepaar klar, dass die Wohnung von der Liste der Objekte 1. lange nacht der wohnungsbesichtigungen in berlin, neuköllngestrichen wird, die in- teressant sein könnten: Wie solle man denn einen Balkon nutzen, der zwei Etagen über der Hermann- straße liegt? Auch unter dem angepriesenen „modern gefliesten Wannenbad“ und einem „gärtnerisch gestal- teten Innenhof“ hatten sich die beiden etwas anderes vorgestellt. „Das hier wirkt schon alles sehr nach Ladenhüter“, finden sie und beschließen, sich als nächstes die Wohnung am Britzer Damm 100 anzu- gucken.  Die habe drei Zimmer, eine Loggia zum Innen- hof und würde auch noch innerhalb des Warmmiete-Limits von 800 Euro liegen. Für zwei Studenten, die eine WG gründen wollen, gehört die Neubauwohnung in der Hermannstraße ebenfalls schon nach flüchtiger Begutachtung in die Kategorie „Geht gar nicht!“: Die Küche mit dem runden Erker sei ja nett geschnitten, dass alle Zimmer in Richtung Kreuzung lägen jedoch völlig unakzeptabel. Der Makler empfiehlt ihnen eine nur wenige Minuten entfernte 2-Raum-Altbauwohnung, die ebenfalls WG-geeignet sei. In einer halben Stunde beginne dort die Besichtigung.

1. lange nacht der wohnungsbesichtigungen in berlin, neuköllnDer Aufgang des Hauses in der Hermannstraße 73 wirkt gepflegt, ein Bewegungsmelder sorgt beim Betreten des Hinterhofs für dessen Ausleuchtung. „Fahrradständer sind hier, das ist schon mal prak- tisch“, stellt Daniel fest. Praktisch finden er und sein Kumpel Ben es auch, dass direkt nebenan ein Discounter und eine U-Bahnstation sind und es im Haus einen Döner-Imbiss gibt.

Die Wohnung in der 2. Etage hat abgezogene Dielen und ein modernes Bad und sammelt damit schnell 1. lange nacht der wohnungsbesichtigungen in berlin, neuköllnweitere Pluspunk- te. In der Küche verliert sie wieder einen, denn Platz zum Sitzen ist in dem schmalen L-förmigen Schlauch nicht. „WG-tauglich sieht anders aus“, finden die beiden Studenten nachdem sie sich die Zimmer angeguckt haben: das entschieden kleinere ist ruhig, weil es zum Hof geht, das größere hat 1. lange nacht der wohnungsbesichtigungen in berlin, neuköllneinen Balkon – über der Hermannstraße. Das mit der Baustelle sei bald erledigt, ver- spricht der Makler. „Dann haben wir in der Wohnung aber immer noch ein Platzproblem“, entgegnet Daniel. Ben stimmt ihm zu und untermauert damit, dass die beiden Studenten sicher nicht die neuen Mieter dieser Wohnung werden. Der Makler schlägt ihnen vor, sich noch das Objekt in der Warthestraße 73 anzusehen. Dort gäbe es zwar auch zwei Zimmer unterschiedlicher Größe, aber die Küche sei groß genug, um in ihr einen Esstisch zu stellen. Dass die Wohnung ebenfalls unter 600 Euro Warmmiete liegen würde, kommt als überzeugendes Argument hinzu.

Daniel und Ben holen sich noch Döner für 1,50 € als Proviant für den Weg in die Warthestraße. Der weiße Shuttle-Bus der Route 8 durch Neukölln fährt an ihnen vorbei, als sie kauend auf der Hermannstraße stehen. Das Bedauern darüber bleibt aus. Den hätten sie ganz bestimmt nicht nehmen wollen, geben die beiden zu, weil sie die Lange Nacht der Wohnungsbesichtigung angesichts des ohnehin schon angespannten Immobilienmarkts in Berlin grundsätzlich „voll daneben“ fänden: „Würden wir nicht dringend was suchen, würden wir das bestimmt nicht mitmachen.“ Auf Entertainer, die ihnen Neukölln und die Neuköllner erklären wollen, könnten sie dabei jedoch gut verzichten.

=ensa=

„Liebling Kreuzberg“ war, „Liebling Neukölln“ kommt!

Als sich die Diplom-Modedesignerin Miriam Blaich und die Grafik-Designerin Christine Hornicke im Frühjahr 2011 in Berlin auf einem der zahlreichen De- signmärkte trafen, konnten sie noch nicht ahnen, dass sie schon ein halbes Jahr später gemeinsame La- densache machen wür- den: „Miriam und ich haben uns schon gefunden, sprich gemerkt, dass wir gemeinsam in unserer Ar- beit wachsen und uns ge- genseitig inspirieren. Mi- riam hat drei Jahre allein ihren Laden no mimikri in Kreuzberg geführt, was zwar gut lief, aber der Spaß blieb ein wenig auf der Strecke. Ich dagegen hab im letzten halben Jahr versucht meinen kreativen Stil zu finden und hab nach jemanden gesucht, der die Erfahrung mitbringt meine Kreativität zu kanalisieren. So ergänzen wir uns.“

Kurzerhand wurde der Entschluss gefasst, gemeinsame Sache zu machen. Nur einen Tag später trugen der Zufall und viel Glück ein passendes Ladenlokal im Reuterkiez an die beiden heran: „Miriam ist auf der Straße einer Freundin begegnet, die erzählte, dass sie ihr Geschäft mit Vintage und Handgemachtem aufgeben will. Einen Tag später haben wir den Laden besichtigt und sofort zugesagt.“ Bei der Renovierung schlug die Mischung aus Zufall und Glück wieder zu. Unter der „relativ uninspirierend abgehängten Decke“ stießen Miriam Blaich und Christine Hornicke auf eine Altbaudecke mit Stuck: „Leider gab es neben dem Stuck auch etwa 13 teils große Löcher mit rausragendem Stroh, die uns anfangs große Angst gemacht haben. Jetzt sind wir aber besonders stolz, dass wir jedes Loch selber gestopft haben.“

Auch die Suche nach einem Namen für den gemeinsamen Laden ließ sich das kreative Frauenpower-Duo nicht aus der Hand nehmen. „Liebling Neukölln“ soll er heißen, das stand für die beiden schnell fest. Sie seien schließlich über 30 und  „Liebling Kreuzberg“, die An- waltsserie mit Manfred Krug, habe sie durch ihre Kindheit begleitet. „Aber natürlich funk- tioniert der Name auch ohne Serienkennt- nisse“,  ist Christine Hornicke überzeugt. „Unsere Produkte werden alle von uns selbst erdacht und gemacht, in allem steckt ein Teil von uns, und Neukölln gibt uns die Chance, damit Geld zu verdienen.“ Miriam wohne bereits seit sechs Jahren in Neukölln und habe den Wandel des Bezirks in den letzten Jahren miterlebt – mit all seinen Vor- und Nachteilen: „Ich dagegen bin noch recht frisch aus Hamburg her gekommen, und Neukölln empfinde ich bisher sehr willkommen heißend, oft natürlich auch rotzig, aber hier ist noch viel Raum sich auszuprobieren.“

Morgen feiert  „Liebling Neukölln“  von 12 – 19 Uhr seine Eröffnung: Außer Sekt und Leckereien gibt es dann in der Pflügerstraße 78 b einen Rabatt von 10 % auf Mode von no mimikri, gudbling-Schmuck, Wohnaccessoires von gudstav und illustrierte Papierwaren von OH JA OK.

Regulär wird der Laden von Dienstag bis Samstag zwischen 12 und 19 Uhr geöffnet sein.

=ensa=

Gekommen um zu bleiben

Natürlich könnten sie es so machen, wie schon viele Neuköllner Eltern es gemacht haben: Stand die Einschulung des Kindes bevor, verließen sie Neukölln und zogen in weniger verrufene Bezirke mit angeseheneren Schulen, um die Weichen für einen optimalen Start in die Bildungskarrie- re des Nachwuchses zu stellen.

Doch die über 20 Eltern, die schon jetzt zur noch jungen Initiative „Kiez- schule für alle“ gehören, haben an- deres vor: Sie wollen in ihrer ver- trauten Umgebung bleiben und sich zum Wohle ihrer Kinder in eben der für ein besseres Grundschulangebot engagieren. „Ich wohne seit vielen Jahren hier im Kiez“, sagt eine Mutter, meint damit den Schillerkiez und spricht aus, was alle in der Runde denken: Ihre Tochter werde 2012 eingeschult. „Aber wir wollen deshalb weder umziehen, noch wollen wir uns und dem Kind die tägliche Fahrerei zu einer weiter entfernten Schule zumuten!“

Zwei staatliche Grundschulen gibt es im Viertel: die Karl-Weise-Schule, die einen gebundenen Ganztagsbetrieb garantiert, und die Karlsgarten-Grundschule, eine ver- lässliche Halbtagsschule. Bei ersterer habe sie bereits hospitiert und festgestellt, dass die Schule, deren Angebote und die Lehrer okay seien, erzählt die Mutter. Einen großen Nachteil habe sie jedoch auch erkennen müssen: „Da sind wirklich viele Kinder aus bildungsfernen Familien.“ Für ihre Tochter wünsche sie sich definitiv ein Lernen in einem besser durchmischten Umfeld. Ein Vater hört sich die Bedenken, Erfahrungen und Begehren, die die Elternteile in der kurzen Vorstellungsrunde offenbaren, aufmerksam an. Sein Sohn gehe seit einigen Wochen in die Karl-Weise-Schule, berichtet er und verrät schmunzelnd: „Dafür müssen wir uns nun vor der Familie und Freunden ständig rechtfertigen. Insofern hab ich einerseits ein Selbst- verteidigungsinteresse am Thema dieser Initiative, andererseits aber auch ein Anliegen: Schickt eure Kinder zur Weise-Schule!“

Das liegt auch im Interesse von Tanja van Hal, die als Lehrerin dort tätig ist. Eine bessere Durchmischung der Schüler- schaft sei auch seitens der Schule sehr erwünscht, bestätigt sie und erläutert den Anwesenden die Praxis des jahrgangs- übergreifenden Lernens (JÜL), den Ganz- tagsbetrieb, die jüngst an der Schule ein- geführte Begabtenförderung sowie einige der angebotenen Projekte. Ihre Kollegin Anja Kieffer betreut als Erzieherin im Tandem mit der Lehrerin die Klassen. „Ich bin wirklich glücklich über die Initiative und darüber, dass es immer mehr engagierte Eltern im Kiez gibt, die ihre Kinder hier zur Schule schicken wollen“, sagt sie.

Für die, denen das im nächsten Jahr bevorsteht, drängt die Zeit: In der letzten Oktober- und der ersten Novemberwoche muss die Entscheidung für die in 2006 Geborenen gefallen sein und die Anmeldung erfolgen. Auf  über ein halbes Dutzend Kinder der versammelten Eltern trifft das zu. Grundsätzlich sei sie von der Karlsgarten-Grundschule positiv überrascht gewesen, erzählt die Mutter eines Fünfjährigen und verweist auf das dort angesiedelte SINUS-Transfer-Projekt, das einen Schwerpunkt auf Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer legt. Nur: „Vom Hort der Schule kann man wirklich nicht begeistert sein.“ Andere stimmen dem Eindruck zu, das Schlagwort „Kinderaufbewahrung“ fällt. Susann Worschech, eine der Urheberinnen der Initiative „Kiezschule für alle“, denkt laut über die Möglichkeit einer Schülerladen-Gründung als Hort-Alternative nach. Doch den auf die Schnelle aus dem Boden stampfen zu wollen, wäre unrealistisch – und den Eltern geht es eindeutig ums Machbare.

Welche Wünsche haben wir an eine Schule? Was sind Ängste und was begründete Bedenken bei der Auswahl der Schule? Wie ist es um die Kooperationsbereitschaft der Schulen bestellt? Wie würden sie beispielsweise auf die Forderung reagieren, eine größere Gruppe von Kindern der Initiative geschlossen in einem Klassen- verband zu beschulen? Das sind die Fragen, die akut zu klären sind, finden sie.

Die Initiative „Kiezschule für alle“ trifft sich am 31. Oktober um 20.30 Uhr wieder; der Ort steht noch nicht fest, kann aber per E-Mail an kiezschule-fuer-alle[ätt]gmx.de erfragt werden. Weitere engagierte Eltern sind herzlich willkommen.

=ensa=

Nachspiel als Vorspiel

Könnte die Glücksgöttin Fortuna, die auf dem Turm des Neuköllner Rathauses steht,  den Kopf schütteln, würde sie es seit gestern tun – gelangweilt und ange- widert von den Machtspielen, die nun weit unter ihr in die nächste Runde gehen sollen.

Nach konstruktiven Gesprächen hätten die Kreisverbände der Neuköllner SPD und CDU eine Zählgemeinschaft zur Wiederwahl von Heinz Buschkowsky zum Bezirksbürgermeister vereinbart. Zudem seien die Geschäftsbereiche im Bezirksamt Neukölln neu strukturiert worden, teilte das rot-schwarze Interes- senbündnis mit und benannte auch gleich – bis auf eine Ausnahme – die Abteilungsleiter:

Buschkowsky (SPD) werde weiterhin die Abteilung Finanzen und Wirtschaft (mit Steuerungsdienst, Facility Management und Ordnungsamt) leiten, Franziska Giffey (SPD) auch künftig das ebenfalls unveränderte Ressort Bildung, Schule, Kultur und Sport (mit Schulstationen und dem Bereich der Europabeauftragten).

Die Zuständigkeit von Thomas Blesing (SPD), des alten und neuen Stadtrats der Abteilung Bauen, wird um die Bereiche Natur und Bürgerdienste (mit Quartiers- management) erweitert. Auf den Visitenkarten von Falko Liecke (CDU), bisher für das Ressort Bürgerdienste und Gesundheit verantwortlich, steht fortan Bezirksstadtrat für Jugend und Gesundheit.

Gänzlich neu ist, dass der Bereich Soziales (mit Trägerangelegenheiten JobCenter), der bislang zusammen mit Wohnen und Umwelt verwaltet wurde, nun zur separaten Abteilung wird – und die sollen, nachdem die SPD und ihr Juniorpartner CDU wie in einem Selbstbedienungsladen bei den Bezirksamtsposten zugegriffen haben, die Neuköllner Grünen übernehmen. Von der ehemaligen Jugendstadträtin Gabriele Vonnekold (Grüne), die von ihrer Partei als Stadtrats-Kandidatin benannt wurde, ist ausdrücklich nicht die Rede: Sie könne nicht erwarten, so die gestern veröffentlichte Presse-Info, „dass SPD und CDU ihr aufgrund der gewonnenen Erfahrungen erneut das Vertrauen für eine pflichtgetreue Amtsführung aussprechen werden. Beide Parteien  stellen den Grünen jedoch anheim, eine alternative Personalentscheidung zu ermöglichen.“

Ein Vorschlag, dem Vorstand und Fraktion der Neuköllner Grünen noch gestern prompt eine Absage erteilten:  „SPD und CDU missachten mit dieser Ankündigung das Vorschlagsrecht der Grünen. Das ist der Höhepunkt einer Reihe von Diffamierungsversuchen gegen die Grüne Stadträtin und die Grüne Partei. Gabriele Vonnekold wurde mit großer Mehrheit als Kandidatin für die Bezirksamtswahl von den Grünen Neukölln nominiert. Zu dieser Nominierung stehen wir auch weiterhin und werden Gabriele Vonnekold am 27. Oktober 2011 der BVV zur Wahl vorschlagen“, stellten sie ihrerseits in einer Presse-Information klar.

Es wird also stürmisch zugehen beim Start in die neue Legislaturperiode der Neu- köllner Bezirksverordnetenversammlung.  Im Sinne der Fortuna ist das sicher nicht.

=ensa=

In den Startblöcken

Genau ein Monat ist seit der Wahl vergangen, die über die neue Zusammensetzung des Berliner Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen entschied. Noch acht Tage dauert es bis zur ersten öf- fentlichen und zugleich konstituierenden Sit- zung der Neuköllner BVV: am 27. Oktober um 17 Uhr ist es soweit.

Während die künftig im Rathaus Neukölln vertretenen Fraktionen in ihrer Phase der Findung und des Auslotens unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagten, machten die neu in die BVV eingezogenen Mitglieder der Piraten-Partei ihre Ankündigung einer Transparenz-Offen- sive wahr. In der öffentlichen konstituierenden Sitzung am vergangenen Mittwoch (Protokoll: hier) wurde Steffen Burger zum Fraktions- vorsitzenden gewählt.

Fest steht inzwischen auch, wie die von sechs auf fünf gestutzten Stadtratsposten im Neuköllner Bezirksamt personell besetzt werden: Heinz Buschkowsky, Dr. Franziska Giffey und Thomas Blesing werden per SPD-Ticket Ressorts leiten, auch Gabriele Vonnekold wurde in einer parteiinternen Wahl der Neuköllner Grünen erneut als Bezirksstadträtin bestätigt. Für die CDU Neukölln wird mit Falko Liecke ebenfalls ein Routinier die Spitze eines Geschäfts- bereichs im Bezirksamt übernehmen. Lieckes Parteikollege Michael Büge hat – als Konsequenz für das schlechte Wahlergebnis – auf eine abermalige Kandidatur für einen Stadtratsposten verzichtet, bleibt der Neuköllner  Lokalpolitik aber als CDU-Kreis- und neuer  Fraktionsvorsitzender erhalten. Wer welche Abteilung leiten wird, ist indes noch unklar: Über die Verteilung der Zuständigkeitsbereiche soll dieser Tage entschieden werden.

=ensa=

So long, Longs Laden!

Was gibt’s Neues? Das werden sich heute viele fragen, die die kompletten Herbst- ferien genutzt haben, um sich fernab Berlins vom Alltag in Neukölln zu erholen. Schülern des Ober- stufenzweigs der Evangelischen Schule Neu- kölln dürfte bereits auf ihrem Weg von der U-Bahnstation Leinestraße zur Schillerprome- nade ein Novum aufgefallen sein: In der Oker- straße gibt es Longs Laden nicht mehr!

Viel Zeit hatten Anwohner und Passanten nicht, sich an das Geschäft zu gewöhnen. Zwei Mona- te, dann war wieder Schluss. Etwas zu kaufen, was nun im Kiez fehlt, gab es dort auch nicht, denn der Laden von Herrn Long war gar kein Geschäft, sondern lediglich Kulisse für den spielfilm longs laden, diplomfilm, regie andreas scheffer, hff hochschule für film und gernsehen konrad wolf, neuköllnSpielfilm „Longs Laden“. Das er- schloss sich aller- dings nicht jedem auf Anhieb: „Die Nachbarn waren zum allergrößten Teil von unserem Laden sehr ange- tan und wollten wiederholt tatsächlich bei uns ein- kaufen“, erzählt Regisseur Andreas Scheffer, der mit dem 90-minütigen Streifen seinen Diplomfilm für die Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf (HFF) abliefert. „Selbst ältere Damen aus der Nachbarschaft haben am Ende ihr Bedauern ausgedrückt, dass wir spielfilm longs laden, diplomfilm, regie andreas scheffer, hff hochschule für film und gernsehen konrad wolf, neukölln, ladenauflösungjetzt wieder ver- schwinden werden.“ Überhaupt seien die Erfahrungen sehr positiv gewesen, die das Filmteam mit den Leuten im Schillerkiez ge- macht habe.  „Es gab eine große Hilfsbe- reitschaft hier und da mal kurz mit anzufassen, ein Auto umzuparken, für uns durchs Bild zu laufen oder Renovierungen für die Dauer einer Szene kurz zu unterbrechen“, schwärmt der Regisseur. „Ich fand’s auch toll, wie umkompliziert viele Dinge möglich waren, ohne dass man darüber lange hätte diskutieren müssen.“ Dass der Bürgersteig vor dem Laden ob des Filmequipments oft zum Hindernisparcours wurde, störte nur wenige. spielfilm longs laden, diplomfilm, regie andreas scheffer, hff hochschule für film und gernsehen konrad wolf, neukölln, schlussszeneNicht mal die Rangiererei mit einem großen Reisebus, die für die Schlussszene in der Okerstraße erforderlich wurde und den Verkehr zum Stocken brachte, erzürnte die Gemüter. Gut möglich, dass auch ein wenig Stolz und Vorfreude darauf im Spiel war, den eigenen Kiez im Fernsehen oder Kino wiedersehen zu können.

Zwar werde die Location nicht inhaltlich oder in Dialoge thematisiert, doch man könne bestimmt erkennen, dass der Film „zum allergrößten Teil in Neukölln ge- dreht“ wurde, ist Andreas Scheffer sicher.  Den Löwenanteil werden de facto die spielfilm longs laden, diplomfilm, regie andreas scheffer, hff hochschule für film und gernsehen konrad wolf, neukölln, ladenauflösungSzenen im und vor Longs Laden aus- machen, dazu kamen Außendrehs auf der Schillerpromenade und dem Tempelhofer Feld. Nach 27 Drehtagen in der Oker- straße war die letzte Szene im Kasten, seit dem Ausverkauf der Ladeneinrichtung steht das Geschäft wieder leer. „Leider“, so Andreas Scheffer, „hat sich niemand gefunden, der bei der Möglichkeit zu- greifen wollte, unsere Kulisse als Laden weiterzuführen. Wir wären sogar bereit gewesen, unser Filminventar dafür zur Verfügung zu stellen. Also haben wir die Ladeneinrichtung dann schweren Herzens spielfilm longs laden, diplomfilm, regie andreas scheffer, hff hochschule für film und gernsehen konrad wolf, neuköllnwieder abgebaut.“

Während rund um Longs Laden wieder der Alltag ohne Scheinwerfer und Kameras ein- gekehrt ist, geht für Scheffer und sein Team die Arbeit am Film in die nächste Phase:  Dem Schnitt werden „zeitaufwändige Etappen wie die Tonnachbearbeitung, Musikkomposition, Ton- mischung und Farbkorrektur“ folgen. „Mit der Fertigstellung des Films ist realistischerweise nicht vor dem Sommer 2012 zu rechnen“, kalkuliert der Regisseur. Die Fortschritte wie auch Rückblicke auf die Dreharbeiten können bis dahin auf der Facebook-Seite von „Longs Laden“ verfolgt werden.

Schon jetzt steht für das Team fest, dass der Film unbedingt im Neuköllner Schiller- kiez vorgeführt werden soll: „Danach sind wir auch immer wieder gefragt worden.“ Die direkt neben dem Drehort gelegene Wohnzimmer-Café-Bar „Frollein Langner“ böte sich dafür an, meint Andreas Scheffer: „Wenn das vom Platz her nicht ausreichen sollte, wäre aber sicherlich auch eine Vorführung in einem lokalen Kino möglich.“

=ensa=

Neuköllner Hängepartien

Zwar wissen auch die Neuköllner durch den inflationären Zuzug von Straßencafés längst, dass Hindernisse auf Bürgersteigen sinnvollerweise links oder rechts zu umgehen sind. Trotzdem geht mancher Dienstleister oder Einzelhändler mit seinen Exponaten doch lieber auf Nummer sicher.

Hinter den Erwartungen zurück: die „Route der Migration“ auf dem Tempelhofer Feld

„Ditt soll allet sein?“ Der Rentner aus Neuköllns Nachbarbezirk Treptow ist einmal um den knallroten Container gestapft, der seit einigen Tagen auf dem Tempelhofer Feld steht. „Ist ja sehr dünne!“, sagt er zu seiner Frau, die ihm zustimmt. Sie habe sich auch mehr darunter vorgestellt, räumt sie ein. Von Videos und Öffnungszeiten zwischen 11 und halb 6 habe sie irgend- wo etwas gelesen. Es ist Freitagnachmittag, und der rote Container, der einer von vier Punkten auf der Route der Migration ist, ist fest verschlossen.

Ein knappes Dutzend Texttafeln mit historischen Fotos vom Tempelhofer Feld und von  Migranten, die hier ankamen, als das Areal  noch ein Flughafen war, ist  auf einer

 

Seite der so genannten Gedächtnisbox angebracht. Die Neuköllner Zeichnerin Anna Faroqhi hat für die Gestaltung einer anderen Seite einen Comic namens „Tor zur Welt“ beigesteuert. Mehr hat diese Station auf der Route der Migration nicht zu bieten.

„Eigentlich wollten wir heute alle vier Punkte der Route besuchen“, sagen die beiden Treptower. Nach dem enttäuschenden Auftakt auf dem Tempelhofer Feld haben sie umdisponiert: „Da gehen wir doch lieber hier noch ein Stück spazieren und dann Kaffee trinken.“

=ensa=

Zeitreise statt Durchblick an einem Neuköllner Schaufenster

Sie sind ein sensibles Völkchen: diejenigen, die Neukölln vor den Auswir- kungen ganz normalen Lebens (sprich: Verände- rungen) schützen wollen. Schon wer einen Farb- eimer, mehrere Laminat-Gebinde oder Designer-Armaturen aus dem Koffer- raum wuchtet, um die eigene Wohnung etwas aufzuhübschen, gerät leicht in den Verdacht, die Aufwertung beschleunigen zu wollen.

Noch heikler ist es, wenn plötzlich die Rollläden vor den Fenstern und Türen lange oder noch länger abgeschotteter Gewerbe-Immobilien verschwinden und im Laden Renovierungsarbeiten zu erkennen sind. Dann fährt der Puls der Gentrifizierungs- paranoiker Achterbahn. Dass in diesem Zustand äußerster Erregung nicht mehr darauf  geachtet werden kann, dass – wie im Fall des ehemaligen Nogat Stübchens

nogat stübchen neukölln, bz 31.7.1974

eine BZ-Ausgabe vom 31. Juli 1974 an den Schaufenstern klebt, die Wiederbelebung der Immobilie also ökonomisch wie bausubstanziell mehr als überfällig sein sollte, ist bedauerlich – und doch irgendwie verständlich.

=ensa=

Ein Mann – ein Ort: Der Neuköllner Kazim Erdogan und sein Heimatdorf Gökçeharman

Kazim Erdogan war 20, als er sein im tiefsten Zentralanatolien gelegenes Heimat- dorf  Gökçeharman verließ und nach dreitägiger Busfahrt via Istanbul und München in Berlin am Bahnhof Zoo an- kam. Es war im Februar 1974. Gökçeharman hatte damals weder eine Schule noch Strom; die rund 360 Einwohner bestritten ihren Lebensunterhalt vorwie- gend durch Landwirtschaft und Viehzucht. Erdogans Vater gehörte zu den we- nigen, die eine Stelle als Bahnarbeiter bei der etwa 5 Kilometer entfernten Eisenbahnlinie gefunden hatten. Ein Glücksfall, der dem Jungen den Besuch eines Internats in Erzurum ermöglichte: Am Ende der Schul- ausbildung hatte Kazim Erdogan als erster Gökçeharmaner überhaupt das Abitur in der Tasche. Die Aufnahmeprüfung an der Universität von Ankara schaffte er problem- los, das Studium dort an- zutreten scheiterte an den finanziellen Möglichkeiten.

In Berlin Psychologie und Soziologie studieren und dann wieder zurück in die Heimat, um den Lands- leuten zu helfen, das war der Plan, mit dem der Sohn an-alphabetischer Eltern nach Deutschland gekommen war. 1979, als Kazim Erdogan sein Studium absolviert hatte, verhinderte die Regierungsbildung durch Nationalisten die Rückkehr in die Türkei. Später lernte er seine Frau kennen, bekam mit ihr zwei Töchter und schlug nicht nur familiäre, sondern auch berufliche Wurzeln in Berlin. Eine Erfolgsgeschichte, die seit 2003 insbesondere in Neukölln geschrieben wird.

Eine gänzlich andere Entwicklung nahm jedoch Erdogans Heimatort Gökçeharman,  das derzeit mit einer sehenswerten Ausstellung im Neuköllner Leuchtturm eine sehr persönliche Würdigung er- fährt. „Wir waren ja erst wirklich skeptisch, als Kazim uns fragte, ob er Fotos, die er vor 30 Jahren in seinem Dorf gemacht hat, bei uns ausstellen kann“, erinnert sich Karen-Kristina Bloch-Thieß, die – zu- sammen mit ihrem Mann – das Creativ-Centrum im Körnerkiez vor knapp sechs Jahren ein- richtete. Als sie dann die Bilder sahen, war nicht nur die Skepsis dahin, sondern auch die Gewissheit da, dass das Fotografieren ebenfalls zu Kazim Erdogans Talenten gehört.

Es sind fast 70 eindrucksvolle Fotos, die Gökçeharman und die Landschaft Zentralanatoliens porträtieren und von den Menschen erzählen, die dort in einfachsten Verhältnissen lebten. Etwa 80 Häuser standen damals in dem Dorf, das erst Mitte der 1970er Jahre zu einer Grundschule kam und zehn weitere Jahre auf die Anbindung ans Elektritizitätsnetz warten musste. Viele der Einwohner hatten Gökçeharman  seinerzeit  bereits ob  der unzumutbaren  Lebensbedingungen verlas-

sen und sich eine neue Existenz in türkischen Städten oder anderen Ländern und Kontinenten aufgebaut. Von der gesamten Ansiedlung sind heute nur noch zwei Häuser übrig.

Kazim Erdogan wird demnächst erneut in sein weitgehend verwaistes Heimatdorf aufbrechen. Mit einem Plan im Gepäck, den andere höchstwahrscheinlich nicht mal zu äußern wagen würden – aus Angst, für verrückt erklärt zu werden: Der 58-jährige Neuköllner will Gökçeharman wieder auf- bauen und zu neuem Le- ben erwecken, am ersten Haus werde schon ge- werkelt. Wer den umtriebi- gen Initiator der Sprach- woche Neukölln, von Ge- sprächsgruppen für türki- sche Männer und diversen anderen Projekten auch nur ein wenig kennt, ahnt, dass es mehr als eine fixe Idee ist, sondern dass er viel dafür tun wird, sie zu realisieren.

Die Fotoausstellung „Kazim Erdogan und sein Dorf Gökçeharman“ ist noch bis zum 28. Oktober im Creativ-Centrum Neuköllner Leuchtturm in der Emser Straße 117 zu sehen. Geöffnet ist von mittwochs bis freitags zwischen 14 und 19 Uhr.

=ensa=