Spektakulärer Rekordversuch zum 50. Geburtstag

Es ist ein wunderbarer sonniger Herbst- tag. Wie in längst vergangenen Tagen gelangt man über das General Aviation Terminal (GAT) aufs Tempelhofer Feld. Der Blick fällt zuerst auf den „Troop Car- rier“ mit der Nummer 5557, dann allerdings auf sieben Bomben- attrappen und eine kleine Menschengruppe vor dem Transparent mit der Aufschrift „Pyro- World – Europäische Fach- und Consu- mer Messe für Pyrotechnik“: Der Mes- severanstalter hat zur Pressekonferenz auf dem ehemaligen Flughafen Tempel- hof geladen.

Wie von Pyro-World-Chef Christian Dett- mer, einem staatlich geprüften Feuer- werker, sowie Thomas Wagner und Udo Neumann von der Bavaria Fireworks zu erfahren ist, können sich Feuerwerksfans freuen, denn am zweiten November-Wochenende findet erstmals eine Messe zur Pyrotechnik hier auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof statt. Aussteller aus aller Welt werden im Hangar 5 und auf dem Vorfeld ihre Feuerwerksprodukte präsentieren. Wohlgemerkt, hier geht es nicht um Sil- vesterböller und -raketen, sondern um hochkarätige Pyrotechnik mit Insider-News im Trade-Bereich. Dazu wird es allgemein verständliche Informationen für die Öffentlichkeit geben, die sich für Feuerwerke und insbesondere den sicheren Umgang mit pyrotechnischen Artikeln interessiert. Begleitet wird die Messe von täglich bis zu vier Feuerwerk-Shows, die nicht nur auf dem Tempelhofer Feld und bis nach Neukölln, sondern weit über die Stadt zu sehen sein werden.

Als Highlight konnte die international renommierte Vulcan International Pyrotechnics Ltd. für eine Eröffnungs-Feuerwerks-Show der Superlative gewonnen werden. Krönender Abschluss wird eine große Party mit musikalischen Live-Acts und einem Rekordversuch sein: Die Bavaria Fireworks will die größte jemals in Europa geschossene Kugelbombe 600 oder besser noch 800 Meter hoch in den Himmel katapultieren. Einen Durchmesser von 96 bis 97 Zentimetern und ein Gewicht von mindestens 350 Kilogramm wird sie haben.

Von Udo Neumann, der am Tag des Rekordversuchs seinen 50. Geburtstag feiern wird, erfahre ich weitere Einzel- heiten. Die “Abschussrampe” wird ein Mörser, aus Glasfaser verstärktem Kunststoff (GFK) sein. Der muss – wie die Bombe selbst – erst noch ange- fertigt werden. Die Profi-Feuerwerker mutmaßen, dass er circa 2 Meter lang sein wird, die Wanddicke wird min- destens 12 Zentimeter betragen, sein Innendurchmesser 1.000 Millimeter, also etwas größer als die Bombe sein. Dieses Etwas trägt wesentlich zum Gelingen des Versuchs bei. Ist der Ringspalt zu klein, könnte die Hülle der Bombe, die aus Pappmaché besteht, Schaden nehmen, ist er zu groß, wird die gewünschte Höhe nicht erreicht. Der GFK-Mörser wird ein Gewicht haben, das nur noch mit einem Kran zu bewältigen ist; von dem wird er dann in ganzer Länge ins Erdreich versenkt.

Die Bombe selbst muss so konstruiert sein, dass sie zum Einen so leicht wie möglich ist, um die optimale Höhe zu erreichen, zum Anderen so stabil sein, das gesamte „Innenleben“ zusammenzuhalten. Das wiederum besteht aus einer Vielzahl von Einzelbomben. Demzufolge bedarf es dreier exakt aufeinander abgestimmter Zündungen: Die erste wird die Beschleunigung der Gesamtkugel bewirken, die zweite die Einzelkugeln auseinandertreiben und die dritte schließlich dann die eigentlichen Effekte bewirken. Der Wirkungsdurchmesser soll rund 500 Meter be- tragen. Das hat es in Europa noch nicht gegeben.

Auf die Frage, was dieser Versuch kosten wird, werden Zahlen genannt, die bis zu 50.000 Euro reichen. Man mag zu solchen Experi- menten stehen, wie man will –  wer die Begeiste- rung  von Thomas Wagner, Christian Dettmer und Udo Neumann (v. l. n. r.) erlebt hat, kommt nicht umhin, selbst zumindest ein we- nig neugierig gemacht worden zu sein.

=kiezkieker=

Weshalb im Neuköllner Ortsteil Neubritz das Braune nicht mehr ins Blaue kommt

Würde es wirklich Glück bringen, in Hundehaufen zu treten, müssten in Berlin die hundekotbeutel proneubritz e.v., neukölln, foto: gabriele kantel, schockwellenreiterglücklichsten Menschen Deutsch- lands leben. Bei über 20.000 Tonnen, die jährlich hinten aus den rund 150.000 Berliner Hunden fallen und auf Bürgersteigen, Parkwegen und in Grünanlagen liegen bleiben, stehen die Chancen schließlich mehr als gut, mitten in einer Tretmine zu landen.

Die Hundehaufendichte im Neuköll- ner Ortsteil Neubritz zu reduzieren, das hatte sich der proNeubritz e. V. in den vergangenen 2 1/2 Jahren auf die Fahnen geschrieben. Sieben Dogstations richtete der Verein in Zusammenarbeit mit der Stadt & Hund gGmbh in den Straßen im Viertel zwischen Kranold- und Jahnstraße ein und bestückte die Tütenspender regelmäßig mit neuen blauen Hundekotbeuteln. Etwa 100.000 Hinterlassen- schaften, beziffert der proNeubritz e. V., seien jährlich eingetütet in den orange- farbenen BSR-Abfalleimern entsorgt worden.

Damit ist es nun vorbei: Am 15. September wurden die Dogstations zum vorläufig letz- ten Mal befüllt. Denn der kleine aktive Verein hat kein Geld mehr, für Nachschub zu sorgen. Zwischen 200 und 300 Euro wären pro Tütenspender und Jahr nötig, um Hundehaltern kontinuierlich griffbereites Verpackungsmaterial für den Dreck ihrer Vierbeiner anbieten zu können, schätzt der proNeubritz-Vorstandsvorsitzende Bertil Wewer. Bisher sei das durch private Spenden gestemmt worden; das Nachfüllen der Stationen übernahmen ehrenamtliche Patinnen und Paten: „Meist Leute, die selbst einen Hund haben und abends beim Gassi-Gehen ‚ihre‘ Box bestückten.“ Einmal pro Woche, sagt Wewer, sei das wenigstens fällig gewesen.

Um den neuen Sauberkeitsstandard erhalten zu können, versuchte der Verein im Kiez angesiedelte Hotels und Firmen mit Publikumsverkehr als Sponsoren für die Aktion zu gewinnen – erfolglos. „Die fanden die Idee auch meist gut“, so Bertil Wewer. Doch mehr Einsatz als ein Lippenbekenntnis habe letztlich keines der angesprochenen Unternehmen gezeigt.

Dabei darf das Betreiben von Dogstations im Sinne eines saubereren Umfelds durchaus als effektiv bezeichnet werden: Wo ausreichend Beutelspender be- reitstehen, schätzt man bei Stadt & Hund, erhöht sich die Zahl der Hundehalter, die die Hinterlassenschaften von Bello und Konsorten eintüten, von etwa 15 Prozent auf das über Vierfache.

=ensa=

Hochstapler in Neukölln auf frischer Tat ertappt

Das geheimnisvolle Unbekannte hinterm Zaun

Normalerweise laufen Baumaßnahmen, bei denen ein öffentliches oder gewerb- liches Gebäude entstehen soll, ja eher so ab: Das Grundstück wird eingezäunt, mit kleinen Schildern bestückt, die den Zutritt verbieten, und noch bevor Bagger, Kräne und Bauarbeiter in Aktion treten informiert eine unübersehbare Hinweistafel darüber, was auf dem Gelände im Werden begriffen ist. Vergleichsweise nebulös gibt sich da die 3.200 Quadratmeter große Baustelle auf dem Areal der ehemaligen Kindl-Brau- erei. Informationen … Fehlanzeige, obwohl schon seit Wochen heftig gewerkelt wird.

„Da kommt doch ’ne Privat-Universität hin“, ist ein Passant überzeugt, der mehrmals wöchentlich an der Baustelle vorbei zum benachbarten Supermarkt geht. „Das gibt bestimmt ’n Wohnhaus mit Luxusappart- ments“, befürchtet eine Frau, die gerade einen Termin gegenüber im JobCenter Neukölln hatte. Ein Mann beobachtet das Treiben auf der anderen Seite des Zauns eine Weile. „Was das wohl wieder wird?“, fragt er sich und hofft, dass das geheim- nisvolle Etwas nicht zu hoch wird – wegen des Panoramablicks aus seiner Wohnung am Boddinplatz. Den Wasserturm in der Leykestraße würde er auch weiterhin gerne sehen können.

Die Chancen stehen außerordentlich gut, obwohl der Wasserturm nur 40 Meter misst. Das Dialysezentrum, das vom Kuratorium für Dialyse und Nierentrans- plantation (KfH) in der Sichtachse errichtet wird, ist jedoch nicht mal halb so hoch. Fast 60 Dialyseplätze sollen bei der Eröffnung im Frühjahr 2013 in dem zwei- geschossigen Gebäude, das dann das KfH-Nierenzentrums an der Sonnenallee ersetzt, bereitstehen. „Was und wie hoch direkt nebenan auf dem jetzigen Trö- delmarkt gebaut wird, wissen wir auch noch nicht“, sagt Angelika Hinz, die kauf- männische Betriebsstättenleiterin des KfH-Projekts.

Während also hinsichtlich des Neubaus auf dem Kindl-Areal doch Klarheit herrscht, steckt die Zukunft der benachbarten ehemaligen und teils denkmalgeschützten Brauereigebäude noch in einer Gemengelage aus Fakten, Planungen und Visionen. Sicher ist, dass sie an den Schweizer Burkhard Varnholt und seine Frau verkauft wurden. Gewiss ist, dass in den Räumlichkeiten noch einiges auf den technisch neuesten Stand gebracht werden muss, bevor sie neu genutzt werden können – von wem und für was auch immer.

Das Warten auf ein Hinweisschild, das Interessierten Details über den Bau des Nierenzentrums verrät, dürfte dagegen recht bald ein Ende haben. Die Infor- mationstafel fehle nur deshalb noch, so Angelika Hinz, weil vom Bezirksamt Neukölln noch keine Genehmigung für die Aufstellung vorliegt. Die Verzögerung,  vermutet sie, läge sicher daran, dass das Wegstück zwischen dem REWE-Markt und dem künftigen Dialysezentrum kurzerhand zur Rollbergstraße ernannt wurde: „Dass unsere Adresse Rollbergstraße statt wie geplant Mainzer Straße ist, haben wir auch erst vor einer Woche erfahren.“

=ensa=

„Arbeit in Neukölln“: Eine Ausstellung zeigt Schritte auf dem Weg von Möglichkeiten zu tatsächlichen Chancen

Als Galerie bezeichnet man Räum- lichkeiten, die für die Präsentation von Werken der Bildenden Kunst genutzt werden. In der Galerie im Saalbau in Neukölln ist das grundsätzlich nicht anders. Oft steht bei den dortigen Ausstellungen aber ein anderer As- pekt mindestens gleichwertig neben dem künstlerischen: der soziokultu- relle. Ein Paradebeispiel dafür ist die aktuelle Ausstellung mit dem Titel „Arbeit in Neukölln – Neue Einsichten und Aussichten“, die Freitag eröffnet wurde und gewissermaßen mit Fotos, Statements, Objekten und Audio-Interviews das gleichnamige Projekt des Lesen und Schreiben  (LuS) e. V. dokumentiert, das  ge- ringqualifizierte Langzeitarbeitslose in Kontakt mit neun Neuköllner Arbeitgebern bringt – vom Marzipanhersteller Moll über die Blechschilder-Fabrik Plakat-Industrie bis hin zum Beherbergungsbetrieb Hüttenpalast.

„Tolle, spannende Fotos“ seien es, die nun in der Galerie im Saalbau zu sehen sind, sagte Kulturamt-Chefin Dorothea Kolland bei der Vernissage – und dem ist un- bedingt zuzustimmen. Nicht minder spannend als die Ergebnisse, die der Fotograf Nick Großmann und die Projektteilnehmer als Amateur-Fotografen lieferten, sind jedoch die Vorgeschichten. Eine spielte sich im 1904 gegründeten Neuköllner Familienunter- nehmen Plakat-Industrie ab:

„Klar“, gibt Geschäftsführer Heiko Buettner zu, „ist der Kontakt mit An-Alphabeten erstmal eine Begegnung mit einer fremden Welt.“ Youssef N. war es, der sie ihm näherbrachte und im Ge- genzug einen Blick hinter die Kulissen des re- nommierten Blechemballagen-Herstellers wer- fen durfte. Seine Eindrücke geben nun sehr gelungene Fotos und ein Interview mit Heiko Buettner wieder. „Zeugnisse waren für mich schon immer Schall und Rauch“, sagt der Herr über 30 Arbeitsplätze. Seine eigenen seien auch oft nicht so doll gewesen. „Entscheidend ist das Zwischenmenschliche“, findet er. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und ordentliches Arbeiten erwarte er von seinen An- gestellten: „Und wenn man wie Youssef Offsetdrucker oder Druckvorlagenhersteller werden will, braucht man selbstverständlich auch ein gutes Auge.“ Buettner will dem jungen Mann unbedingt die Chance geben, den Wunschberuf einem Realitäts-Check zu unterziehen. Der nächste Schritt sei ein dreiwöchiges Praktikum, für das Youssef sogar ein kleines Taschengeld bekomme. „Wenn er sich da bewährt und feststellt, dass ihm die Branche gefällt, steht einer Ausbildung in unserem Betrieb nichts im Weg“, versichert Heiko Buettner. Problematisch könne es natürlich in der Berufsschule mit Youssefs Defiziten im Bereich des Lesens und Schreibens werden, ahnt er, doch da werde sich bestimmt eine Lösung finden lassen.

Auf Erfolgsgeschichten wie diese hatte Ingan Küstermann gehofft, die das durch PEB-Fördermittel finanzierte Projekt „Arbeit in Neukölln“ für den Alphabetisierungsverein LuS ins Leben rief und leitet. „Dass Firmen die Tore für unge- lernte Langzeitarbeitslose öffnen, ist schon ungewöhnlich“, so ihre Erfahrung. Für An- Alphabeten und Menschen mit lückenhafter Grundbildung sei die Chance für einen Einstieg ins Arbeitsleben noch schwie- riger. Entsprechend herzlich fiel ihr Dank an die neun Unternehmen aus, die bislang zur Kooperation gewonnen wer- den konnten, zu Betriebsführungen ein- luden und sich von Arbeitsuchenden interviewen ließen. Diese Erstkontakte einschließlich der Sensibilisierung für die Probleme und Fähigkeiten von An-Alpha- beten seien eine Zwischenstation ge- wesen: „Angestrebt wird durch das Projekt aber, einen Übergang von Praktika in Arbeit zu schaffen.“ Darum, Möglichkeiten in tat- sächliche Chancen zu verwandeln, gehe es bei dem im März nächsten Jahres endenden Projekt.

Die Ausstellung „Arbeit in Neukölln – Neue Ein- sichten und Aussichten“ ist noch bis zum 16. Ok- tober in der Galerie im Saalbau in der Karl-Marx-Straße in Neukölln zu sehen. Geöffnet ist von Dienstag bis Sonntag zwischen 12 und 20 Uhr; der Eintritt ist frei.

=ensa=

Gärten to go

Ein Wirrwarr aus mehr oder weniger hohen Hoch- beeten, das sich erst bei sehr genauem Hinsehen als  das entpuppt, was es ist: eine Ansammlung ein- zelner Minigärten, in denen Blühendes und Nahrhaftes wächst. Da bremst der ver- dutzte Berlin-Tourist oder Tempelhofer Feld-Besu- cher abrupt den Drahtesel und reißt die Kamera hoch. Das Urban Garde- ning-Projekt des Allmende-Kontors, eine der temporären Pioniernutzungen auf dem Tempelhofer Feld, ist aber nicht nur als Foto-Objekt beliebt. Es findet außerdem bei Neuköllnern, Kreuz- bergern und Tempel- hofern mit gärtneri- schen Ambitionen einen so enormen Zuspruch, dass in- zwischen seitens der Organisatoren per Aushang darum gebeten werden muss, keine weiteren Minibeete anzulegen.

Um sein Faible fürs Gärtnern ausleben und die Fä- higkeit des grünen Daumens testen zu können, weicht der findige Neuköllner dann eben auf Plan B aus.

=ensa=

Cool, hip und trendy

Mit diesen Adjektiven wird der Norden von Neukölln gern beschrieben – wenn nicht gerade Attribute mit Negativtouch angebrach- ter erscheinen.

Auch Neuköllns hauptigste Hauptstraße, die Karl-Marx-Straße, soll durch generöse finanzielle Injektionen für Baumaßnahmen und ein Citymanagement den Quantensprung in Sachen Imagewechsel hinkriegen: vom rummeligen Eldorado für 1 Euro-Shopper zum „Broadway Neukölln“. Nicht nur die Schnäppchenjäger sollen sich dort künftig wohlfühlen, sondern auch für alle anderen soll die Magistrale zum angesagten Aufenthaltsort werden. Davon ist sie allerdings nach über zwei Jahren Citymanagement noch so weit entfernt wie Neukölln von New York.

Neulich auf der Karl-Marx-Straße: Eine mit großen, vollen Plastiktüten vom  Karstadt-Schnäppchen-Center bestückte Frau – optisch zur Kategorie derer gehörend, bei denen Gentrifizierungsphobiker von heftigen Adrenalinschüben geschüttelt werden – zieht ihr Smartphone aus der Jackentasche: „Hättest du mir das vorher gesagt, wäre ich gerne mitgekommen, Babette“, sagt sie in einer Lautstärke, die das Mithören leichter als das Weghören macht. „Jetzt geht’s leider nicht“, beschwindelt sie die Anruferin, „weil ich gerade zum Shoppen am Kudamm bin.“

=ensa=

Nicht beschlussfähig: Bürgergremium in Auflösung begriffen

Gut, dass es nichts wirklich Wichtiges zu entscheiden gab. Dazu wäre der Quar- tiersrat des Quartiersmanagements (QM) Schillerpromenade bei seiner Sitzung in der letzten Woche nämlich wieder mal nicht in der Lage gewesen. Eine Beschluss- fähigkeit liegt vor, wenn 2/3 der 29 Mitglieder des Gremiums anwesend sind, besagt die Geschäftsordnung. Doch eine so große Beteiligung an den monatlichen Ter- minen ist eher die Ausnahme als die Regel. Am Anfang sei das noch anders gewesen, da habe es Engagement und Enthusiasmus gegeben – vor allem unter den 21 gewählten Bewohnerver- tretern. Der Anfang war im Mai letzten Jahres.

Seitdem haben sich einige offiziell aus dem Bei- rat verabschiedet, andere fehlen sporadisch oder permanent, wahlweise entschuldigt oder unentschuldigt – bei den Bewohner- wie auch bei den acht Akteursvertretern. „Wir sollten zu den Beiratssitzungen unbedingt auch die Nach- rücker einladen“, schlägt jemand vor. Zu denen habe man bereits Kontaktaufnahme-Versuche gestartet, aber keine Rückmeldungen erhalten, muss Quartiersmanager Gunnar Zerowsky  bekennen. Ein Beiratsmitglied will es ganz genau wissen und hakt nach, ob es überhaupt noch Nachrücker auf der Liste gibt. „Faktisch“, gibt Zerowsky kleinlaut zu, „nur noch einen.“ Ob der Nachrücker auch bereit wäre, das Gremium mit mehr als seinem Namen zu unterstützen, ist im Vorort-Büro des QMs nicht bekannt.

Der Tagesordnungspunkt 5 („Nachwahl eines vierten Sprecherratsmitglieds“), für den bei der Beiratssitzung fünf Minuten veranschlagt waren, kann zum dritten Mal er- satzlos gestrichen werden. Nicht nur ob der fehlenden Beschlussfähigkeit, sondern auch, weil die Kandidatin für diesen Posten erneut durch Abwesenheit glänzt. TOP 4 wird behandelt, selbst wenn am Ende nur ein Meinungsbild erhoben werden kann: Bei ihm geht es laut Tagesordnung um die Planung der Neuwahlen des Quar- tiersrats in 2012. Eigentlich, erinnert Quartiersmanagerin Kerstin Schmiedeknecht, würde die zweijährige Amtszeit des aktuellen Beirats erst im Mai nächsten Jahres enden: „Wir möchten aber die Neuwahl gerne vorverlegen.“ Von permanent mangelnder Anwesenheit ist die Rede, auch von einer schwachen Beschluss- fähigkeit und der Mittelvergabe fürs kommende Jahr. Der Februar oder März schwebe ihr für die Neuwahl vor. Das Meinungsbild ergibt, dass die Mehrheit der Gre- miumsmitglieder, die an diesem Abend den Weg ins Interkulturelle Kinder- und Elternzentrum „Am Tower“ mehr oder weniger pünktlich gefunden haben, den Vorschlag unterstützt. Die eigene Bankrotterklärung sowie das offensichtliche Unvermögen des QMs, ehrenamtliche Bürgerbeteiligung zu initiieren und langfristig zu stabilisieren, sind zwar nicht besiegelt, aber doch abgenickt.

Immer wieder werden bei der Suche nach Gründen für den Zerfall des Beirats  Stichwörter wie „Stimmvieh“, „fehlende Transparenz“ und „Alibifunktion“ genannt. Ein gutes Beispiel für die Kluft zwischen dem Quartiersmanagement und seinem Quartiersrat lieferte auch eine Diskussion über das Kiezfest, das kürzlich in der Schillerpromenade stattgefunden hatte: Außerordentlich angetan zeigte sich das QM von seiner Eigenveranstaltung und verwies auf „viele positive Rückmeldungen der Teilnehmer“ und „zahlreiche Besucher“. Das allerdings sahen diverse Beirats- mitglieder, die das Fest besucht hatten, doch erheblich anders: Die Besucherzahl wurde unisono als mau empfunden, die Musik als viel zu einseitig und laut und das Programm als zäh und langweilig. Fast war es, als sei von zwei verschiedenen Ver- anstaltungen die Rede, doch die kontroversen Resümees betrafen ein und dieselbe.

Der Umgang mit der Diskrepanz dürfte im Vorort-Büro inzwischen allerdings in den Hintergrund gerückt sein. Wichtiger sollte dort nunmehr sein, die Bereitschaft des einzig verbliebenen Nachrückers für die Beteiligung am Quartiersrat zu ermitteln. Denn wie das FACETTEN-Magazin aus zuverlässiger Quelle erfuhr, hat dieser Tage eine weitere Bewohnerin ihren Rücktritt aus dem Gremium erklärt. Die Wahr- scheinlichkeit, dass die vorgezogenen Neuwahlen noch weiter vorgezogen werden müssen, wächst.

=ensa=

Mit gutem Beispiel voran

Oft geht es ganz schnell, dass aus rätselhaftem Gebrabbel allgemein verständliche einfache Wörter werden: Mama, Papa, Oma und Opa stehen hier ganz hoch im Kurs, dicht gefolgt von Wauwau und Auto.

Die Entwicklung vom Rob- ben übers Krabbeln zum aufrechten Gang dauert da schon etwas länger und ist gemeinhin ein Prozess, der sich über Monate hin- zieht. Ebenso – im wahrs- ten Sinne des Wortes – schleichend ist normalerweise der Verlauf von den ersten wackeligen Schritten bis zur Fähigkeit, größere Strecken auf den eigenen Füßen zurückzulegen. Dass sich während eines Spaziergangs plötzlich beim Kind ein strikter Wille zum Verzicht aufs rollende Behelfnis durchsetzt, ist eher selten. Noch seltener ist aber, dass Eltern sofort und mit äußerster Konsequenz darauf reagieren und die Karre gleich – wie hier in Neukölln – am Straßenrand entsorgen.

So die Eltern das anschauliche Vorbild noch mit dem Rat „Schmeiß einfach weg, was du nicht mehr brauchst!“ verbinden, muss man sich um die Zukunft der Vermüllung Berlins wohl keine Sorgen machen.

=ensa=

Was für ein Empfang

Morgen kommt der Papst nach Berlin und das bedeutet unter anderem: Ausnahmezustand rund um die Apostolische Nuntiatur in der Lilien- thalstraße. Denn dort – auf der Neu- köllner Seite der Straße, deren ge- genüberliegender Bürgersteig zum Bezirk Kreuzberg gehört – wird Bene- dikt XVI. das päpstliche Haupt zur Ruhe betten.

Damit er das wirklich ungestört tun kann, gelten ab morgen (4 Uhr) bis übermorgen (12 Uhr) massive Sicher- heitsvorkehrungen für den Kiez am U-Bahnhof Süd- stern. In diversen Stra- ßenzügen wird es we- der für Auto-, Motor- rad- und Fahrradfah- rer, noch für Fußgän- ger ein Durchkommen geben, sämtliche Zu- gänge in den Berliner Untergrund wurden überprüft und versie- gelt, und Anwohner kommen erst nach Personenkontrollen in ihre Wohnungen, deren Fenster zur Straßenseite während des oben genannten Zeitraums geschlossen zu halten sind. Erhebliche Einschränkungen müssen auch die Inhaber von Läden rund um die diplomatische Vertretung des Heiligen Stuhls hinnehmen: Sie werden ob des verhinderten Kundenverkehrs zu einem Zwangs-Frei-Tag verdonnert – wenn sie nicht, wie das Little John Bikes-Team, kurzum ihre jährliche Inventur auf den 22. September verlegen.

Das Berlin, das sich dem Papst bei seinem Deutschland-Besuch präsen- tiert, wird folglich mit dem wahren Berlin nur sehr wenig zu tun haben. Die Stadt wird zum Kulissendasein verdammt, genau wie alle anderen Stationen der Reise. Doch daran dürfte sich Joseph Aloisius Ratzinger während seiner gut sechsjährigen Amtszeit als Oberhaupt der katholischen Kirche längst gewöhnt haben. Zu wünschen wäre ihm indes, dass seine muttersprachlichen Fähig- keiten zwischenzeitlich etwas gelitten haben und ihm deshalb der gram- matikalische Patzer nicht auffällt, mit dem ihn die direkt neben der Nuntiatur gelegene St. Johannes-Basilika empfängt.

=ensa=

Das rätselhafte Neuköllner Zwei-Sommer-Loch

Die Vorbereitungen liefen bereits. Richtig groß und dem Anlass angemessen wollten Peter und William Francis Brennan das ein- jährige Jubiläum (!)  des abgesperrten Qua- dratmeters vor ihrem LadenAtelier feiern. Im August wäre es soweit gewesen. An den genauen Tag können sie sich nicht mehr erinnern, wohl aber an die Ereignisse seit dem Sommer 2010 – zumal die Hausmeis- terin alles schriftlich festgehalten hat:

„Irgendwann waren Arbeiter da und es blieb ein Loch auf dem Bürgersteig zurück bzw. ein paar Steine waren eingesunken. Ich rief das Tiefbauamt an und sagte Bescheid, wegen der Sicherheit. Mir wurde dann gesagt, dass es uns ganz egal sein muss, was mit der Straße passiert, Löcher würden uns nichts angehen.“ Ein paar Tage später und nach zwei weiteren Anrufen sei ein Mann vor dem Haus in der Lichtenrader Straße vorgefahren, um sich das Loch anzusehen. Weiter passierte nichts. „Wieder ein paar Tage später kam ein kleiner Lieferwagen mit drei Männern, die wohl von den Wasserbetrieben waren. Sie öffneten die Serviceklappe am Haus und sahen sich alles genau an. Dann gossen sie eine farbige Flüssigkeit nach unten. Wenn diese Flüssigkeit an einer bestimmten Stelle rauskommen würde, sagten sie, wäre es ihre Aufgabe, das Loch wieder zu schließen.“ Die Flüssigkeit sei heraus gekommen und die Zuständigkeit damit geklärt gewesen. Kurz darauf sei eine Absperrung um das Loch gestellt worden, sogar mit Lampe. „Die Lampe wurde inzwischen mehrmals geklaut oder ramponiert, aber immer wieder ersetzt. Nur das Loch blieb.“

Es überdauerte den Herbst, wurde im Winter von Schnee bedeckt, erlebte den Jahreswechsel und war im Frühling immer noch da – samt Absperrung und mit ständig substituierter Beleuchtung.

Anfang April 2011 wandte sich die Hausmeisterin erneut ans Neuköllner Tiefbauamt, diesmal per Brief: „Sehr geehrte Damen und Herren“, schrieb sie, „ich weiß, dass Sie sicher viel zu tun haben, aber wir haben seit nunmehr fast einem Jahr ein tiefes Loch bei uns auf der Straße vor dem Haus im Bürgersteigbereich. Ich meldete das damals dem Tiefbauamt und nach mehreren Telefonaten (…) kamen die Wasser- betriebe und schauten sich die Sache an (…), bauten eine kleine Absperrung und eine Warnbarke auf (…) und das war’s dann. Nichts passiert mehr. Ich bekomme ständig von Mietern die Frage gestellt, was denn nun passiert und ich bin es leid, permanent dieselbe Geschichte erzählen zu müssen.“ Danach, erinnert sich die Hausmeisterin, habe sich erneut jemand zur Besichtigung des Lochs blicken lassen, mehr sei aber nicht geschehen. Vor allem zum Ärger der Brennans.

Es wurde Mai, es wurde Juni. „Als die 48 Stunden Neukölln kamen, an de- nen wir teilgenommen haben, waren das Loch und die Absperrung immer noch direkt an unserem Schau- fenster“, erzählt Peter Brennan. Er dekorierte die Dauerbaustelle kur- zerhand getreu dem Festivalmotto „Luxus“ mit royal anmutenden gol- denen und roten Luftballons. Lästig sei sie dennoch gewesen, weil sie das Aufstellen von Tischen und Bänken ziemlich behinderte.

Einige Wochen später wäre ein gemütliches Sitzen vor dem LadenAtelier jedoch gar nicht mehr möglich gewesen: Denn genau vier Monate nachdem die Hausmeisterin ihren Brief ans Neuköllner Tiefbauamt abgeschickt hatte, bekam die vereinsamte Warnbarke inmitten der Loch-Absperrung plötzlich unangekündigt  Verstärkung. „Kurz

danach waren das kleine Loch und die Absperrung, die wir feiern wollten, weg und wir hatten eine richtig große, tiefe Baugrube vor dem Atelier.“ Erst von den Bauarbeitern erfuhren Peter und William Brennan sowie die Hausmeisterin, dass Verbindungsmuffen und Stücke der Kanalisationsrohre erneuert und repariert wür- den. Nach über einem Jahr Stillstand rund um das mysteriöse Dauer-Loch sei dann alles relativ schnell ge- gangen.

Als die Brennans vor wenigen Tagen von einem Kurzurlaub zurückkamen, bot sich ihnen vor ihrem LadenAtelier in der Lichtenrader Straße ein wahr- lich ungewohnter Anblick: Die Warn- barken und Parkverbotschilder waren verschwunden, ebenso das große Loch, das zwischenzeitlich aus dem einst kleinen erwachsen war. Sogar die auf einem Haufen gesammelten Kopfsteinpflastersteine waren wieder zu einem be- gehbaren Bürgersteig verarbeitet worden. „Keine Baustelle mehr direkt vor der Tür zu haben, daran muss man sich nach über einem Jahr wirklich erstmal wieder ge- wöhnen“, finden beide.

=ensa=

Neukölln hat gewählt

Das Gute vorweg: Die NPD ist an der 3 %- Hürde hängen geblieben, wird also nicht wieder in der Neuköllner Bezirksver- ordnetenversammlung (BVV) sitzen. Die BIG-Partei konnte mit 2.254 Stimmen zwar mehr Stimmen als die FDP Neukölln (1.428) einfahren, muss aber mit nur ei- nem Stimmenanteil von 1,9 % auch drau- ßen bleiben. Die SPD Neukölln hat auf kommunaler Ebene – trotz eines beacht- lichen Zugewinns von 8,2 %  – die absolute Mehrheit um einen Platz verfehlt, und die Piratenpartei ist mit 8.517 verbuchten Wählerkreuzen (= 7,3 % ) ins Neuköllner Rathaus eingezogen.

Vier Sitze der wahrlich alles andere als bequemen BVV-Saal-Bestuhlung sind den Piraten aus Neukölln für die neue Legislatur- periode sicher, drei den Neuköllner LINKEN, acht den GRÜNEN und 13 der CDU. Die restlichen 27 der insgesamt 55 Plätze gehen an die SPD.

Als haushohen Verlierer weist die Aus- zählung der Stimmzettel auf Bezirksebene die CDU aus, die mit einem Minus von 8,8 % mehr Stimmanteile verlor als die SPD dazu gewann. Zudem sind die  mit Michael Büge als Bezirksbürgermeister-Aspirant angetre- tenen Neuköllner Christdemokraten einen Stadtrat-Posten los. Lediglich der Anspruch auf eines der fünf Ressorts bleibt ihnen, ein weiteres bleibt in der Hand der GRÜNEN, die drei anderen konnte sich die SPD si- chern. Fakt ist, dass die Abteilung Bürgerdienste und Gesundheit neu besetzt wird, die bislang von Falko Liecke (CDU) geleitet wurde.

Das hat jedoch weniger mit seinem Parteibuch zu tun als damit, dass Liecke im Neuköllner Wahlkreis 5 als Direktkandidat für das Berliner Abgeordnetenhaus an- trat und die Erststimmen-Wahl für sich entscheiden konnte. Selbiges gelang auch Lieckes Parteikollegen Hans-Christian Hausmann (WK 6) und Robbin Juhnke (WK 4), dem SPD-Mann Joschka Langenbrinck (WK 3) sowie den beiden GRÜNE-Frauen Anja Kofbinger (WK 1) und Susanna Kahlefeld (WK 2).

Dass Heinz Buschkowsky (SPD) vorerst Chef im Neuköllner Rathaus bleibt, scheint sicher. Komfortabler als die vergangene Amtszeit dürfte die nächste – die zugleich die letzte vor seinem Ruhestand sein soll – für den Neuköllner Bezirksbürgermeister jedoch kaum werden. Schließlich wird er es mit zwei Grünen-Abgeordneten und vier Piraten mehr zu tun haben. Gut für Buschkowsky, dass seine Prognose, dass die Newcomer in Neukölln zweistellig sein werden, weder auf die Zweitstimmen fürs Abgeordnetenhaus noch auf die Stimmen für die Neuköllner BVV zutraf.

=ensa=

Alles klar zum Kreuzen!

Auf drei Stimmzetteln – einem weißen, einem mit blauem und einem mit orange- farbenem Rand – ist morgen jeweils ein Kreuz in eines der dafür vorgesehenen Fel- der zu setzen, will man gültig wählen. Wer sich zum Gang ins Wahllokal aufrafft, diese Vorgabe ignoriert und mehrere Kreuze oder ein großes macht oder lustige Zeich- nungen, Gedichte oder Notizen auf den Wahlzetteln hinterlässt, wählt auch: allerdings ungültig bzw. den aktiven Boykott.

Für alle auf kommunaler Ebene wahlberechtigten Neuköllner (zu denen gehören auch Jugendliche ab 16 und EU-Bürger), die das Kreuzen bis morgen noch ein bisschen üben  wollen, hier  der Stimmzettel für die Wahl der BVV Neukölln. Die Neu-

kölln-Version des Zweitstimme-Wahlzettels, der über die Zusammensetzung des Berliner Abgeordnetenhauses  entscheidet, sieht so aus. Muster der von Wahlkreis zu Wahlkreis unterschiedlichen Erststimme-Wahlzettel fürs Ankreuzen der jeweiligen Direktkandidaten zeigt die Homepage der Landeswahlleiterin für Berlin.

=ensa=

Passé in Neukölln: Molle, Korn, Kippe und Kreuze

Er erinnert sich noch gut an die erste Wahlbenachrichtigung, die er – aus West- deutschland zugezogen – als Neu- Berliner erhielt. Sein Wahllokal liege an der Ecke Schinke-/Hobrechtstraße und heiße „Rogers Inn“, wurde ihm mitgeteilt. In Schulen war er zuvor seinem Wahlrecht nachgekommen, in Gemeindesälen und in einer Se- niorentagesstätte – in einer Kneipe aber bis dato nie: „Das war schon sehr seltsam, vorbei an Frühschop- pen-Stammtischrunden zur Wahl- urne im Hinterzimmer zu gehen.“

Heute hat die damalige Kneipe von Roger Zillmann nicht nur einen neuen Besitzer, sondern mit „Kreuzkölln“ auch einen neuen Namen. Doch auch alle anderen Neuköllner Gaststätten, die einst zum Wählen bei Molle und Korn einluden, haben als Wahllokal ausgedient. „Bei den Kneipen hat es zu oft Beschwerden wegen des Publikums und der verqualmten Luft gegeben“, ist aus dem Büro der Landes- wahlleiterin zu hören. Deshalb werde heute in der Regel in Berlin in öffentlichen Gebäuden gewählt, in Neukölln fast ausnahmslos in Schulen.

=ensa=

Eingetütet

Wer sich in Neukölln einigermaßen auskennt, weiß oder mutmaßt, dass es kaum etwas  gibt, was man im Bezirk  nicht verkaufen  oder auch kaufen kann. Legal  ist das

nicht immer, in diesem Fall aber schon. Denn mit einem Seelenverkäufer im herkömmlichen Sinne hat die Bäckereikette, die momentan zwei Seelen mit Käse, Oliven oder Bärlauch zum Sonderpreis anbietet, so gar nichts zu tun.

Zwischen Idylle und Katastrophe: Streit um einen ehemaligen Neuköllner Friedhof

tentstation neukölln hermannstraße, neuer st. thomas friedhofMan stelle sich vor: Man besitzt ein über 6 Hektar großes, direkt an der Neuköllner Hermannstraße gelegenes Grundstück, das jahrelang verwilderte, nur Kosten verursachte und nun größtenteils verpachtet werden kann. Wer würde sich da von anderen in die Entscheidung bezüglich des Pächters und der künftigen Nutzung reinreden lassen wollen?

Eben jenes Mitspracherecht erwarten aber diejenigen, die das Areal jahrelang so unrechtmäßig wie geduldet als Abenteuerspielplatz für sich und ihre Hunde nutzten. Dass das Gelände des einstigen St. Thomas Friedhofs nun vom Weiterlesen

Schlechte Aussichten

Ihre Wohnung habe keinen Balkon, deshalb halte sie sich bei schönem Wetter gerne für ein Stündchen oder zwei auf dem Platz auf, der direkt vor ihrer Haustür liegt. Manchmal hat sie eine Illustrier- te dabei, meistens aber eine Häkelarbeit. Sie unterhalte sich eben gerne mit anderen, und handarbeiten und reden gehe gleichzeitig, lesen und zuhören und sprechen aber nicht.

Acht im Kreis angeordnete Bän- ke stehen mitten auf dem Platz, der sich am Rand Nord-Neu- köllns befindet. Mülleimer gibt es auch genug. „Dass die über- quellen, hab ich noch nie erlebt“, sagt die Frau. Was sie jedoch häufig erlebt, ist, dass Leute ihren Müll einfach auf den Bänken stehen lassen, ihn darunter abstellen oder in die Sträucher werfen. Wenn sie Kinder dabei erwischt, spricht sie sie an und fordert sie auf, die Mülleimer zu benutzen. Meistens erfolgreich. Manche, meint sie, sähen dann sogar aus, als würden sie sich ertappt fühlen und ein schlechtes Gewissen haben. Erwachsene ließen das dagegen oft vermissen.

„Neulich“, erzählt sie, „saß eine Frau direkt auf der Bank gegenüber.“ Erst habe die schätzungsweise Mitte 50-Jährige ein Eis gegessen, dann eine Zigarette geraucht. Bevor sie aufstand habe sie das Eispapier zusammengeknüllt und in eine Ritze der Sitzfläche der Bank gestopft. Die Zigarettenkippe landete auf dem Pflaster, wurde ausgetreten und liegen gelassen. Drei Schritte vom nächsten Mülleimer entfernt. „Als ich sie gefragt hab, weshalb sie ihren Müll nicht in die Tonne wirft, sagte sie nur patzig, dass sie das immer so macht und mich das gar nichts angeht.“ Wenn sie öfter eine Illustrierte statt des Häkelzeugs mit zum Platz nehmen würde, würde sie sich seltener ärgern, vermutet die Frau.

„Als ich jung war“, sagt sie zum Abschied, „dachte ich, dass ich die Welt und die Men- schen besser verstehe, je älter ich werde.“ Nun sei sie alt und wisse es besser.

=ensa=

Stroh ’n‘ Roll

popraci rixdorfer strohballenrollen, neuköllnDass am zweiten Advents- wochenende kein Durch- kommen auf dem Richard- platz ist, wussten sie. Ebenfalls, dass der Platz rund um die Rixdorfer Schmiede während des Kunst- und Kulturfestivals „48 Stunden Neukölln“  mehr Trubel als histori- sche Idylle zu bieten hat. Was seit 2008 immer am zweiten Septembersams- tag in der guten Stube des Bezirks stattfindet, das war allerdings bisher nicht bis zu ihnen in den Ortsteil Rudow tief im Süden Neuköllns vorgedrungen: „Wir haben übers Wochenende Besuch aus Westdeutschland und wollten denen den Richardplatz und das Böhmische Dorf zeigen und danach auf der Terrasse der Villa Rixdorf was essen.“ Nun steht das Rentner-Paar aus dem Süden Neuköllns am westlichen Eingang zum Richardplatz und blickt ebenso irritiert wie die beiden Besucher aus Bonn auf das Treiben.

Kinder bewerfen sich gegenseitig mit Stroh, eine Männerstimme mit schwäbischem Zungenschlag  schallt  durch   den   Kiez,  kostümierte   Erwachsene  rollen  in  Vierer-

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Teams riesige, über 200 Kilo schwere Strohballen über die kopfsteingepflasterte Straße, die den Platz umgibt. „Was soll das? Weshalb machen die das?“, fragen die auswärtigen Gäste ihre Gastgeber, bekommen aber nur ein Schulterzucken samt einer Gegenfrage: „Aus Jux und Dollerei?“. Das sei Popraci, das Rixdorfer Stroh- ballenrollen, ein traditioneller Wettkampf, der nun schon zum 178. Mal ausgetragen werde, mischt sich ein Mann mit einem Kind auf den Schultern ein, der hinter den bei-

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den Paaren steht und ihren kurzen Dialog mitbekommen hat. „Buschkowsky“, ergänzt er, „hat das Fest vorhin eröffnet.“ Was Traditionelles also, wiederholt die graumelierte popraci rixdorfer strohballenrollen, neukölln, heinz buschkowsy, christoph agi böhm, rudolf jindrakRudowerin bestimmt.  Dass der Neuköllner Bezirksbürgermeister mitten im Wahlkampf für einen Auftritt bei einem Jux-und-Dollerei-Wett- bewerb gewonnen werden kann, scheint für sie außerhalb des Vorstellbaren zu liegen. „Lasst uns mal gucken, ob das Remmidemmi bis zur Schmiede geht“, schlägt ihr Mann vor. Dem Begleiter aus Bonn ist deutlich anzusehen, dass hinter seiner Stirn die eben gehörten popraci rixdorfer strohballenrollen, neukölln, reinhold steinleInformationen skeptisch verarbeitet werden.

Großartig, einfach nur großartig und wunderbar findet eine junge Familie vom Bodensee das Fest. Die Eltern halten ihre Tochter, die Stroh in den Haaren und sich das Gesicht bemalen lassen hat, an den Händen und stehen im Zielbereich, wo Moderator Reinhold Steinle im für sie vertrauten Idiom erschöpfte Wettkämpfer interviewt. Der einzige Kritikpunkt betrifft das Personal des Estrel Hotels, wo die Touristen aus dem Schwäbischen für ein verlängertes Wochenende logieren: „Mit keinem Wort haben die das Strohballenrollen erwähnt, als wir heute Morgen an der  Reception gefragt  haben, welche  kindgerechten Veranstaltungen  es  gerade  in

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Berlin gibt. Dabei findet das doch fast vor der Haustür statt.“ Auf der Suche nach einem Spielplatz in Hotelnähe seien sie dann in das Rixdorfer Strohballenrollen am Richardplatz geraten. „Wo ist denn die nächste Apotheke, die noch offen ist?“, er- kundigt sich der Mann. Er brauche dringend ein Antiallergikum.

=kiezkieker/ensa=

Neukölln – New York: So fern und doch so nah

Neun Flugstunden liegen zwischen Berlin und New York. Neukölln und Manhattan sind 6.390 Kilometer voneinander entfernt. Am Nachmittag des 11. September 2001 world trade center new york, foto: aaron loganschrumpfte die Distanz auf we- nige Meter. Manhattan und die Twin Towers des World Trade Centers waren plötzlich so nah wie der Fernseher. Wir haben einige Neuköllner nach ihren Erinnerungen an 9/11 gefragt:

Melina N. war sieben Jahre alt. Sie erinnere sich an den 11. Sep- tember 2001 genauso wie an den Tag, an dem ihre Eltern ihr sagten, dass sie sich scheiden lassen, und an den, als ihr Opa starb, sagt sie: „Ich hab mittags bei meiner Freundin Aynur gegessen, danach waren wir noch im Comeniusgarten. Als ich nach Hause kam, saß meine Mutter weinend vor dem Fernseher, der zwei brennende Wolkenkratzer zeigte. Ich weiß noch, dass ich dachte, dass das ein Film ist. Deshalb hab ich gar nicht verstanden, dass meine Mutter weinte. Das hatte sie sonst immer nur bei rührenden Filmen gemacht. Sie hat dann gesagt, dass das kein Spielfilm sondern echt ist und dass das gerade in Amerika passiert. Böse Menschen hätten zwei Flugzeuge in die Hochhäuser ge- steuert, hat sie mir noch erklärt, bevor sie mich in mein Zimmer geschickt hat.“ Erst viele Jahre später hat Melina ihrer Mutter gesagt, wie doof sie das fand und wie allein gelassen sie sich fühlte. „Sie hat sich entschuldigt und gestanden, dass sie selber total überfordert mit dem Ereignis war.“

Werner B. hatte damals keinen Fernseher und auch sonst nicht viel: „Ich lebte von Mitte 2001 bis zum Frühjahr 2002 auf der Straße.“ 9/11 sei ein Schlüsselerlebnis für ihn gewesen, ein weiterer Wendepunkt in seinem Leben. „Bevor ich abgerutscht bin, hatte ich eine Im- und Export-Firma. In New York war ich oft und hab immer davon geträumt, da mal zu wohnen.“  Am 11. September 2001 sei er zum ersten Mal in einer Teestube für Obdachlose gewesen: „Ich wusste, dass die einen Fernseher haben und brauchte unbedingt Bilder von dem, was in Manhattan passiert ist“ Dass dort etwas unvorstellbar Furchtbares geschehen war, hatte er von einem Bekannten erfahren und zuerst gedacht, dass es sich um eine Geschichte handeln muss, die nur ein besoffener Kopf erfinden kann. „Die Fernsehbilder haben mich dann vollkommen ausgehebelt. Die waren wirklich ein Schock.“ In den Tagen danach habe er noch mehr als vorher getrunken, Wochen später beschlossen, dass er selber wieder nach New York müsse, um die Skyline ohne Zwillingstürme mit eigenen Augen sehen zu können. „Ja“, bestätigt der 53-Jährige, „man kann wirklich sagen, dass der bestialische Terroranschlag mir den Kick gegeben hat, mich aus dem Pennersumpf zu ziehen.“  Andere glückliche Zufälle seien dazu gekommen. Seit dem Winter 2003/2004 lebt Werner B. in einer WG, im Oktober 2004 reichte das Ersparte von seinen Gelegenheitsjobs für eine Reise nach New York.  Rotz und Wasser habe er geheult, als er das erste Mal am Ground Zero stand.

Mustafa A. arbeitete im Herbst vor 10 Jahren in einem Internet-Café an der Sonnenallee. „Der Fernseher lief ständig, meistens ohne beachtet zu werden. Am 11. September 2001 war das anders. Da guckte ab kurz vor 3 niemand mehr auf die Monitore der PC-Plätze, sondern alle nur noch auf den Fernseher.“ Die Wirklichkeit war für Stunden spannender als Ballerspiele, E-Mails und Recherchen für die Hausaufgaben. „Obwohl man ja gar nicht richtig glauben konnte, dass das wahr ist, was man sieht“, erinnert sich Mustafa. Genauso präsent wie der Tag, der der Welt veränderte, sind für ihn die Gedanken an die Zeit danach. „Als Mensch mit dunklerer Haut, schwarzen Haaren und der falschen Religion hatte man sogar hier in Berlin schlechte Karten. Wir wurden doch alle in Sippenhaft genommen“, fasst er die Diskriminierung zusammen. Am liebsten hätte er sich blaue Kontaktlinsen eingesetzt und die Haare blond gefärbt: „Wäre Sommer gewesen, hätte ich mir ein T-Shirt mit dem Satz ‚Ich verurteile die Terroranschläge auf die USA zutiefst!‘ bedrucken lassen.“ Geholfen hätte aber auch das wahrscheinlich nicht, zu groß war die Verunsicherung.

Friedel Z. hat ihren Vater an den 1. Weltkrieg verloren, ihr Mann kehrte aus dem 2. Weltkrieg nicht wieder, ihre Tochter ist seit einem Autounfall querschnittgelähmt und ihr Sohn nahm sich mit Mitte 40 das Leben: „Wenn man über 80 ist und so viele Schicksalsschläge erleben musste, denkt man, dass einen nichts mehr erschüttern kann.“ Doch dann kam der 11. September 2001. „Ich hatte den Fernseher an, war in die Küche gegangen, um Kaffee zu kochen und als ich wieder in die Stube kam, lief plötzlich ein ganz anderes Programm“, erinnert sie sich. Zuerst habe sie gedacht, dass der Fernseher kaputt ist und sich selber umgestellt hat, doch dem war nicht so. „Ich hab mir das etwa eine Stunde lang angeguckt, dann konnte ich es nicht mehr ertragen.“ In den Tagen danach, sagt die heute 93-Jährige, habe sie nur noch Radio gehört, um sich die Bilder der in die Twin Towers rasenden Flugzeuge, der in den Tod springenden Menschen und der einstürzenden Türme zu ersparen: „Noch heute fällt es mir schwer, mir die anzusehen.“

=ensa=

Neuköllner Schätze (4)

Mit einem skurrilen Ge- spann beenden wir an diesem womöglich letz- ten sommerlichen Wo- chenende der Saison unsere kleine Sommer- Serie Neuköllner Schät- ze.

Ecki und Schnecki hei- ßen die beiden, seit sie  in Neukölln ein neues Domizil fanden. Auf ei- nem Süd-Balkon, der Sonne garantierte – so sie denn schien. Die Besitzer von Ecki und Schnecki hätten das, wie wohl die meisten Neu- köllner und Berliner, ger- ne öfter gehabt.