(Fortsetzung) Ein Umfeld, in dem sich auch Gabriele Prellwitz mit der Ladenwerkstatt ihres Strickdesign-Labels anyonion wohlfühlen könnte – theoretisch. Praktisch würde im Schokofabrik-Hof aber die Laufkundschaft gehörig fehlen. Insofern war die Ansiedlung des Geschäfts in der Bürknerstraße eindeutig die bessere Wahl. „Seit einiger Zeit kommen auch immer mehr Laufkunden in den Laden“, sagt die Mitarbeiterin als alle Fragen zur 3,5 Tonnen schweren Strickmaschine beantwortet sind, auf der alle Teile der Kollektion sowie Accessoires hergestellt wer- den: „Wir merken also durchaus, dass sich im Kiez etwas zum Positiven verändert.“
Reinhold Steinle lenkt die Blicke auf die Fassaden der Häuser auf der gegenüber liegenden Seite der Bürk- nerstraße. Die Gebäude seien alle nach 1912, ergo: nach der Umbenen- nung Rixdorfs zu Neukölln, errichtet worden – mit geräumigen, repräsen- tativen Wohnungen. Analog zur Schil- lerpromenade sollte hier eine Ge- gend für das Bürgertum entstehen. Das sähe man auch an den teils aufwändig verzierten Haustüren, merkt ein Mann aus der Gruppe an. „Architekten“, weiß er, „haben damals oft Türen extra für die von ihnen konstruierten Häuser ent- worfen.“ Eine Information, die auch dem Stadtführer bisher unbekannt war. Er bedankt sich dafür und kündigt an, bei künftigen Touren darauf hinzuweisen. So wie darauf, dass schräg gegenüber des Ladens von Gabriele Prellwitz früher der Geschäftsführer der Karstadt-Filiale am Hermannplatz wohnte.
Weiter geht’s zur Kreuzung Bürkner-/Hobrechtstraße, wo Steinle an James Hobrecht, den Erfinder und Konstrukteur der Berliner Kanalisation erinnert. Am 13. August 1873 wurde mit dem Bau des Abwassernetzes für die Stadt begonnen; im heutigen Reuterkiez herrschten noch Wiesen und Felder vor.
Heute sind Grünflächen auf dem etwa 70 Hektar großen Gebiet rar. Eine, die erst 1999 dazu kam, liegt zwischen Hobrecht- und Friedelstraße. Reinhold Steinle zieht einen Schlüssel aus seiner braunen Ak- tentasche. Wer den nicht hat, muss sich mit einem Blick durch die Bullaugen in den Toren begnügen. Früher habe auf dem Gelände eine Papierwarenfabrik gestanden, erzählt Steinle. Nun heißt das Areal Kids‘ Garden und bietet den im Kiez lebenden Familien zumindest ein wenig Grün. „Hundekackefrei“, wie Steinle betont. Der große Sandspiel- platz ist bei Kleinkindern heiß begehrt, für Größere gibt es Rasenflächen zum Austoben. Nahe dem Tor zur Friedelstraße wurden Beete angelegt, auf denen Blumen, Kräuter und Nutzpflanzen gedeihen. „Jede Kita“, erzählt Reinhold Steinle, „hat hier ihr eigenes Beet, das nach dem Geschmack der Kin- der bepflanzt werden kann.“ Wie lange ihnen dieses kleine Paradies noch bleibt, ist unklar. „Das ist ein ständiges nerviges Hin und Her wie bei so vielen Projekten“, kritisiert eine Mutter, die sich mit anderen dort regelmäßig trifft. Der aktuelle Stand sei, dass der Nutzungsvertrag bis
zum Frühjahr nächsten Jahres verlängert wurde.
Der „Hüttenpalast“ ist die letzte Entdeckung im Reuterkiez, die Reinhold Steinle bei dieser Tour präsentiert. In zwei ehemaligen Fabrikhallen in der Hobrecht- straße haben sich Silke Loren- zen und Sarah Vollmer einen Traum erfüllt: Alle aus der Grup- pe haben sich dessen Umset- zung schon im Fernsehen ange- guckt, nun stehen sie zum ersten Mal selber staunend in der ehemaligen Staubsaugerfabrik, die durch ein innovatives Raum-in-Raum-Konzept zu einer Mischung aus Campingplatz, Ferienhaus-An- lage und Bed & Breakfast-Pen- sion für 12 Per- sonen wurde. Ein Schlafplatz mehr hätte die behördliche Ge- nehmigung des ungewöhnlichen Übernachtungsbetriebs sehr viel komplizierter gemacht. Doch auch so sei eine gute Portion Überraschungseffekt und Überrumpelungs- taktik im Spiel gewesen: Dass jemand ein paar alte Wohnwagen in eine Fabrikhalle stellen, zusätzlich einige Holzhütten aufbauen, daraus Doppelzimmer machen und alles Hotel nennen will, kommt schließlich nicht jeden Tag vor.
Nicht mal im angesagtesten Kiez Neuköllns. „Jede Woche“, sagt Reinhold Steinle, „macht hier irgendwo ein neues Geschäft auf.“ Einige Läden und Einrichtungen, die der Stadtteilführer noch vor Jahresfrist bei seinen Touren vorstellte, sind inzwischen nicht mehr da. „Die Gentrifizierung frisst ihre Kinder“, fasst Christina Both von der Café-Galerie „Klötze und Schinken“ den Wandel des Reuterkiezes zusammen, der erst zum Problem-Quartier abgestempelt war und nun Szene-Viertel ist – mit neuen Problemen. Über die will Reinhold Steinle eigentlich nicht gerne reden. Ihm geht es in erster Linie darum, die positiven Seiten des Bezirks zu zeigen. „Als ich vor drei Jahren unter diesem Motto meine Neukölln-Führungen begann“, erinnert er sich, „haben mich alle für verrückt gehalten.“ Auch das hat sich geändert.
Die nächste „Entdeckungen im Reuterkiez“-Tour mit Reinhold Steinle findet am kommenden Freitag (22.7.) statt. Der Kiezspaziergang, der dann von einem Kamera-Team begleitet wird, startet um 15 Uhr an der Café-Galerie Klötze und Schinken. Die Teilnahme kostet 10 €; telefonische Anmeldung unter 030 – 53 21 74 01 erwünscht.
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